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USA: Dollar zeigt erste Anzeichen auf Bedeutungsverlust

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Interview

«Der Bedeutungsverlust des Dollars hat bereits begonnen»

Die Politik der USA mag chaotisch sein, der Dollar hingegen ist nach wie vor bärenstark, seine Stellung als globale Leitwährung unangefochten. Oder doch nicht? Stephen Jen, CEO des Vermögensverwalters von Eurizon SLJ, sieht erste Anzeichen, die auf eine Schwächung des Greenbacks hindeuten.
17.11.2023, 09:56
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Valéry Giscard d’Estaing, der ehemalige französische Präsident, hat den Dollar einst als «massloses Privileg» der Amerikaner bezeichnet. Teilen Sie diese Einschätzung – und trifft sie heute noch zu?
Sie gilt heute noch. D’Estaing wollte damit ausdrücken, dass der Devisenmarkt nicht fair ist. Vor allem kleinere Länder – ob industrialisiert oder nicht – werden von den Finanzmärkten sofort abgestraft, wenn sie politische Fehler begehen. Denken Sie bloss, was in der Eurokrise 2011 mit der griechischen Drachme oder der italienischen Lira geschehen wäre, hätte es sie noch gegeben. Dem US-Dollar hingegen kann das Gleiche nicht so leicht zustossen. Er ist immer noch zu dominant. Er ist wie ein riesiges Schiff, dem auch die grössten Wellen nichts anhaben können. Deshalb haben die USA auch einen viel grösseren Spielraum, was ihre Verschuldung und ihre Politik im Allgemeinen betrifft.

«Vieles läuft falsch, was aktuell den Dollar betrifft.»

Es gibt daher auch die weit verbreitete Meinung, die USA könnten nach Belieben Geld drucken. Trifft das zu?
Die USA sind nach wie vor die einzige Supermacht, die sowohl über «harte» als auch «weiche» Macht verfügt. Will heissen, militärische und moralische Überzeugungs-Macht. Europa hat «soft» Power, aber keine «harte» Macht, während China «hard», aber keine «weiche» Power hat. Beides wird gebraucht, wenn eine Währung weltweit akzeptiert werden und Vertrauen geniessen will. In Krisenzeiten ist der Dollar deshalb die einzige globale Währung, auf die sich ein breites Spektrum von Marktteilnehmern in der Welt verlassen kann. Das ist ein Vorteil für die USA, aber auch gefährlich: Die Amerikaner könnten versucht sein, ihre Limiten zu weit auszudehnen. Oder anders ausgedrückt: ihr Privileg zu missbrauchen.

Betrachtet man die aktuelle Verschuldung, dann segeln die Amerikaner derzeit hart am Limit. Die Staatsschulden betragen mehr als 30 Billionen Dollar, auch die Unternehmen schleppen eine Schuldenlast von rund 13 Billionen Dollar mit sich. Kann dies noch lange gut gehen?
Ich mag das Konzept des verstorbenen Ökonomen Rudi Dornbusch, der einst vorgeschlagen hat: Wenn etwas nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, dann wird es auch zusammenbrechen.

Oder wie es Herbert Stein, ein anderer Ökonom, formuliert hat: Dinge, die so nicht mehr weitergehen können, werden auch so nicht mehr weitergehen.
Ja, das stimmt. Das genaue Zitat von Prof. Dornbusch lautet: «In der Wirtschaft brauchen die Dinge, bis sie geschehen, länger, als man denkt, und dann geschehen sie schneller, als man denkt.» Dieser Gedanke trifft auf unsere Diskussion über den Hegemonialstatus des US-Dollars und den nicht nachhaltigen politischen Kurs der USA zu. Die anhaltende Weigerung amerikanischer Politiker und Experten, die Mängel der Finanz- und Geldpolitik anzuerkennen, ist zum Teil auf die beneidenswerte Stellung des Dollars in der Welt zurückzuführen.

Stephen Li Jen
Stephen Jen ist CEO und Co-CIO von Eurizon SLJ. Von 1996 bis 2009 war er Managing Director bei Morgan Stanley, wo er verschiedene Funktionen innehatte, unter anderem als globaler Leiter der Währungsforschung. Vor seiner Zeit bei Morgan Stanley war Jen vier Jahre lang als Wirtschaftswissenschaftler beim IWF tätig, wo er die Volkswirtschaften in Osteuropa und Asien betreute. Jen hat einen Doktortitel in Economics vom MIT.

Das tönt so, als ob Sie den Dollar verteidigen wollten.
Das wäre ein falscher Eindruck. Vieles läuft falsch, was aktuell den Dollar betrifft. Ich weise bloss darauf hin, dass es noch einige Zeit dauern kann, bis der Dollar in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Sollte es jedoch tatsächlich geschehen, wird es sehr schnell und mit sehr viel Gewalt geschehen. Und ich fürchte, dass der US-Dollar diesen Weg bereits eingeschlagen hat.

Derzeit trifft jedoch immer noch folgender Vergleich zu: Der Dollar sei wie die englische Sprache, die einzige Sprache, die global gesprochen wird. Will heissen: Der Dollar ist die einzige Währung, die auf der ganzen Welt akzeptiert wird. Ist das korrekt?
Mir gefällt der Vergleich mit der englischen Sprache, und er ist auch heute noch aktuell. Die Analogie zur Verbreitung der englischen Sprache ist in der Tat etwas, das ich – als Währungsspezialist – in den letzten 20 Jahren ebenfalls verwendet habe. Die meisten jungen Menschen auf der Welt wählen Englisch als ihre Zweitsprache, auch wenn manche meinen, Deutsch sei präziser, Französisch schöner und Chinesisch poetischer. All das spielt keine Rolle. Was zählt, sind die steigenden Skalenerträge. Wenn alle Englisch sprechen, dann werden alle Englisch lernen. Dasselbe trifft auf den Dollar zu. Aber das heisst nicht, dass der Dollar unantastbar wäre. Vergessen wir nicht: Einst war das englische Pfund die globale Leitwährung. Heute ist das Pfund relativ unbedeutend geworden.

«Die Zentralbanken haben weltweit begonnen, sich vom Dollar zu trennen.»

Zu Zeiten des Pfunds waren die Finanzmärkte im Vergleich zu heute noch winzig. Ist es für den Dollar unter den aktuellen Bedingungen schwieriger geworden, seine Hegemonie zu verteidigen?
Es gibt Anzeichen, dass ein Bedeutungsverlust des Dollars bereits begonnen haben könnte.

Nämlich?
Wenn man über den Status des Dollars als Weltwährung nachdenkt, muss man zwei Dinge unterscheiden: Einerseits gibt es den Dollar als internationale Handelswährung, andererseits das Konzept der Reservewährung. Diese beiden Begriffe sind voneinander zu trennen. Was den ersten Begriff angeht, so trifft die Analogie zur englischen Sprache zu. Will beispielsweise ein Europäer in Korea investieren, dann bleibt ihm nichts anderes übrig als der Umweg über den Dollar, will heissen, vom Euro zum Dollar und dann zum koreanischen Won. Es gilt jedoch auch zu beachten, wie sich die einzelnen Notenbanken bezüglich ihrer Devisenreserven verhalten. Während der Dollar als internationale Währung nach wie vor dominiert – er macht einen grossen Teil der internationalen Transaktionen aus –, glauben wir, dass er seinen Glanz als Reservewährung verliert, da die Zentralbanken weltweit begonnen haben könnten, sich vom Dollar zu trennen.

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Das Gebäude der US-Zentralbank, der Fed, in Washington.Bild: keystone

Klären Sie mich auf.
Wir haben eine dramatische Abwendung der Zentralbanken vom Dollar festgestellt, insbesondere derjenigen aus dem Globalen Süden. Das zeigen die Daten, welche der Internationale Währungsfonds regelmässig veröffentlicht. Nominal gesehen ist der Anteil des Dollars, den die einzelnen Zentralbanken in ihren Devisenreserven halten, im Laufe der Zeit immer mehr zurückgegangen. Berücksichtigt man jedoch die Tatsache, dass der Dollar in den letzten Quartalen erheblich aufgewertet hat, so sind die «realen» Dollarbestände der Zentralbanken weltweit stark zurückgegangen. Unserer Ansicht nach sind die realen Dollar-Bestände der Zentralbanken im vergangenen Jahr genauso stark zurückgegangen wie die kumulierten Rückgänge ihrer Dollar-Bestände in den vergangenen 15 Jahren.

Um nochmals auf den Sprachen-Vergleich zurückzukommen: Im Handel wird immer noch Englisch gesprochen. Die Zentralbanken belegen jedoch bereits Sprachkurse in Deutsch, Französisch – und vor allem in Mandarin?
So ist es.

Wie muss man diesen Befund interpretieren?
Nicht alle Notenbanken verhalten sich gleich, und wir haben keine genauen Daten darüber, wer wie viele Dollars verkauft hat. Ich vermute, es handelt sich vor allem um die Notenbanken des Globalen Südens. Die reichen Industriestaaten müssen keine grossen Dollar-Reserven halten. Sie haben eigene, starke Währungen. Aus diesem Grund wird der Grossteil der weltweiten Währungsreserven von den Zentralbanken des Globalen Südens gehalten. Was diese Länder denken, ist wichtiger als das, was die Analysten der Industrieländer denken.

«Die Geldpolitik der People‘s Bank of China ist für Ausländer schwer verständlich.»

Weshalb trennen sich die Länder des Globalen Südens vom Dollar?
Dieser starke Rückgang erfolgte nach 2022. Ich vermute, dass dies mit der Entscheidung der Amerikaner zu tun hat, nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine die russischen Reserven einzufrieren und das Vermögen einiger Russen zu beschlagnahmen. Und die Russen aus Swift, dem WhatsApp der Banken, auszuschliessen.

Heisst dies, dass sich die Mehrheit der Schwellenländer auf die Seite Putins schlägt?
Nein. Das russische Desaster in der Ukraine hat auch die Menschen in den Schwellenländern aufgeschreckt. Sie haben jedoch auch schlagartig realisiert, über welche Macht die USA dank des Dollars verfügen. «Wenn die Amerikaner dies den Russen antun, dann können sie es auch uns antun», werden sie sich gedacht haben. Deshalb stossen ihre Notenbanken den Dollar ab, zumindest so weit es ihnen möglich ist. Insbesondere China, der grösste Reservenhalter der Welt mit mehr als drei Billionen US-Dollar an Währungsreserven, sollte über dieses Risiko besorgt sein, oder?

Wie weit ist es ihnen möglich? Es gibt derzeit keine Alternative zum Dollar.
Die Notenbanken verhalten sich defensiv, um ihre Vermögenswerte zu erhalten. Sie kaufen beispielsweise Gold. Doch Gold ist nicht liquide, deshalb gibt es diesbezüglich auch Grenzen, wie viel Gold die Welt kaufen und halten kann. Sie sind daher auch gezwungen, den Dollar teilweise durch den Euro oder mit dem australischen Dollar und dem Yen zu ersetzen.

Und dem Schweizer Franken?
Auch mit dem Schweizer Franken – und dem chinesischen Renminbi. Ich kann mir gut vorstellen, dass in den nächsten fünf bis zehn Jahren der Anteil des Dollars an den Reservewährungen der Notenbanken von derzeit 60 Prozent auf unter 50 Prozent fallen wird.

ARCHIV - 04.12.2018, Sachsen, Dresden: ILLUSTRATION - Zahlreiche Banknoten von 10, 20 und 50 Euro liegen auf einem Tisch (zu dpa: �Kommunen hoch verschuldet - Rechnungshof f�r Tritt auf Ausgabenbremse ...
Legt an Bedeutung zu: der Euro.Bild: keystone

Die Chinesen geben sich grosse Mühe, den Renminbi als globale Leitwährung aufzubauen. Wie beurteilen Sie deren Chancen?
Die Chinesen sind zwar wirtschaftlich inzwischen ein Riese. Ihre Finanzmärkte sind jedoch immer noch unterentwickelt, und sie sind vor allem intransparent. Die Geldpolitik der People‘s Bank of China ist für Ausländer schwer verständlich, die Verschuldung undurchsichtig, der freie Kapitalverkehr eingeschränkt und unvorhersehbar.

Was ist mit dem Euro?
Ursprünglich hat man gedacht, dass der Euro zu einem Rivalen des mächtigen Dollars werden könnte. Schliesslich handelt es sich um eine Währung von reichen Ländern. Doch stattdessen ist der Anteil des Euro am internationalen Währungsmarkt nach seiner Einführung im Jahr 2000 stetig gesunken, bis vor einem Jahr zumindest. Seit 2022 ist der Marktanteil des Euros markant angestiegen und hat nach unseren Berechnungen die kumulierten Verluste der beiden letzten Jahrzehnte wettgemacht. Die Notenbanker der Länder des Globalen Südens gehen offenbar davon aus, dass sich Europa nicht immer bedingungslos den Vorgaben der Amerikaner fügen wird, und können so den Euro zu einer sinnvollen Diversifizierung vom Dollar machen.

Im Fall der Ukraine tun sie dies jedoch.
Ja, das hängt auch damit zusammen, dass Europa vom Krieg in der Ukraine direkt betroffen ist. Im Fall des Feldzuges gegen den Irak gab es jedoch seinerzeit grosse Differenzen zwischen den USA und Europa. Auch was China betrifft, sind sich die Amerikaner und die Europäer nur bedingt einig. Die Amerikaner wollen die Russen und die Chinesen und den Iran gemeinsam zu einer «Achse des Bösen» erklären. Die Deutschen, die Franzosen und die Italiener hingegen wollen es mit China nicht grundsätzlich verderben, auch weil ihre Wirtschaft bereits stark von der Chinas abhängig ist. Als Chinese schlafen Sie daher vermutlich besser, wenn Sie Ihre Devisenreserven zumindest teilweise in Euros und nicht in Dollars halten würden.

USS Gerald R. Ford aircraft carrier refuels from the underway replenishment oiler USNS Laramie in the eastern Mediterranean Sea, Oct. 11, 2023. (U.S. Navy photo via AP)
Starkes Argument für den Dollar: der Flugzeugträger Gerald R. Ford.Bild: keystone

Sie haben die «hard» Power bereits erwähnt. Hinter dem Dollar stehen ein Dutzend Flugzeugträger, lautet ein oft gehörtes Argument. Die militärische Macht Europas hingegen ist nach wie vor kümmerlich und der Euro daher nur bedingt als globale Währung tauglich. Teilen Sie dieses Argument?
Ja, «hard» Power, das sind die Flugzeugträger, Panzer und Atomraketen. Amerika kann dies, wie erwähnt, mit «soft» Power, der Macht der moralischen Überzeugung, verbinden. China hat «hard» Power, Europa «soft» Power. Um ein echter Rivale der USA zu werden, müssten sich die beiden zusammenschliessen. Das wird weder in Europa noch in China so schnell oder einfach passieren.

Sprechen wir auch von der Weltwirtschaft. Der «Economist» hat soeben in seiner Titelgeschichte die These aufgestellt, dass die Weltwirtschaft derzeit weit über ihrer Gewichtsklasse boxt. Es sei derzeit «zu gut, um wahr zu sein», sagt das Magazin. Wie beurteilen Sie die Lage?
Ich stimme der These nur teilweise zu. Die Weltwirtschaft hat viele schwerwiegende Schwächen, aber sie hat auch ihre Stärken. Trotz des Covid-Schocks und der schnellsten geldpolitischen Straffung seit Jahrzehnten haben wir bemerkenswert wenig Zusammenbrüche in der Weltwirtschaft oder den Finanzsystemen erlebt.

«China ist das einzige Land, das kein Geld gedruckt hat.»

Warum ist das so?
Meiner Meinung nach haben die Regierungen mit Staatsschulden Zeit gekauft. Mit anderen Worten: Die Regierungen haben in den letzten Jahren riesige Summen an Finanzmitteln ausgegeben, um den Konsum zu stützen, die Energiekosten zu subventionieren und gescheiterte Banken schnell zu retten. Das Ausbleiben offensichtlicher Spannungen und Probleme in der Weltwirtschaft hat seinen Preis: eine hohe Staatsverschuldung und höhere Kosten für die Kreditaufnahme in der Zukunft.

Wie gefährlich ist das?
Wir haben mit Japan so etwas bereits erlebt. Die Staatsschulden Japans befinden sich bekanntlich in astronomischen Höhen. «Weshalb ist die Wirtschaft nicht längst eingebrochen?», fragen sich weltweit die Ökonomen seit langem. Heute beträgt der Leitzins ein Prozent, das Bankensystem ist stabil, alles scheint in Ordnung zu sein. Betrachtet man die Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens der Japaner der letzten 20 Jahre – die Bevölkerung schrumpft bekanntlich –, dann steht Japan an dritter Stelle der reichen Länder. Wie lange Japan diese Strategie der Rettung des Privatsektors durch öffentliche Ausgaben fortsetzen kann, ist eine Schlüsselfrage. Ich möchte damit sagen, dass die Verschiebung von Ressourcen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor sowie zwischen der Gegenwart und der Zukunft ein weltweites Thema geworden ist.

Der Ökonom Simon Kuznet sagte deshalb dereinst: Es gibt die normalen Volkswirtschaften – und es gibt Japan. Hat er recht bekommen?
Die japanischen Staatsschulden sind in der eigenen Währung notiert. Daher kann Japan nicht pleitegehen, zumindest theoretisch. In der Praxis kann es jedoch trotzdem gefährlich werden, dann nämlich, wenn es zu einer Inflation kommt.

Japan mühte sich in den letzten Jahrzehnten mit einer leichten Deflation ab.
Ja, und die Japaner können nur hoffen, dass es zu keiner Inflation kommt. Der Grund dafür ist, dass alle politischen Massnahmen, die in den letzten zwei Jahrzehnten ergriffen wurden, schwerwiegende Folgen hätten, wenn die Inflation aufflammen und anhalten würde. Japan ist keine Wirtschaft, die hohe Zinssätze vertragen kann.

epa10639193 Former Chair of the Federal Reserve Ben Bernanke speaks at a moderated panel discussion on 'perspectives on monetary policy' at the Federal Reserve in Washington, DC, USA, 19 May ...
Vater der QE-Programme: Ben Bernanke, der ehemalige Fed-Präsident. Bild: keystone

Die meisten reichen Länder befinden sich jedoch auf dem Weg in japanische Verhältnisse. Die Staatsschulden nehmen unentwegt zu.
Richtig. Ich glaube, dass das von Ihnen erwähnte Zitat von Simon Kuznet möglicherweise geändert werden muss, denn es scheint, dass viele westliche Länder tatsächlich in die Fussstapfen Japans treten. Der verhängnisvolle politische Fehler wurde im Jahr 2009 begangen. Der damalige Präsident der amerikanischen Notenbank, Ben Bernanke, lancierte das Quantitative-Easing-Programm, de facto liess er Geld drucken. Damit wollte die Fed zunächst die Kreditklemme, die 2008 wegen der Finanzkrise entstanden war, bekämpfen. Damit handelte Bernanke zu diesem Zeitpunkt völlig zu Recht mit einem «unkonventionellen» Instrument, um ein «unkonventionelles» politisches Ziel zu erreichen. Doch als die Kreditklemme überwunden war, lancierte er ein zweites QE-Programm, weil er mit diesem «unkonventionellen» Instrument die Inflation geringfügig nach oben treiben wollte: Die Inflation lag damals bei nur etwa 0,5 Prozent unter dem angestrebten Ziel von 2 Prozent. Das war ein schwerwiegender Fehler. Indem er «unkonventionelle» Instrumente einsetzte, um ein «konventionelles» politisches Ziel zu erreichen, normalisierte Bernanke eine ausserordentliche Geldpolitik. Das ist, wie man den Kriegszustand in Friedenszeiten verhängt.

In Japan ist mehr als die Hälfte der Staatsschuld in den Händen der Bank of Japan, die wiederum dem Staat gehört. Auch die Europäische Zentralbank hält einen grossen Teil der italienischen Staatsschulden. Warum werden diese Schulden nicht einfach annulliert?
Diese Diskussion wird in Japan tatsächlich auch geführt. Würde man dies machen, dann würde sich jedoch die Inflationsgefahr erhöhen, es wäre dann offensichtlich, dass die Staatsschulden monetisiert würden, will heissen, mit der Gelddruckmaschine gelöst würden. Dazu kommt das Problem des «crowding out», der Umstand, dass der Staat die Sparguthaben für sich selbst verbrauchen und die Zinsen in die Höhe treiben würde, da dem privaten Sektor weniger Ersparnisse zur Verfügung stünden. Die Frage ist also, ob die Investitionen des Staates produktiver sind als die des privaten Sektors. Eine ineffiziente Nutzung der Ersparnisse würde wiederum höhere Zinssätze und ein geringeres Wachstum als sonst bedeuten. Es gibt keinen «free lunch».

In den reichen Ländern werden die Menschen immer älter. Haben wir da eine Alternative zum japanischen Modell?
Ja, Südkorea und Singapur beispielsweise sind mit ähnlichem demografischem Gegenwind konfrontiert, aber haben keine QE-Programme durchgeführt. In der Tat hat China als einzige grosse Zentralbank, die kein QE durchgeführt hat, kein Geld gedruckt. Die Welt ist derzeit ziemlich pessimistisch gegenüber China, aber sie sollte nicht vergessen, dass die Politik dieses Landes trotz der Schlagzeilen in vielerlei Hinsicht herausragend und umsichtiger ist als die vieler anderer Industrieländer. Das japanische Modell trifft auf jeden Fall vor allem auf Länder zu, die eine hohe Staatsquote haben – eine Belastung und ein Risiko für die kommenden Jahre.

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60 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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bcZcity
17.11.2023 10:56registriert November 2016
Solche ähnliche Artikel gab es schon vor 5 und vor 10 Jahren und der Dollar ist noch immer der Dollar.
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Acai
17.11.2023 11:19registriert März 2017
Wie Umsichtig die Chinesen tatsächlich sind, wird sich bald zeigen. Immerhin steht eine grosse Immobilienkrise an. Dazu kommt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und Folgen des Covid-Regime, durch welches die Bevölkerung wirtschaftlich regelrecht ausgeblutet wurde. Die grossen Probleme wurden also nicht gelöst, sonder erst richtig geschaffen.
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butlerparker
17.11.2023 11:19registriert März 2022
Das Statement von Jen ist ein Sammelsurium von Plattitüden+Binsenweisheiten.Harte Fakten Fehlanzeige.Rückgang von 60% auf 50% der weltweiten Währungsreserven(nachdem zugegeben wird,daß nach Einführung des € genau dieser Wert nach oben ging.

Der Rückgang seit 2022 resultiert vor allem durch RUS(mussten viele § verscherbeln wg. Kriegsfin.)+ China (pol. Konflikt mit USA,u.a. haben sich viele US Firmen aus China verabschiedet+sie brauchen weniger $)

China betreibt eine umsichtige Politik??Schon mal was von Evergrande+Country Garden gehört(und das sind nur die Großen+viele Kleine).China taumelt
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