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Wirecard-Skandal: Wer hatte Schuld an dem Milliardenbetrug?

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Olaf Scholz, Angela Merkel und Peter Altmaier (v.l.): Sie alle sehen sich im Wirecard-Skandal herber Kritik ausgesetzt.Bild: keystone

Wirecard-Skandal: Wer hatte Schuld an dem Milliardenbetrug?

Milliardenbetrug, Geheimagenten und internationale Haftbefehle: Die Geschichte von Wirecard ist filmreif, aber auch extrem kompliziert. Hier erfahren Sie alles, was Sie über den beispiellosen Wirtschaftsskandal wissen sollten.
27.03.2021, 07:06
Mauritius Kloft / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Ein deutsches Vorzeigeunternehmen der ersten Börsenliga, ein durchtriebener Manager, fast zwei Milliarden Euro, die verschwunden sind – und ein Dax-Vorstand, der sich für einen Geheimagenten hält und mittlerweile international gesucht wird: Die Geschichte des deutschen Unternehmens Wirecard <DE0007472060> ist perfekt für die ganz grosse Leinwand, wird mit Christoph Maria Herbst in der Hauptrolle sogar zum TV-Thriller.

Doch was ist eigentlich passiert? Welche Rolle spielten die Wirecard-Manager, welche die Wirtschaftsprüfer – und was hat Finanzminister Olaf Scholz mit all dem zu tun? Wir führen euch durch einen Dschungel aus Lügen, Verstrickungen und Betrügereien und erklären den Hintergrund des Wirecard-Skandals.

ARCHIV - 20.07.2020, Bayern, Aschheim: Das Wirecard-Logo ist am Hauptsitz des Zahlungsdienstleisters zu sehen. Das Streamingportal TVnow will ab Ende M
Wirecard-Gebäude (Symbolbild): Wie kam es zu dem Milliardenbetrug bei dem Ex-Dax-Konzern?Bild: keystone

Was ist Wirecard für ein Unternehmen?

Wirecard ist ein Zahlungsanbieter mit Sitz in Aschheim bei München. Binnen 20 Jahren entwickelte sich das Unternehmen von einem Dienstleister der Porno- und Glücksspielindustrie zum vielgefeierten Star unter den 30 Dax-Konzernen und damit zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten grosser Firmen in der globalen Finanzlandschaft.

1999 wurde Wirecard gegründet. Zunächst wickelte die Firma hochriskante Zahlungen von Porno- und Glücksspielwebseiten ab. 2002 trat Markus Braun, ein studierter Wirtschaftsinformatiker, als Vorstandsvorsitzender und Technikvorstand in das Unternehmen ein. Zuvor war er bei der Unternehmensberatung KPMG für die «Infogenie AG» zuständig, das Vorgängerunternehmen von Wirecard. Braun bestimmte nun massgeblich den künftigen Kurs der Firma.

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Lenkte jahrelang die Geschicke von Wirecard: Markus Braun.Bild: keystone

Noch vor Braun war Jan Marsalek bei Wirecard, das damals noch «Wire Card» hiess. Marsalek wurde die rechte Hand von Braun, jahrelang war er als Chief Operating Officer für das Tagesgeschäft zuständig.

Das Duo Braun und Marsalek baute Wirecard weiter aus – und änderte die Kundengruppe des Unternehmens: weg von Zahlungsabwicklungen in der Pornoindustrie hin zum Dienstleister anerkannter, internationaler Firmen wie der Airline KLM, dem Haushaltsartikel-Spezialisten WMF oder dem Paketdienst FedEx.

Zwei mutmassliche Komplizen des Ex-Wirecard-Managers Jan Marsalek wurden festgenommen. (Symbolbild)
Ein Fahndungsbild von Jan Marsalek.Bild: sda

Mit dem neuen Geschäftsmodell und Kundenstamm wuchs die Reputation von Wirecard – auch unter Anlegern. Der Aktienkurs von Wirecard stieg rasant an, 2018 ersetzte Wirecard die teilstaatliche Commerzbank in der ersten deutschen Börsenliga, dem Deutschen Aktienindex (Dax) <DE0008469008>. Lange währte der Erfolg aber nicht (siehe unten).

Wie lief das Geschäft von Wirecard konkret ab?

Der Konzern wickelte hauptsächlich Kartenzahlungen sowohl an Ladenkassen als auch im Onlinegeschäft ab. Wenn jemand im Internet oder an der Kasse mit Kreditkarte bezahlte, sorgte Wirecard dafür, dass das Geld auch beim Onlineshop oder Supermarkt ankam. Dafür kassierte Wirecard eine Gebühr – einen sehr kleinen Prozentsatz des Umsatzes.

Das Wirecard-Geschäft lohnte sich deshalb erst bei besonders vielen Kunden und Transaktionen. Für die Transaktionen arbeitete Wirecard mit Treuhandkonten. Diese sprangen ein, wenn das Konto eines Kunden nicht gedeckt war – und die Zahlung eigentlich nicht stattfinden hätte können. Die Treuhandkonten sorgten also als Art Versicherung dafür, dass die Zahlungen reibungslos abliefen.

Für sein Geschäft betrieb Wirecard in Europa auch ein eigenes Kreditinstitut, die Wirecard Bank – samt vollwertiger Banklizenz. Die Wirecard Bank sorgte als Mittelsmann dafür, dass das Geld von den Kartendiensten zu den Händlern kommt. In anderen Ländern, wo Wirecard keine solchen Lizenzen hatte, arbeitete die Firma mit Drittfirmen zusammen, die dafür Provisionen erhielten.

In Asien etwa unterhielt Wirecard ein kompliziertes Netzwerk aus rund 100 Partnern, deren Geschäfte untereinander auch wiederum mit Treuhandkonten abgesichert wurden. Diese komplizierte Firmenstruktur mit Treuhändern in verschiedenen Ländern spielte eine entscheidende Rolle beim Bilanzskandal von Wirecard.

Denn erst durch die Treuhandkonten in Asien sah es so aus, als würden Dritte dem Wirecard-Konzern offene Rechnungen per Überweisung bezahlen und auf diesen Konten zwischenparken. Tatsächlich existierten 1.9 Milliarden Euro aber nicht (siehe unten).

Wie kam es zum Milliardenbetrug – und der Aufdeckung des Skandals?

Wie genau es zum Milliardenbetrug bei Wirecard kam, lässt sich bislang nur schwer rekonstruieren. Fakt ist: Im Juni 2020 brach das mühsam aufgebaute Kartenhaus zusammen. Eine Chronologie des Wirecard-Skandals:

  • Frühjahr 2015: In der britischen «Financial Times» («FT») werden erste Vorwürfe gegen Wirecard laut. In der Artikelserie «The House of Wirecard» hinterfragt der «FT»-Journalist Dan McCrum erstmals das schnelle Wachstum – und das unklare Geschäftsmodell des Konzerns.
  • Februar 2016: Der britische Investor und Shortseller «Zatarra Research» veröffentlicht einen kritischen Bericht über Wirecard und wirft dem Unternehmen unter anderem Geldwäsche und Betrug vor. Der Aktienkurs von Wirecard bricht daraufhin stark ein. Die deutsche Finanzaufsicht Bafin leitet rechtliche Schritte gegen den Investor ein.
  • Anfang 2019: Die «FT» legt nach. In mehreren Artikeln wirft die britische Zeitung dem Konzern vor, dass Manager in Asien Verträge, Bilanzen und Rechnungen gefälscht und Geldwäsche betrieben haben sollen. Der Aktienkurs von Wirecard rauscht daraufhin erneut nach unten.
  • Februar 2019: Die Bafin verhängt aufgrund des massiven Kurseinbruchs der Wirecard-Aktie ein Leerverkaufsverbot auf die Titel des Konzerns. Das heisst: Wetten auf einen fallenden Kurs der Wirecard-Aktie sind nicht mehr erlaubt – eine Schutzmassnahme, für die die Bafin später viel Kritik einstecken wird.
  • März 2019: Wirecard veröffentlicht die Ergebnisse eines Prüfberichts einer Rechtsanwaltskanzlei aus Singapur und sieht sich als entlastet an. Das Unternehmen erstattet Anzeige gegen den Journalisten McCrum und die «Financial Times».
  • April 2019: Die Bafin zieht nach – und erstattet ebenfalls Anzeigen gegen die «FT». Sie geht davon aus, dass die Zeitung mit den Shortsellern gemeinsame Sache macht, um den Kurs der Wirecard-Aktie zum Einsturz zu bringen und um mit Wetten auf diesen Kurssturz Geld zu verdienen.
  • Oktober 2019: Die «FT» lässt nicht locker – sondern veröffentlicht weitere kritische Beiträge über Wirecard. Unter anderem berichtet sie jetzt von zu hoch ausgewiesenen Gewinnen in den Bilanzen des Münchner Unternehmens. Kurze Zeit später kündigte Wirecard eine Sonderprüfung ihrer Bilanzen durch die Prüfungsgesellschaft KPMG an. Regulärer Buchprüfer bei Wirecard ist bis dahin eigentlich KPMG-Konkurrent EY.
  • März 2020: Wirecard verschiebt die Veröffentlichung seiner Jahresbilanz von 8. April auf 30. April 2020. Die KPMG-Untersuchung sei noch nicht abgeschlossen. Sie habe sich unter anderem wegen der Corona-Pandemie verzögert, so der Konzern.
  • Ende April 2020: KPMG übergibt Wirecard den Bericht zur Sonderprüfung. Der Zahlungsdienstleister sieht sich abermals als entlastet an. Doch einige wichtige Fragen bleiben immer noch unbeantwortet. So kann die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zur Höhe und zur Existenz der Umsätze aus dem sogenannten Drittpartnergeschäft in den untersuchten Jahren 2016 bis 2018 keine Aussage treffen. Es bleibt unklar, ob die Umsätze existieren und korrekt sind oder ob es sie gar nicht gibt. Wirecard verschiebt die Veröffentlichung der Konzernbilanz erneut.
  • Mai 2020: Das Unternehmen kündigt an, ab 1. Juli ein Compliance-Ressort einzurichten – Vorstand soll der US-Manager James Freis werden, der zuvor bei der Deutschen Börse AG tätig war. Ende Mai verschiebt Wirecard erneut die Vorlage der Bilanz.
  • Anfang Juni 2020: Die Staatsanwaltschaft München durchsucht die Geschäftsräume von Wirecard in Aschheim. Dabei geht es um den Verdacht der Marktmanipulation.
  • 18. Juni 2020: Nur wenige Stunden vor der Bilanzpressekonferenz meldet Wirecard, dass die Vorlage der Jahreszahlen erneut verschoben werden müsse. Die beauftragte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY habe das Unternehmen darüber informiert, dass für die Existenz von Bankguthaben auf philippinischen Treuhandkonten in Höhe von 1.9 Milliarden Euro keine ausreichenden Nachweise vorlägen. Wirecard kündigt an, Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten und spricht von einem «gigantischen Betrug». Die Wirecard-Aktien gehen an dem Tag mit einem Minus von 61.82 Prozent auf 39.90 Euro aus dem Handel. Zuvor hat eine Aktie noch mehr als 100 Euro gekostet. Jan Marsalek wird an dem Tag von seinem Vorstandsposten freigestellt.
  • 19. Juni 2020: Wirecard-Chef Markus Braun räumt seinen Vorstandsposten. Wirecard habe ein exzellentes Geschäftsmodell, herausragende Technologie und ausreichende Ressourcen für eine grosse Zukunft, so Braun. «Ich will diese Zukunft nicht belasten», schreibt er in einer Erklärung. Interims-Chef wird Freis, der eigentlich erst zum Juli das Compliance-Ressort übernehmen sollte.
  • 22. Juni 2020: Die 1.9 Milliarden Euro, für die EY Nachweise suchte, sind offenbar nicht auf den Philippinen, wie der Präsident der dortigen Notenbank mitteilt. Der bereits freigestellte Marsalek wird nun «mit sofortiger Wirkung» gefeuert, Markus Braun wird festgenommen. Einen Tag später kommt er gegen eine Millionenkaution wieder frei. Der Chef der Finanzaufsicht Bafin, Felix Hufeld, sagt, seine Behörde habe offenbar nicht genug getan. «Es ist eine Schande», so Hufeld und weiter: «Es ist ein komplettes Desaster.» Jan Marsalek ist zu diesem Zeitpunkt bereits untergetaucht.
  • 25. Juni 2020: Wirecard ist pleite – das Unternehmen stellt einen Insolvenzantrag. Die Zukunft des einstiegen Aufsteigerkonzerns ist ungewiss.
  • Anfang Juli 2020: Der Ausverkauf bei Wirecard beginnt, mehr als 100 Interessenten wollen Teile des insolventen Konzerns übernehmen. Zum Insolvenzverwalter wurde Michael Jaffé berufen, der unter anderem schon die Kirch-Gruppe, den Halbleiterhersteller Qimonda und die dubiosen Anlegefirmen der P&R-Gruppe abwickelte.
  • Juli 2020: Der Wirecard-Skandal entwickelt sich mehr und mehr zu einer politischen Affäre, nachdem bekannt wird, dass Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im Herbst 2019 bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für Wirecard geworben haben soll – zu einer Zeit also, als bereits Vorwürfe gegen das Unternehmen bekannt waren. Für Empörung sorgt auch, dass es offenbar Verwirrung um die genaue Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden im Wirecard-Skandal gab: Niemand fühlte sich so richtig für Wirecard verantwortlich. Auch das Finanzministerium unter Olaf Scholz (SPD), zuständig für die Finanzaufsicht Bafin, die wiederum die Wirecard Bank überwacht, gerät zunehmend unter Druck.
  • 22. Juli 2020: Ex-Vorstandschef Braun wird erneut festgenommen – und dieses Mal nicht gegen eine Kaution freigelassen. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft München geht mittlerweile von «gewerbsmässigem Bandenbetrug», Untreue und Marktmanipulation aus. Sie schätzt, dass die Beschuldigten seit 2015 die Bilanzen des Konzerns aufgebläht haben. Auch weitere Wirecard-Manager sitzen nun im Gefängnis.
  • 21. August 2020: Als erster Pleite-Konzern in der Geschichte des Dax fliegt Wirecard aus der ersten deutschen Börsenliga. Die Deutsche Börse kündigte aufgrund dieses Vorfalls grundlegende Änderungen an. Unter anderem soll der Dax auf 40 Unternehmenswerte vergrössert werden (siehe unten).
  • 1. September 2020: Grüne, Linkspartei und FDP einigen sich auf einen Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag, um die Verstrickungen der Politik in dem Fall aufzuklären.
  • 4. September 2020: Die Staatsanwaltschaft stellt ihre Ermittlungen gegen die «FT»-Journalisten Stefania Palma und Dan McCrum ein.
  • November 2020: Das Wirecard-Kerngeschäft geht an die spanische Grossbank Banco Santander. Markus Braun muss im Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagen. Er habe «zu keiner Zeit Feststellungen getroffen oder Hinweise erhalten, dass sich Behörden, Aufsichtsstellen oder Politiker nicht korrekt, pflichtwidrig oder in irgendeiner Form unlauter verhalten hätten», so Braun. Mehr sagt er nicht und beruft sich auf sein Recht, die Aussage zu verweigern.
  • Ende Januar 2021: Der Chef der Finanzaufsicht Bafin Hufeld räumt seinen Posten. Man sei einvernehmlich zu dem Entschluss gekommen, dass es einen personellen Neustart an der Spitze der Bafin geben sollte, teilt das Finanzministerium mit. Auch seine Stellvertreterin Elisabeth Roegele muss ihren Posten räumen. Zuvor wurde bekannt, dass die Bafin einen Mitarbeiter wegen Insiderhandels anzeigte. Er hatte interne Informationen genutzt, um mit Wirecard-Aktien zu handeln. Auch weitere Geschäfte von Mitarbeitern werden untersucht.
  • März 2021: Neuer Präsident der Bafin soll Mark Branson werden. Er ist bislang Chef der Schweizer Finanzaufsicht Finma. Branson soll seinen Posten spätestens am 1. August antreten. Einige Tage später, Ende März, werfen Oppositionspolitiker dem Scholz-geführten Finanzministerium vor, wichtige Akten bewusst zurückgehalten zu haben. Die Finanzstaatssekretäre weisen diesen Vorwurf aber zurück. Das Finanzministerium erklärt, es informiere den Ausschuss «sorgfältig, detailliert und so zügig wie möglich». Insgesamt seien in den vergangenen Wochen und Monaten bereits mehr als 1'000 Ordner vom Ministerium übersandt worden.
  • 26. März 2021: Roegele und Hufeld von der Bafin sagen im Untersuchungsausschuss aus. Roegele weist Vorwürfe zurück, die Finanzaufsicht habe den Skandalkonzern Wirecard absichtlich in Schutz genommen. Das von ihr ausgesprochene Leerverkaufsverbot sei vielfach als Parteinahme oder Gütesiegel für Wirecard verstanden worden, so Roegele. Das sei es aber nicht: «Das war und ist nicht die Zielsetzung der Bafin, die sie mit dem Leerverkaufsverbot verbunden hat.»

Wer sind die Hauptfiguren im Wirecard-Krimi?

  • Markus Braun: Braun, Jahrgang 1969, war fast 20 Jahre lang Chef des Zahlungsabwicklers. Er baute das Unternehmen stark aus – von einem Dienstleister der Schmuddelindustrie hin zu einer aufstrebenden Finanzfirma im Dax. Braun, der das Unternehmen laut Staatsanwaltschaft mit "Korpsgeist" und nach einem "streng hierarchischen System" geführt haben soll, sitzt hinter Gittern. Ihm droht eine lange Haftstrafe.
  • Jan Marsalek: Marsalek, 1980 in Wien geboren, war bei Wirecard der zweite starke Mann hinter Firmenboss Markus Braun. Marsalek stammt aus einfachen Verhältnissen. Kurz bevor er am französischen Gymnasium in Wien die Matura ablegen sollte, schmiss er die Schule, arbeitete anschliessend für Tech-Start-ups, ehe er im Alter von 20 Jahren bei Wirecard anheuerte. Er war damit länger als Braun Teil des Konzerns, stieg auf und war zuletzt als Vertriebsvorstand auch für das umstrittene Asiengeschäft des Unternehmens verantwortlich. Seit Ende Juni 2020 befindet sich Marsalek auf der Flucht, mutmasslich hält er sich zurzeit in Russland auf. Marsalek wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Nach seiner Flucht wurde bekannt, dass Marsalek oft mit Kontakten nach Russland prahlte, gar eine Art Doppelleben führte: So soll er etwa damit angegeben haben, mehrere Pässe zu besitzen – "wie jeder gute Geheimagent", wie Marsalek zitiert wird. Auch soll er sich Ende 2018 für den Aufbau einer Söldnerarmee in Libyen eingesetzt haben.
  • Felix Hufeld: Hufeld ist ein deutscher Jurist und war von März 2015 bis Januar 2021 Präsident der Finanzaufsicht Bafin. Im Zuge des Wirecard-Skandals geriet die Finanzaufsicht in die Kritik. Als Folge musste Hufeld seinen Posten räumen.
  • Dan McCrum: Dan McCrum ist Investigativjournalist bei der britischen Zeitung "Financial Times". Er schrieb bereits seit 2015 über Wirecard. Zwischenzeitlich wurde McCrum auch von der Finanzaufsicht angezeigt. Ihm wurde vorgeworfen, gemeinsam mit Spekulanten auf einen fallenden Aktienkurs gewettet zu haben.
  • Olaf Scholz: Der SPD-Politiker ist Bundesfinanzminister und trägt damit auch die Verantwortung für die Finanzaufsicht Bafin, einer nachgelagerten Behörde des Ministeriums. Scholz und das Finanzministerium gerieten wegen der Verstrickungen im Wirecard-Skandal zunehmend in die Kritik.
  • Peter Altmaier: Unter die Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums, das CDU-Politiker Altmaier führt, fällt die Abschlussprüferaufsichtskommission (Apas). Diese überwacht die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Deutschland – also auch KPMG und EY. Der Chef der Apas wurde im Zuge des Bilanzskandals entlassen.

Wie gross ist der Schaden des Wirecard-Skandals?

Gross. Tausende Anleger verloren viel Geld, weil der Aktienkurs des früheren Dax-Konzerns Wirecard ins Bodenlose stürzte. Hart getroffen sind auch die Banken, die Wirecard Geld und Kredite gaben. Schätzungen zufolge könnte sich ihr Schaden auf 3.2 Milliarden Euro summieren.

Zurzeit sind jede Menge Klagen von Anlegern, die sich geprellt fühlen, anhängig. Schon im Sommer berichteten Anleger, dass sie viel Geld durch den Kurssturz nach der Wirecard-Affäre verloren haben. Die Chance, dass Kleinanleger ihr verlorenes Geld wiedersehen, ist dabei denkbar klein. Denn die Einnahmen aus der Zerschlagung des insolventen Wirecard-Konzerns wird vorwiegend genutzt werden, um die Forderungen der Banken zu befriedigen.

Doch der grösste deutsche Finanzskandal hat nicht nur finanzielle Auswirkungen. Viele Menschen sehen durch das Wirecard-Debakel das Ansehen des deutschen Finanzplatzes dauerhaft beschädigt. Das wiederum würde dafür sorgen, dass Investoren von Aktivitäten in Deutschland Abstand nehmen – eine fatale Konsequenz für die hiesige Unternehmenslandschaft.

Wer hat Schuld am Wirecard-Skandal?

Das ist die entscheidende Frage. Neben den Wirecard-Vorständen Markus Braun und Jan Marsalek spielen auch weitere Manager des Zahlungsdienstleisters wichtige Rollen in dem Skandal – nicht nur hier in Deutschland, sondern auch in Dubai, Singapur oder auf den Philippinen. Auch der Wirecard-Aufsichtsrat muss sich einiges anhören. Denn er vermochte es nicht, das Treiben der Manager zu stoppen.

Neben Beteiligten aus dem Konzern gibt es auch Kritik an den Wirtschaftsprüfern von EY. Zehn Jahre lang prüfte die Gesellschaft die Bilanzen des Konzerns – und beanstandete nichts. Der Deutschlandchef von EY, Hubert Barth, trat Ende Februar 2021 von seinem Posten zurück, allerdings bekommt er einen anderen Job im EY-Konzern.

Schliesslich dürfte auch die Politik einige Schuld treffen, genauer gesagt: die Finanzaufsicht Bafin sowie das Wirtschafts- als auch das Finanzministerium.

Was hat die Politik mit Wirecard zu tun?

Womöglich eine ganze Menge. Die wichtigsten Fragen der politischen Aufarbeitung ist: Haben die Aufsichtsbehörden Wirecard als aufstrebenden Börsenstar trotz Hinweisen auf Unregelmässigkeiten mit Samthandschuhen angefasst? Wann genau wusste die Bundesregierung von Unregelmässigkeiten? Und hat sie zu wenig dagegen unternommen?

Die Dimension des Wirecard-Skandals sind noch nicht vollständig geklärt. Fakt ist: Es gibt mehrere Ebenen, auf denen die Politik scharfe Kritik erntet. Eine Übersicht:

  • Das Versagen der Finanzaufsicht: Die Bafin habe trotz klarer Hinweise auf Unregelmässigkeiten nötige Schritte nicht ergriffen, werfen Kritiker der Behörde vor. Auch sei Verdachtsmeldungen auf Geldwäsche vor der Wirecard-Insolvenz nur ungenügend nachgegangen worden. Zudem hatte sich die Aufsicht 2019 auf die Seite von Wirecard geschlagen und Journalisten der "FT" angezeigt. Kritisch sehen Beobachter auch, dass die Bafin sich dagegen nur für die Wirecard Bank zuständig fühlte – aber nicht für das gesamte Unternehmen. In dem Zuge rückte auch das Finanzministerium unter Olaf Scholz ins Blickfeld der Kritiker. Oppositionspolitiker werfen ihm vor, dass sich Scholz seit 2019 über die Bafin-Ermittlungen bei Wirecard informieren liess – und trotzdem nicht einschritt oder die Ermittlungen zur Chefsache erklärte. Auch ein Staatssekretär von Scholz, Jörg Kukies, gerät in die Kritik. Er traf sich im Herbst 2019 mit Wirecard-CEO Braun, ohne dass es davon ein Protokoll gibt. Brisant ist die Sache, weil Kukies Vorsitzender des Bafin-Verwaltungsrates ist.
  • Das Lobbying der Kanzlerin: Es geht vor allem darum, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Chinareise im September 2019 für den Markteintritt von Wirecard in China geworben hatte – auf Bitte des Ex-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der als Berater von Wirecard arbeitete. Zu Guttenberg sieht sich mittlerweile als Opfer, Wirecard habe "uns alle getäuscht", wie er im Dezember 2020 im U-Ausschuss des Bundestags zu Protokoll gab. Und die Kanzlerin? Sie betonte nach der Wirecard-Pleite, es sei Usus, dass man bei Auslandsreisen die Anliegen deutscher Unternehmen anspreche. Unregelmässigkeiten bei Wirecard seien ihr damals nicht bekannt gewesen – obwohl es zu diesem Zeitpunkt längst kritische Berichte der "Financial Times" zu Wirecard gab. Doch nicht nur zu Guttenberg hatte sich für das Unternehmen eingesetzt. Auch der Ex-Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, hatte Lobbyarbeit für Wirecard betrieben.
  • Das Schlafen der Prüfer-Überwacher: Die Abschlussprüferaufsichtsstelle, kurz Apas, ein bis zum Wirecard-Skandal relativ unbekanntes Gremium, überwacht die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Deutschland – also auch KPMG und die Firma EY, die im Wirecard-Skandal keine gute Figur machte. Kritiker werfen der Apas, einer nachgelagerten Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums, vor, bei der Überwachung von EY als Wirecard-Dienstleister nicht genug aufgepasst zu haben. Der Chef der Apas, Ralf Bose, wurde im Zuge des Bilanzskandals entlassen. Der Grund: Er handelte privat mit Wirecard-Aktien – während seine Behörde sich bereits mit dem Fall beschäftigte.

Um die Fragen der politischen Verwicklungen zu klären, beschäftigt sich seit Herbst 2020 ein Untersuchungsausschuss im Bundestag mit Wirecard. Besonders die Oppositionspolitiker Fabio De Masi (Die Linke), Florian Toncar (FDP) und Danyal Bayaz (Die Grünen) spielen bei der Aufklärung eine wichtige Rolle.

Bis Ende April soll die Zeugenbefragung beendet werden. Gehört werden sollen im April unter anderem noch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Danach soll der Abschlussbericht erstellt werden.

Wie soll ein Wirecard-Skandal künftig verhindert werden?

Neben der Aufklärung im parlamentarischen Untersuchungsausschuss und personellen Konsequenzen steht auch die Frage im Raum, wie ein Finanzskandal wie bei Wirecard in der Zukunft verhindert werden kann.

Besonders die Finanzaufsicht Bafin soll grundlegend reformiert werden. Die Bonner Behörde soll künftig mit verdeckten Testkäufen überprüfen, ob Kunden ausreichend beraten werden, bevor sie Finanzprodukte kaufen.

Zugleich soll die Aufsichtsstruktur der Bafin effizienter werden, der Präsident soll mehr Kompetenzen bekommen. Unter anderem soll sie mit Experten für Wirtschaftsprüfung und Bilanzanalyse verstärkt werden. Die Bafin soll auch selbst Sonderprüfungen veranlassen können. Dafür soll sie eine Taskforce mit besonders ausgebildeten Spezialisten bekommen.

Dax ändert sich entscheidend

Neben der Bafin ändern sich auch die Voraussetzungen für die erste Börsenliga, dem Dax. Ab September 2021 wächst der Dax um zehn börsennotierte Firmen auf 40 Mitglieder. Dann wird er nicht mehr Dax 30 sondern entsprechend Dax 40 heissen, der MDax schrumpft dagegen von 60 auf 50 Werte.

Bis 2020 überprüfte die Deutsche Börse die Zusammensetzung des Dax einmal im Jahr, im September. Seit 2021 wird zwei Mal im Jahr entschieden, welche Aktiengesellschaften im Dax gelistet sein sollen und welche nicht. Ausserdem werden Firmen, die zwei Jahre lang keine operativen Gewinne einfahren, künftig nicht mehr in die erste Börsenliga hineingelassen.

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    Donny Drumpf
    27.03.2021 10:07registriert November 2019
    An dem Tag an dem der Kurs in den Keller fiel, meinte mein Kollege so, jetzt musst du kaufen die gehen 100% wieder hoch!

    Naja ich handel nich mit Aktien, schade eigentlich, da hät ich glatt die Lektion fürs Leben lernen können.
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