Moskau kündigt an, die Kampfhandlungen um Kiew zu reduzieren. Sind das Signale in Richtung Ende des Krieges?
Gustav Gressel: Abwarten. Bei den Russen muss man aufpassen, was am Boden geschieht - nicht, was gesprochen wird. Russland hat im Syrienkrieg dem Westen auch kleine Friedenshoffnungen gemacht - gekommen ist es dann doch anders.
Zuletzt hiess es auch, Russland konzentriere sich auf den Donbass, die «Befreiung» der Ostukraine. Revidiert Putin seine Kriegsziele?
In der Tat, das sind neue Kriegsziele, weil die Eroberung Kiews, der Regime-Change, die Besetzung der gesamten Ukraine nicht erreichbar sind. Dazu ist der Gegner zu stark. Mit den gegenwärtigen Kräften kann die russische Armee Kiew nicht einnehmen. Auch nicht mit 134'000 neuen Soldaten, die am 1. April rekrutiert werden.
Man staunt noch immer ungläubig, dass sich die russische Führung derart verkalkulieren konnte. Oder ist das westliche Lesart und Putin wusste, auf was er sich da einlässt?
Nein, er hat sich verkalkuliert. Die russische Vorbereitung auf den Krieg war schlampig.
Woran lässt sich das festmachen?
Beispiel Drohnen: Jenseits des Donbass kam es erst ab der vierten Kriegswoche zu einem systematischen Einsatz von Drohnen zur Aufklärung und Zielerfassung durch die russische Armee. Welche Idee hat die russische Führung geritten zu glauben, der gleiche Gegner, der seit 2014 im Donbass erbitterten Widerstand leistet, sei ohne Drohnen zu knacken? Beispiel digitale, verschlüsselte Funkgeräte. Die werden jetzt aus den Militärdepots geholt. Da stelle ich mir die Frage: Warum erst jetzt? Jeder weiss, wie anfällig analoge Funkgeräte sind. Beispiel Luftwaffe: Die hat drei Wochen gebraucht, um ihre Schlagkraft zu entwickeln - weil zu wenig Munition ausgelagert worden war, weil der Treibstoff falsch kontingentiert war - weil man dachte, die Sache sei nach wenigen Tagen durch. Allerdings:
Die Ukraine berichtet von Rückeroberungen vormals besetzter Gebiete. Kann die Ukraine tatsächlich zum Gegenangriff übergehen?
Hier handelt es sich um taktische Gegenangriffe. Ohne solche Operationen wäre Charkiw längst eingekesselt, ebenso Kiew. Seit eineinhalb Wochen sind solche Entlastungsangriffe im grösseren Masse erfolgreich, weil die Russen überdehnt - sie stehen mit zu wenigen Kräften in zu viel Raum - und geschwächt sind. Es handelt sich aber nicht um grosse Rückeroberungen ukrainischer Gebiete.
Trotzdem: Könnte ein Gegenschlag die Ukraine zum Sieg führen?
Für die Ukraine ist es einfacher, den Krieg zu gewinnen, als für die Russen - vor dem Hintergrund der ursprünglichen russischen Kriegsziele. Solange die Ukraine den Krieg nicht verliert, gewinnt sie. Wenn sie ein souveräner Staat bleibt, die Regierung in Kiew an der Macht bleibt und im Donbass nicht Gebiete an Russland abtreten muss, hat die Ukraine gewonnen.
Sie rufen zu einem vollständigen Embargo für russische Energie auf. Würde ein Energieembargo den Kriegsverlauf beeinflussen?
Die Sanktionen müssen nach militärischem Kalender getaktet werden - nicht nach politischem. Es ist für den Krieg ein irrelevanter Zeitraum, wenn sich Europa bis 2030 aus der russischen Energieabhängigkeit befreit. Ein sofortiges und temporäres Energieembargo wäre ein wirkmächtiges Mittel. Gerade in Hinblick auf ein mögliches Abkommen zwischen der Ukraine und Russland. Ein Abkommen im Stile von Minsk III wäre brüchig. Für einen für beide Seiten akzeptablen Frieden wären weitere Druckmittel wie ein Energieembargo wichtig. Brechen die Einnahmen aus Energie ein, gerät Putin nicht nur militärisch in der Ukraine unter Druck, sondern auch ökonomisch im eigenen Land.
Ist Putin bereit, den Krieg mit nuklearen oder biologischen Waffen zu eskalieren?
Das glaube ich nicht. Chemische Waffen womöglich, aber vor der Wirkung biologischer Waffen kann er seine eigenen Truppen nicht schützen. Setzt er nukleare Waffen ein, werden sich Staaten wie etwa Indien, die sich gegenüber Russland bislang wohlwollend neutral verhalten haben, von Russland abwenden. Zerstören und verwüsten kann die russische Armee auch mit konventionellen Waffen - das sieht man in Mariupol. Stellte sich also die Frage, wo ein Nuklearwaffeneinsatz eine Entscheidung herbeiführen würde. Sicherlich beim Kampf um Kiew. Aber dann würde Putin damit auch die Wiege der orthodoxen Christenheit und die grössten Kulturschätze der Orthodoxie in Kiew zerstören. Das könnte Putin seiner eigenen Bevölkerung und der russisch-orthodoxen Kirche nicht verkaufen. Ich halte die Drohung mit Atomwaffen für Getöse.
Dann sind auch Drohungen gegenüber Polen, dem Baltikum oder Finnland bloss Getöse - oder hat Putin solche Grossmachtfantasien?
Solche Fantasien hatte er. Putins Imperialismus hat in der Ukraine aber einen grossen Dämpfer erlitten. Wenn man nicht mal die «kleine» Ukraine unterwerfen kann, wird man sich nicht noch einen Krieg gegen Finnland oder die Nato leisten können. Anders wäre es, wenn es Putin gelänge, die Ukraine zu unterwerfen. Das wäre eine sehr gefährliche Lage. Allerdings: Eine nukleare Eskalation müsste auch Russland zu Ende denken. Ein Atomkrieg ist für Putin ein nicht gewinnbares Unterfangen.
Droht der Ukraine der Korea-Zustand - also eine Aufteilung in den liberalen Westen und einen hinter einem neuen eisernen Vorhang verborgenen Osten?
Das Korea-Szenario ist leider sehr wahrscheinlich. Möglich ist auch, dass beide Seiten in dem Krieg ermatten und dass dann eine inoffizielle, stetig aktiv bleibende Front in der Ukraine entsteht. Das wäre keine gute Situation. Gerade deshalb sollten wir jetzt ein Energieembargo verhängen, um auf einen Frieden statt auf einen Waffenstillstand zu drängen.
Gerne sofort.
NUR: das hat keine einzige Auswirkung auf den Krieg, da Russland Erdöl und Benzin exportiert.
Die Armee hätte weiterhin genug Treibstoff.
ABER: Bohrlöcher kann man nicht einfach mal so schliessen. Die Lagerkapazitäten sind begrenzt, irgendwann mal muss man exportieren oder seine Förderung für Jahre stillegen.
Daher: Embargo.