Am 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, befahl Wladimir Putin 37 der reichsten Wirtschaftsführer des Landes in den Kreml. Dort liess er sie wie üblich zwei Stunden warten, Zeit genug, um ihr Schicksal zu beklagen: «Alle fühlten sich miserabel. Sie waren am Boden zerstört», sagte ein Teilnehmer gemäss der «Washington Post».
Einige hätten gesagt: «Wir haben alles verloren», heisst es in dem von Catherine Belton, der Autorin des Buchs «Putins Netz», mitverfassten Artikel. Als der Präsident jedoch erschien und erklärte, er habe keine andere Wahl gehabt als diese «militärische Spezialoperation», wagte niemand auch nur den Hauch eines Protests. Sie wollten wohl nicht so enden wie Michail Chodorkowski.
Der einst reichste Mann Russlands hatte seine Opposition gegen das «System Putin» mit zehn Jahren im Straflager teuer bezahlt. Seither galt für Russlands Oligarchen die Devise: «Ihr haltet euch raus aus der Politik, dafür dürft ihr euch ungehemmt bereichern.» Dieser Deal zwischen den Mächtigen in Politik und Wirtschaft hat lange funktioniert.
Mit dem Ukraine-Krieg und den heftigen Wirtschaftssanktionen des Westens wird er strapaziert wie nie zuvor. Auch Oligarchen wurden sanktioniert und Vermögenswerte von Dutzenden Milliarden Dollar eingefroren. «An einem Tag haben sie zerstört, was über viele Jahre aufgebaut wurde. Es ist eine Katastrophe», sagte ein Teilnehmer des Treffens.
Nach aussen gibt man sich gelassen. Der «Blitzkrieg» gegen die russische Wirtschaft sei offensichtlich gescheitert, sagte Putin Mitte April beim Besuch des Weltraumbahnhofs Wostotschny. Oberflächlich betrachtet trifft dies zu: Der Rubel hat sich stabilisiert, Russland verdient täglich Hunderte Millionen Dollar mit dem Öl- und Gasexport.
Die Aussichten für die nächsten Monate aber sind düster. Das zeigen diverse Indikatoren:
Nach Beginn des Krieges erhöhte die von den Sanktionen ebenfalls betroffene russische Zentralbank den Leitzins drastisch um 10,5 Prozent auf 20 Prozent. Damit konnte sie den Verfall des Rubelkurses stoppen. Seither aber hat sie den Zins auf 14 Prozent gesenkt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Dafür nimmt sie eine Inflation von rund 20 Prozent in Kauf.
Dennoch erwartet die Notenbank, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um 8 bis 10 Prozent schrumpfen wird, was einer scharfen Rezession entspricht. Die Lage sei «extrem unsicher», sagte Zentralbank-Chefin Elvira Nabiullina. Sie gilt als fähige Technokratin und wollte laut diversen Medien ihr Amt nach Kriegsbeginn niederlegen, doch Putin hinderte sie daran.
Letzte Woche stoppte die russische Regierung die Gasexporte nach Polen und Bulgarien. Das sorgte in der Europäischen Union für erhebliche Aufregung, doch wenn Putin die EU damit spalten wollte, sah er sich einmal mehr getäuscht. Sie weigert sich nach wie vor, die Gasrechnungen in Rubel zu bezahlen, wie von Russland gefordert.
Bereits ein erster Druckversuch des Kreml in dieser Sache war gescheitert. «Gas ist mittlerweile Putins wichtigste Quelle für Deviseneinnahmen», sagte der deutsche Ökonom Jens Südekum gegenüber T-Online. Darauf werde er vorerst nicht verzichten wollen, und die meisten Gaspipelines führen nach wie vor in Richtung Europa.
Die Europäer aber arbeiten intensiv daran, sich von dieser Abhängigkeit zu befreien, auch beim Öl. «Deutschland hat sich in unglaublichem Tempo von russischen Ölimporten befreit», anerkennt Südekum. Damit dürfte einem Ölembargo der EU nichts mehr im Weg stehen. In Brüssel wird derzeit ein entsprechendes sechstes Sanktionspaket vorbereitet.
Der produzierende Sektor in Russland ist häufig von Komponenten abhängig, die aus dem Westen importiert werden müssen und wegen den Sanktionen nicht mehr erhältlich sind. «Wir müssen uns auf einen schwierigen Strukturwandel einstellen», warnte Notenbank-Chefin Nabiullina: «Die Wirtschaft kann nicht ewig von Reserven leben».
Gleichzeitig will der Kreml ausländische Konzerne «bisweilen mit harten Drohungen» am Rückzug aus Russland hindern, berichtete der «Spiegel». Das Repertoire reicht demnach bis zu Besuchen des Geheimdienstes FSB. Dabei geht es nicht zuletzt um Arbeitsplätze. Mehreren 100’000 Russinnen und Russen droht der Verlust ihres Jobs und Einkommens.
Einige haben von sich aus die Konsequenzen gezogen. Bis zu 100’000 IT-Fachleute sollen seit Kriegsbeginn aus Russland emigriert sein. Ministerpräsident Michail Mischustin will sie mit hohen Löhnen und der Befreiung vom Militärdienst bei Laune halten, mit überschaubarem Erfolg. Dabei will sich Russland mit der IT-Branche von der Rohstoffabhängigkeit lösen.
Nicht alle Oligarchen wollen dieser Entwicklung tatenlos zuschauen. Es sind gemäss der «Washington Post» vor allem jene, die ihren Reichtum während der «wilden» Privatisierungen in den 1990er Jahren unter Präsident Boris Jelzin erworben hatten, die ihren Unmut über den Krieg und die Sanktionen trotz der Gefahr von Repressalien öffentlich äussern.
So warnte der Stahlmagnat Wladimir Lissin in der Zeitung «Kommersant», eine Ausweitung der Rubelzahlungen auf andere Rohstoffe und Produkte werde «uns aus den Weltmärkten werfen». Wladimir Potanin, Inhaber von Nornickel und derzeit wohl reichster Russe, meinte, die Enteignung ausländischer Vermögenswerte werde Russland bis zur Revolution von 1917 zurückwerfen.
Die breite Bevölkerung nimmt die Problematik kaum wahr. Sie werde von der staatlichen Propaganda-Maschinerie «eingelullt», sagte der Banker Sergej Pugatschow, der einst zu Putins innerem Kreis gehörte und seit 2011 im Exil lebt, der «Washington Post»: «Aber in drei Monaten werden den Läden und Fabriken die Vorräte ausgehen.»
Gleichzeitig dürfte das Ausmass der russischen Verluste im Krieg ersichtlich werden, meinte Pugatschow. Auf diesen Effekt setzt ein Geschäftsmann, der am Treffen im Kreml dabei war: «Es wird einen schweren Kampf um den Donbass geben, und wenn er nicht erfolgreich verläuft, wird es innerhalb Russlands zum grossen Kampf unter den Eliten kommen.»
Mit dem Sturz des Zaren.
Klar.
War die einzige Option das viel kleinere und ärmere Nachbarland zu zerbomben.