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Wird Europa wirtschaftlich abgehängt?

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Bild: shutterstock / watson
Analyse

Wird Europa bald ein riesiges Disneyland?

Amerikaner und Chinesen sind fleissiger und investieren mehr. Wird Europa wirtschaftlich abgehängt?
15.05.2024, 10:3415.05.2024, 12:48
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Die Deutschen sind zu faul, die Mittelmeerstaaten machen zu viele Schulden und alle sind zu alt. Die Klagen über eine wirtschaftliche Misere Europas gibt es derzeit im Dutzend billiger. Kritiker befürchten gar, dass der alte Kontinent immer mehr zu einem riesigen Vergnügungspark für Touristen aus den USA und Asien verkommt.

Zu den Kritikern gehört einmal mehr der französische Präsident. Europa stehe vor einer «tödlichen Bedrohung», erklärte Emmanuel Macron jüngst. Gemeint war dabei nicht nur die russische Aggression und der wachsende Populismus, sondern auch der wirtschaftliche Niedergang Europas.

FILE - French President Emmanuel Macron waits on the steps of the Elysee Palace, Monday, March 11, 2024 in Paris. On Friday, May 10, 2024, The Associated Press reported on stories circulating online i ...
Warnt einmal mehr: Emmanuel Macron.Bild: keystone

Tatsächlich sehen die Wirtschaftsdaten alles andere als erfreulich aus. Die amerikanische Wirtschaft hat sich weit besser von der Covid-Krise erholt und befindet sich nach dem ersten Quartal dieses Jahres bereits 8,7 Prozentpunkte über Vor-Pandemie-Stand. Davon können die Europäer bloss träumen. Auch die chinesische Wirtschaft scheint allmählich wieder Tritt zu fassen. In Indien bahnt sich derweil ein neues Wirtschaftswunder an.

Als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat Mario Draghi in den Zehnerjahren die europäische Wirtschaft mit seinem legendären Spruch «whatever it takes» vor dem Kollaps bewahrt. Jetzt soll er einmal mehr Retter in der Not spielen. Die EU hat ihn damit beauftragt, einen Bericht zu erstellen, wie die Wirtschaft wieder international wettbewerbsfähig werden kann. Einige wünschen sich gar, dass Draghi Ursula von der Leyen an der Spitze der EU-Kommission ablöst.

Der Grund für die europäische Wirtschaftsmisere liegt in den Augen der Ökonomen – zumindest bei den Anhängern der klassischen Schule des Liberalismus – bei den üblichen Verdächtigen. So erklärt der Chef des norwegischen Staatsfonds, es sei «Besorgnis erregend», dass die Amerikaner deutlich mehr arbeiten würden und die Unternehmen weit weniger reguliert seien.

Tatsächlich haben Amerikaner und Europäer eine andere Vorstellung der Work-Life-Balance. Die Europäer arbeiten durchschnittlich deutlich weniger, ein Trend, der durch die Pandemie noch verstärkt wurde. Die Tatsache, dass die Überalterung auf dem alten Kontinent ebenfalls deutlich fortgeschrittener ist als auf der anderen Seite des Atlantiks, macht die Sache nicht wirklich besser.

Europa investiert zu wenig

Vor allem aber investieren die Amerikaner deutlich mehr als ihre europäischen Konkurrenten. EU-Wirtschaftskommissär Paolo Gentiloni erklärt denn auch gegenüber der «Financial Times»: «Der Skandal für Europa liegt nicht im schwachen Wachstum, daran haben wir uns leider gewöhnt. Das Problem liegt darin, dass wir es nicht zustande bringen, ein ausreichendes Mass an Investitionen aufrechtzuerhalten.»

Vor allem bezüglich der Digitalisierung in der Zukunftstechnologie Künstliche Intelligenz droht Europa, den Anschluss zu verlieren. Die Post geht dort im Silicon Valley und auf Taiwan ab. Isabel Schnabel, Mitglied der Geschäftsleitung der EZB, sieht darin den Grund, weshalb Europa bezüglich des Wachstums der Produktivität rund 20 Prozent auf die USA verloren hat. «Das Wissen ist zwar vorhanden», erklärt sie gegenüber der «Financial Times». «Doch nur wenige Unternehmen machen davon auch Gebrauch.»

Schnabel räumt in diesem Zusammenhang auch mit dem Mythos der mittelständischen Unternehmen auf. Im Zeitalter der Digitalisierung seien KMU zu klein, um mit dem technischen Fortschritt mithalten zu können, sagt sie. «Grosse Unternehmen investieren mehr und sind produktiver.»

Führt man sich die viel zitierten «Magnificent Seven» vor Augen, dann wird ersichtlich, was Schnabel meint. Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla haben im vergangenen Jahr rund 200 Milliarden Dollar in die Forschung investiert, mehr als die Hälfte der Summe aller europäischen Unternehmen, und zwar der privaten und der öffentlichen.

Die liberale Weltwirtschafts-Ordnung ist in Gefahr

Auch geopolitisch steht Europa im Gegenwind. So hat die Biden-Regierung am Dienstag entschieden, chinesische Elektroautos mit einem Importzoll von 100 Prozent zu belasten. Es ist ein weiterer Höhepunkt in dem schon seit Jahren schwelenden weltweiten Handelskrieg. Der «Economist» befürchtet gar, die liberale Weltwirtschaft könnte wie in den Dreissigerjahren zusammenkrachen, und warnt vor einer «neuen Weltwirtschaftsordnung».

Der «Economist» sieht die liberale Wirtschaftsordnung, die seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden ist, in Gefahr und nennt dafür drei Ursachen: die Ausbreitung von Strafmassnahmen der verschiedensten Art, der neue Trend nach einer Industriepolitik und den Zerfall der globalen Institutionen. Tatsächlich werden die Zollschranken, die seit den Achtzigerjahren sukzessiv abgebaut worden sind, vielerorts wieder hochgezogen. Die Tatsache, dass China den Export von Gütern, und zwar von Hightech-Gütern, intensiveren will, dürfte diesen Trend noch verstärken. Sollte Donald Trump wieder ins Weisse Haus einziehen, dürfte sich ein offener Handelskrieg kaum mehr vermeiden lassen. Der Ex-Präsident ist ein bekennender Zoll-Fan und will alle Importe mit einem Strafzoll von 10 Prozent belegen.

Joe Biden hat nicht nur die Zölle seines Vorgängers übernommen, er hat auch den Trend zu einer vermehrten Industriepolitik verstärkt. Sein Green New Deal ist zwar weniger kräftig ausgefallen als erhofft. Trotzdem war er der Startschuss für eine Wirtschaftspolitik, in der der Staat vermehrt eingreift, indem er bestimmte Branchen unterstützt, vor allem wenn es sich um Chips, Batterien und erneuerbare Energie handelt.

Das typische Beispiel für den Zerfall der globalen Institutionen ist die Welthandelsorganisation WTO. Seit rund fünf Jahre ist sie de facto lahmgelegt, weil sich die Teilnehmer nicht mehr über ihre Kompetenzen einigen können. Auch der Internationale Währungsfonds hat schon bessere Tage gesehen. Im Zeitalter des Multilateralismus leidet der einst mächtige Weltwirtschafts-Polizist unter der Konkurrenz aus Asien und dem schlechten Image aus der «Washington-Konsensus-Zeit».

Kein Zweifel, Macron hat recht. Europa steht vor grossen Herausforderungen. Recht hat aber auch Isabel Schnabel, die vor einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung warnt. «Angesichts der gewaltigen Schocks, die wir in Europa erlitten haben, ist die wirtschaftliche Performance nicht so schlecht, wie viele befürchtet haben. Wir sollten aufhören, uns selbst ins Elend zu reden.»

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142 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Swen Goldpreis
15.05.2024 10:17registriert April 2019
Das scheint mir ein bisschen arg viel populitisches Gelabber vom Untergang Europas zu sein. Schade, dass Herr Löpfe da mitmacht.

Die Frage ist doch letztlich, was die Wirtschaftsdaten für die Menschen bedeutet. Was nützen mir tolle Statistiken, was nützen mir an der Börse hoch bewertete Firmen, wenn ich unter miesen Bedingungen arbeiten muss wie bei Amazon oder Shein?

Ganz ehrlich: Ich habe lange in China gelebt und die digitale Zukunft, die es dort gibt, finde ich eher erschreckend als erstrebenswert. Was nützen mir vollautomatische Läden ohne Service-Personal? Da ist mir ein Coop lieber.
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Julian2001
15.05.2024 10:51registriert Februar 2017
Ja klar, alles liberalisieren, alle Arbeitsrechte abschaffen, arbeiten bis mindestens 70, eine 50 Stunden-Woche einführen, alle KMUs Konkurs gehen lassen und dann alles privatisieren. Der feuchte Traum von Mario Draghi, FDP und co. Davon werden wir sicherlich alle profitieren, nicht bloss die reichen Grossunternehmen und Shareholder, die Herr Draghi bezahlen um das zu behaupten. #IronieOff
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P. Etter
15.05.2024 10:13registriert Dezember 2021
Der Vergleich zu Amerika und China hinkt ein wenig. China arbeitet mit immensen inflationären Staatsaufträgen auch ausserhalb des Landes (jedoch mit chinesischen Firmen), während die USA 2 Billionen Dollar Schulden, die Instandstellung der Infrastruktur subventioniert. Natürlich gibt es so Arbeit und wirtschaftlich gesehen brummt es so.
Das kann langfristig gesehen aber ein Bumerang werden, wenn man die Kurve nicht kriegt.
Nichtsdestotrotz wird tatsächlich viel zu wenig in europäische Wirtschaftsmotoren investiert. im Gegenteil: es werden Kosten gespart.
gezielte Besteuerung wäre eine Option.
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    Macron lobbyiert für einen französischen Papst – und sorgt für Riesenstreit
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versucht, in Rom auf die Papstwahl Einfluss zu nehmen und den weltoffenen Kardinal von Marseille als Nachfolger von Franziskus ins Spiel zu portieren. Das konservative Meloni-Lager ist aufgebracht.

    Die konservative Presse Italiens ist ausser sich. «Macron will den Papst auswählen», schreibt «La Verità» auf ihrer Frontseite. «Macron nistet sich im Konklave ein», doppelt «Libero» nach. Und «Il Tempo» unterstellt dem französischen Präsidenten einen «Interventionismus, der eines Sonnenkönigs würdig ist».

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