In den zwei Jahren nach dem Einmarsch von Wladimir Putin in die Ukraine hat die russische Wirtschaft wiederholt den Unkenrufen getrotzt. Ein finanzieller Zusammenbruch, der im Frühjahr 2022 allgemein vorausgesagt wurde, ist bisher nicht eingetreten.
Das zeigen gerade die wichtigsten Wirtschaftszahlen: Die Arbeitslosigkeit ist unter 3 Prozent gefallen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war 2023 mit 3,6 höher als erwartet, die Unternehmenskonkurse im Vergleich extrem tief.
Gemäss diesen Zahlen gibt es keine Anzeichen dafür, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland greifen und dass der Wirtschaftsmotor in nächster Zeit ins Stocken gerät. Im Gegenteil: Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass Russlands Wirtschaft in diesem Jahr stärker wachsen wird als die Wirtschaft in vielen Industrieländern.
Trotzdem scheint sich eine Mehrzahl von Expertinnen und Ökonomen einig zu sein: 2025 ist Schluss damit. Wer das jetzt sagt und warum.
Mitte April hat der IWF die Wachstumsprognose für Russland erneut nach oben korrigiert. In seinem neusten «Weltwirtschaftsausblick» geht der Internationale Währungsfonds für das laufende Jahr von einem Wachstum von 3,2 Prozent aus. Gegenüber den im Oktober prognostizierten 1,1 Prozent sowie den zuletzt im Februar vorausgesagten 2,6 Prozent ist dies eine deutliche Korrektur nach oben.
Dazu haben auch der hohe Ölpreis sowie die Aufrechterhaltung der russischen Öl-Exporte beigetragen. So schreibt der IWF:
2024 könnte der Ölpreis zudem noch weiter steigen, da eine weitere Eskalation im Nahen Osten nicht auszuschliessen ist.
Gleichzeitig gehen die Ökonomen aber von einem deutlichen Abflachen des Wachstums ab 2025 aus. Der Grund: Der Effekt der hohen staatlichen Investitionen, vor allem in die Rüstungsindustrie, wird im nächsten Jahr wahrscheinlich abflachen. Die Ökonomen sehen die Investitionen in militärische Produktionsstätten als Hauptgrund für das derzeit noch steigende BIP.
Ähnlich sieht das die Weltbank, für die ebenfalls die staatlichen Investitionen die Haupttreiber für das Wachstum sind. In ihrem neuesten Bericht bilanziert sie für die russische Wirtschaft im vergangenen Jahr:
Mit anderen Worten: Die starken Wachstumszahlen täuschen darüber hinweg, dass sie primär das Resultat von gestiegenen Staatsausgaben sind. Diese sind vor allem in Form von Aufträgen an Industriefirmen gegangen, die direkt oder indirekt mit der Rüstungsindustrie zu tun haben. Um dies zu finanzieren, greift die russische Regierung auf ihren riesigen Nationalen Wohlfahrtsfonds zurück: Die sich darin befindenden liquiden Mittel haben sich zwischen Beginn des Krieges und Ende 2023 fast halbiert.
Der russische Ökonom Igor Lipsiz fasst in einem Interview die Lage denn auch so zusammen:
Auch die Weltbank geht in ihrer Analyse davon aus, dass der Effekt der hohen Staatsausgaben ab 2025 verpuffen könnte.
Die ehemalige Beraterin der russischen Zentralbank, Alexandra Prokopenko, verliess ihren Arbeitgeber 2022 aus Protest gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine. Gegenüber dem «Spiegel» sagt die Ökonomin zwar, die Wachstumszahlen entsprächen der Realität weitgehend. Gleichzeitig sieht sie ein grosses Problem auf die russische Wirtschaft zukommen: eine Überhitzung.
«Die Wirtschaft ist schneller gewachsen, als es ihr Potenzial eigentlich erlaubt. Der Arbeitsmarkt ist am Limit, so gut wie leer gefegt», so Prokopenko. Tatsächlich bewegt sich die Arbeitslosigkeit auf einem historisch tiefen Niveau. Viele gut ausgebildete Russinnen und Russen haben ihr Heimatland seit Beginn des Kriegs verlassen – schätzungsweise bis zu einer halben Million Menschen. Zudem sind viele Arbeitsmigranten wieder abgewandert.
Prokopenko sagt: «Es ist eine ungesunde Lage, und die russische Wirtschaft verfügt nicht über die notwendigen Ressourcen, um dauerhaft so schnell zu expandieren.» Dieser Umstand führe bereits jetzt immer wieder zu Lieferengpässen oder branchenspezifischen Krisen. Kurzfristig sei das kein Problem, sagt die Russin zwar, und meint damit die nächsten 12 bis 18 Monate. Aber: «Mittel- bis langfristig ist diese Entwicklung nicht nachhaltig.»
Ein Zeichen der Überhitzung ist auch die Inflation in Russland, welche die Zentralbank versucht, mit immer höheren Leitzinsen in Schach zu halten. Im Februar und März verharrte der Preisanstieg auf relativ hohen 7,7 Prozent. Aber steigende Löhne aufgrund des Fachkräftemangels halten den Druck hoch.
Zurzeit finanziert Russland seinen Krieg also primär über seinen Nationalen Wohlfahrtsfonds sowie über die Öl- und Gasexporte. Während der Wohlfahrtsfonds immer weiter schrumpft, sind aber auch die Einnahmen aus Öl- und Gasverkäufen alles andere als gesichert.
2022 führte die Entscheidung Russlands, den Grossteil seiner Gaslieferungen an die EU einzustellen, zu einem Preisanstieg, von dem Russland zunächst finanziell profitierte. Zwei Jahre später sind die europäischen Gasreserven aufgrund milder Winter und vermehrter Importe von Flüssigerdgas (LNG) aus Amerika jedoch voller denn je. Und das bringt den staatlichen russischen Gasriesen Gazprom in finanzielle Schwierigkeiten: Erstmals seit fast einem Vierteljahrhundert hat Gazprom 2023 nämlich rote Zahlen geschrieben. Der Nettoverlust für das zweite Kriegsjahr 2023 belief sich auf rund 629 Milliarden Rubel.
Für die Finanzierung seiner Kriegswirtschaft muss Russland einen Weg finden, den mengenmässigen Rückgang insbesondere seiner Gasexporte zu kompensieren. Das Problem: Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich das Land zunehmend von ein paar wenigen Ländern – hauptsächlich aber von China – abhängig gemacht. Das gilt für die gesamte russische Wirtschaft, aber eben auch für den Gassektor.
Gemäss dem britischen «Economist» wird es Russland nicht gelingen, die Verluste aufzufangen. Einerseits, weil die Verhandlungen mit China schwierig sind: Russland sitzt am kürzeren Hebel, da China die grössere Auswahl von Verhandlungspartnern hat und sehr bedacht ist, seine Gas-Importe nicht nur von einem Partner abhängig zu machen. Russland hingegen habe keine andere Wahl, als voll auf Chinas Gas-Importe zu setzen, so der «Economist». Zum anderen sind wichtige Verhandlungen kürzlich ins Stocken geraten, da noch immer Unstimmigkeiten über entscheidende Vertragsbedingungen bestehen, von der Finanzierung bis zum Gaspreis.
Der «Economist» bilanziert deswegen:
Auch Russland kann kein Perpetuum Mobile basteln.
Viel schlimmer für Russland ist, dass es Jahre, Jahrzehnte braucht, wenn der Krieg vorbei ist, um wirtschaftlich nur wieder dort zu stehen wo vor dem Krieg. Politische, gesellschaftliche Isolation und eine verlorene Generation gar nicht mitgerechnet.
Russland verheizt nicht nur Kriegsmaterial und Soldaten in der Ukraine sondern auch seine Zukunft.
In jedem normalen Land würde das zur Revolution führen. Aber die Russen finden das ganz tiptop, dass ihre Altersvorsorge sinnlos verbraten wird.