Frau Picaud, Sie wollten uns treffen, um für die vier Schweizer Ruderer zu werben, die demnächst einen Rekordversuch bei der Atlantiküberquerung starten wollen. Es kommt selten vor, dass sich ein CEO so persönlich und direkt für ein Sponsoring-Projekt engagiert. Was ist Ihr Motiv?
Géraldine Picaud: SGS unterstützt die Protagonisten von 44 West, weil sie ein sehr mutiges und leistungsbereites Team sind. So wie diese Ruderer wollen SGS und ich selbst sein.
Sie sind aber keine Abenteurerin. Sie wurden Anfang 2024 CEO von SGS, um ein träges Grossunternehmen zu restrukturieren.
Ich mag es nicht, wenn man meine Arbeit auf das Restrukturieren reduziert. Ich habe drei Aufgaben: Erstens das Wachstum beschleunigen, zweitens die Beweglichkeit und die Leistung der Firma verbessern und drittens, das Finanzprofil des Konzerns zu stärken. Unsere neue Strategie adressiert diese Themen. Mit der Umsetzung derselben ist auch eine Mentalitätsänderung im Unternehmen spürbar geworden.
Ihre Vorgänger haben über Jahre hinweg zu viel Dividenden ausgeschüttet und Schulden angehäuft. Management, Verwaltungsrat, Aktionäre, alle lebten über ihren Verhältnissen.
Über meine Vorgänger will ich nicht reden. Aber es ist Unsinn, wenn ein Unternehmen mehr Dividenden ausschüttet, als es verdient. Wir bieten unseren Aktionären nun die Wahl, ob sie die Dividende in Aktien oder in Bar erhalten wollen. Das trägt zur Stärkung unserer Bilanz bei.
Sie wollten SGS mit ihrem grössten Konkurrenten, dem französischen Bureau Veritas, verheiraten. Warum?
Unser Markt ist sehr fragmentiert. Es gibt eine Konsolidierung im Markt, und es ist meine Aufgabe, dass ich für SGS alle Möglichkeiten prüfe – auch den potenziellen Zusammenschluss mit Bureau Veritas. Zusammen wären wir auf einen Marktanteil von nur 9 Prozent gekommen.
An der Börse kam das Projekt nicht gut an. Hätten Sie es nicht besser bleiben lassen?
Nein! Die Investoren hätten uns doch eher früher als später gefragt, ob wir eigentlich schlafen und überhaupt wissen, was im Markt passiert. Aber ja, die Börse hat negativ reagiert. Ich glaube, der Finanzmarkt sieht grosse Transaktionen generell skeptisch. Man hat Angst, dass das Management zu stark abgelenkt wird und sich nicht mehr genügend um das Geschäft und die Kunden kümmert. Ich höre das Argument und kann es verstehen.
Aber?
Für unsere Kunden hätte ein Zusammenschluss Vorteile bringen können. Als grösseres Unternehmen hat man mehr Ressourcen für alles, auch für die Erfüllung der Kundenbedürfnisse und für Innovation. Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Fusion mit Bureau Veritas auch den Kunden einen Nutzen gebracht hätte.
Sie werden im November den Hauptsitz von SGS von Genf nach Zug verlegen. Haben Sie auch die Möglichkeit einer Sitzverlagerung ins Ausland geprüft?
Nein. SGS ist eine Schweizer Firma und das wollen wir auch mit der Standortwahl unterstreichen.
Das könnten Sie mit Genf vielleicht besser als mit Zug. Genf ist ja sozusagen die Neutralitätshauptstadt der Schweiz und SGS ist mit ihrem Geschäft als neutrale Mittlerin zwischen Handelspartnern doch gut aufgehoben dort.
Ihr Argument war ein Element in der Standortauswahl, aber eben nicht das einzige. SGS hat 1915 mit der Verlagerung des Sitzes von Rouen in Frankreich nach Genf von der Neutralität aber auch von der Globalität der Schweiz und ihrer Unternehmen profitiert. Das ist eine Stärke der Schweiz, die zu uns passt, ebenso wie auch die hier gelebte Zuverlässigkeit. Deshalb ist auch die Identität von SGS sehr schweizerisch. Diesbezüglich machen wir keine Kompromisse und werden es nie tun.
SGS entstand im 19. Jahrhundert aus dem transatlantischen Handel mit Weizen. Sie haben in den Häfen Qualität und Mengen der Lieferungen überprüft und so beim Käufer die Zahlung ausgelöst. Worin besteht heutzutage das Hauptgeschäft von SGS?
Wir betreiben noch immer Geschäfte mit Landwirtschaftserzeugnissen, aber auch mit Erzen und anderen Rohstoffen. Hauptsächlich arbeiten wir heutzutage aber in Labors und testen dort Waren, die gehandelt werden sollen. Wir testen Spielzeuge, Textilien, aber auch Lebensmittel und Medikamente. Wir machen neutrale Bodenproben, wenn es zum Beispiel um ein internationales Immobiliengeschäft geht. Unser Geschäft hat sich mit der Globalisierung stark verändert.
Seit 10 oder 15 Jahren wächst das Volumen des globalen Güterhandels nur noch schwach. Welche Zukunft hat SGS in dieser zunehmend protektionistischen Welt?
Wir sind in den vergangenen 10 Jahren tatsächlich zu wenig vorangekommen. Aber nicht wegen der geringeren Dynamik im Welthandel.
Was war denn der wahre Grund für die Stagnation?
Wir waren viel zu kompliziert aufgestellt. Die Verantwortlichkeiten zwischen den Geografien und den Geschäftssparten waren unscharf. Es gab ein 20-köpfiges Führungskomitee unterhalb des CEO, das mitentscheiden sollte. Im Rahmen unserer Strategie haben wir das alles geändert und klare Verantwortlichkeiten geschaffen.
Und jetzt?
Ich bin Anfang 2024 gekommen und habe Wachstum versprochen. 2024 sind wir gewachsen und zwar in Franken, obwohl wir den grössten Teil unseres Umsatzes in Währungen machen, die sich im Vergleich zum Franken abwerten. Wachsen in Franken ist nicht einfach, aber es ist unser Ziel. Wie versprochen, haben wir auch die Akquisitionsmaschine wieder angeworfen. Wir haben im Juli die Übernahme der amerikanischen ATS im Wert von 1,3 Milliarden Dollar angekündigt, die grösste Akquisition in unserer Geschichte.
Womit wächst SGS, wenn nicht mit dem Welthandel?
Zu unseren Wachstumstreibern gehört zum Beispiel der weltweite Trend, dass die Konsumenten mehr Nachhaltigkeit fordern. Die Leute wollen sicher sein, dass das, was sie essen, tragen oder sonst zum Leben benötigen, ihren Ansprüchen genügt. Auch die Digitalisierung verschafft uns Wachstum. Es entstehen laufend neue Standards, Vorschriften und Gesetze. SGS hilft, deren Einhaltung zu kontrollieren. Ein weiterer Wachstumstreiber ist die Veränderung der globalen Lieferketten, etwa durch Nearshoring.
Von Wachstum ist im Aktienkurs aber noch nichts zu sehen.
Ja, es ist zwar besser als Anfang 2024, aber leider sieht man da noch nicht sehr viel von unserer Arbeit. Ich muss zugeben, dass mich das auch etwas enttäuscht.
Sie sind eine der wenigen Frauen in der Schweiz, die es in einem Grossunternehmen zum CEO gebracht haben. In ihrem Heimatland Frankreich gibt es mehr weibliche CEO. Warum ist das so?
Schwierige Frage. Ich wurde vor etwa 15 Jahren Finanzchefin von Essilor. Ich glaube, wir waren vier Frauen in dieser Funktion in den 40 Unternehmen im französischen Leitindex. Als ich 2018 Finanzchefin von Holcim wurde, gab es, soweit ich weiss, keine andere Frau in dieser Rolle in einem der 20 Unternehmen des Swiss-Market-Index.
Man hört oft, dass Frauenkarrieren durch Kinder verhindert werden.
Ich habe meine Karriere mit drei Kindern gemacht. Ich war von 2007 bis 2011 Finanzchefin bei Volcafé in Winterthur. Als ich in die Schweiz kam, waren meine Kinder 3, 7 und 11 Jahre alt. Ich war schon damals beruflich viel unterwegs und musste mich hier um die komplizierten, unterschiedlich langen Schul- und Betreuungszeiten herum organisieren. Mein Leben als Mutter und Finanzchefin einer grossen Firma wurde in der Schweiz etwas komplizierter. Aber meine Kinder haben hier eine super Schulzeit absolviert.
Wie hatten Sie sich in ihren ersten Jahren in der Schweiz organisiert?
Zum Glück kam ab und zu meine Mutter vorbei. Auch mein Mann hat mir viel geholfen. Seine Arbeitszeiten waren viel flexibler als meine. Trotzdem musste ich für die private Betreuung der Kinder und für den Haushalt professionelle Hilfe holen. Sie hat mich einen guten Teil meines Salärs gekostet. Aber es war eben meine Wahl. Ich wollte einfach beides haben, eine Familie und eine Karriere.
Wurden Sie in Ihrem Karriereplan innerhalb der Familie eher bestärkt oder eher gebremst?
Ich wurde bestärkt. Als ich ein Angebot für eine Stelle in New York hatte und mit meinem zweiten Kind schwanger war, rief ich meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass ich nicht nach New York gehen könne. Ans Telefon kam dann aber mein Vater, und er merkte sofort, dass ich enttäuscht war, das Jobangebot ablehnen zu müssen. Er sagte: Seit wann muss eine Frau zwischen Beruf und Familie entscheiden? Du kannst beiden machen. Danach sagte ich zu.
Ihre Kinder sind inzwischen erwachsen. Wie gehen Sie als CEO nun mit dem Thema Familie, Kinder und Karriere um?
Frauen, die Karriere und Familie vereinen wollen, müssen bereit sein, während 10 oder 15 Jahren ein grosses finanzielles Opfer zu erbringen. Ich ermutige unsere Frauen neben der Karriere auch eine Familie zu gründen. Und ich kann ihnen sagen: Wir entscheiden uns bei Neuanstellungen zwar immer für die am besten geeignete Person, egal ob Frau oder Mann. Aber es gibt bei uns kein Auswahlverfahren mehr, in dem nicht mindestens eine Frau beteiligt ist. Denn es gibt keinen Job, den eine Frau nicht ebenso gut machen kann wie ein Mann.
Warum nur Frauen?
Klingt irgendwie nicht so erstrebenswert in meinen Ohren...