In der Schweiz zwitschern die Vögel eine Melodie von den Hausdächern, an die sich niemand gerne erinnert. Nur gut ein Jahr nachdem die Schweizerische Nationalbank (SNB) – nach sieben langen Jahren – das Negativzinsregime endlich für beendet erklären konnte, sind die Konturen dieses ökonomischen Unwesens am Horizont bereits wieder erkennbar.
Es gilt als ausgemacht, dass die Frankenwächter den Leitzins im Dezember zum vierten Mal im laufenden Jahr um einen Viertel Prozentpunkt auf 0,75 Prozent senken werden. Und weitere Schritte sind auf den Zinsmärkten längst eingepreist.
So sind etwa Hypotheken mit Laufzeiten von um die fünf Jahren jetzt für nur wenig mehr als 1,5 Prozent zu haben. So billig waren solche Kredite letztmals im Frühjahr 2022. Es ist gut möglich, dass der Preis für solche Festhypotheken weiter fällt, wenn sich die allgemeine Erwartung einer Rückkehr zum Negativzinsregime verfestigt. Die Untergrenze liegt mit Blick auf die früheren Erfahrungen bei etwa 1 Prozent.
Am Freitag sagte Nationalbank-Chef Martin Schlegel an der Universität Zürich auf einer öffentlichen Konferenz zur Geldpolitik: «Niemand mag Negativzinsen, auch wir nicht. Aber wenn es nötig ist, sind wir bereit, das Instrument wieder einzusetzen.» Solche Ansagen macht kein Währungshüter ohne Absicht, erst recht nicht ein Frankenhüter. Bei der Nationalbank gelten Aussagen, die darauf abzielen, die Erwartungen über einen Horizont von Monaten oder länger zu beeinflussen, eigentlich als verpönt.
Aber genau das machte Schlegel mit seinem Vortrag, in dem er den vielen auch aus dem Ausland angereisten Ökonomen im Saal erklärte, was diese im Prinzip schon lange wissen: In Zeiten wirtschaftlicher Krisen und Verwerfung ist der Schweizer Franken eine überaus beliebte Fluchtwährung. Das ist ein zweischneidiges Schwert.
Zwar macht der starke Franken Importe billiger, was natürlich jeder benzintankende Autofahrer oder jede heizölverbrennende Eigenheimbesitzerin feiert. Aber in der kleinen Schweiz, die viel exportiert und fast ebenso viel importiert, kann die Aufwertung des Franken zu einem allzu starken Rückgang der Preise führen.
Darum, so Schlegel, sei es besser für die Schweiz, wenn sie die Preisstabilität im Unterschied zu anderen Notenbanken als bewegliches Ziel mit Inflationsraten irgendwo zwischen 0 und 2 Prozent definiere. So müsse die Nationalbank nicht öfter als unbedingt nötig an der Leitzinsschraube drehen oder auf dem Devisenmarkt gegen oder für den Franken intervenieren.
Das bewegliche Inflationsziel sei hilfreich, die deflatorischen Kräfte im Zaum zu halten. Deren Gefahr besteht darin, dass sie sich verselbstständigen und zum Beispiel Unternehmer und Konsumenten dazu verleiten, ihre Investitionen in der Erwartung fallender Preise von heute auf morgen und übermorgen verschieben. So kommt das Wirtschaftswachstum zum Erliegen.
Es war kein Zufall, dass Schlegels Theorievorlesung exakt ins aktuelle Umfeld passt. In der deutschen Grossindustrie sind Massentlassungen bald an der Tagesordnung, und auch in anderen grossen Euro-Ländern, allen voran in Frankreich, sind das Geschäftsklima und die Stimmung in der Industrie am Boden. Was, wenn die Inflation in der Eurozone plötzlich wie ein Stein zu fallen beginnt? Was, wenn auch die Teuerungsraten in der Schweiz bald wieder steil in negatives Territorium zurückfallen?
Die Frage drängt. Bald werden die jüngsten und die noch folgenden Leitzinssenkungen der SNB auch die Mieten wieder zum Sinken bringen. Ohne den verzögerten Rückgang des hypothekarischen Referenzzinssatzes, dessen Veränderungen den Ausschlag für Mietanpassungen geben, wäre die Inflation in der Schweiz wohl schon jetzt unterhalb jener 0,5 Prozent, welche die Notenbank für das zweite Quartal 2025 voraussagt. Noch liegt sie im Jahresmittel bei über einem Prozent.
Schnelles Handeln ist die Devise der Nationalbank: Damals, im Frühjahr 2022, reagierte sie rascher als andere Notenbanken auf die Rückkehr der Inflation und gewann so das Vertrauen, um im vergangenen März wieder als erste Bank den Leitzins zu senken. «Werden Sie diese Politik der schnellen Leitzinssenkungen auch jetzt beibehalten, wenn es darum geht, einen unvermittelt steilen Rückgang der Teuerung abzubremsen», wollte am Freitag die Chefökonomin einer britischen Investmentfirma wissen. Profi-Investoren, aber auch Hauseigentümer, die gerade eine Hypothek erneuern müssen, können mit der richtigen Antwort auf die Frage schnell viel Geld verdienen.
Unter der (plausiblen) Annahme, dass sich das Konjunkturklima in Europa rasch weiter verschlechtern wird, gibt es mehrere Argumente, die für eine rasche Rückkehr des Leitzinses an die Nulllinie und darunter sprechen. Zwei davon fanden auch an der besagten Konferenz Erwähnung:
Erstens sind Leitzinssenkungen das Hauptinstrument jeder Notenbank. Wer davon ausgeht, dass die Nationalbank bemüht sein könnte, die negative Preisentwicklung zuerst über den Wechselkurs zu bremsen, indem sie mit Devisenkäufen den Franken schwächt, könnte sich täuschen. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, dass die Wirkung von Devisenmarktinterventionen dann am stärksten ist, wenn die Möglichkeiten beim Leitzins ausgeschöpft sind. Entsprechende Bemerkungen waren schon im Sommer von SNB-Vize Antoine Martin zu vernehmen.
Zweitens zeigte Marc Giannoni, Chefökonom von Barclays, auf, dass die Inflationsprognosen der Nationalbank schon seit längerer Zeit der Realität hinterherhinken. Quartal für Quartal muss die SNB feststellen, dass die (um Sondereffekte wie die besagten Mieten) bereinigte Teuerung schneller fällt, als die Leitzinsen sinken. Diese Differenz führt dazu, dass die (inflationsbereinigten) Realzinsen tendenziell steigen, obschon sie im derzeit eher rezessiven Konjunkturklima sinken und die negative Preisentwicklung stimulieren müsste. Die Nationalbank ist offensichtlich dabei, das Land auf ein Comeback der Negativzinsen vorzubereiten. Martin Schlegel hätte sich wohl eine dankbarere erste grosse Aufgabe gewünscht.
Die Mietzinse sind auch in den vergangenen Jahren mit negativen Zinsen gestiegen. Warum sollten sie jetzt plötzlich sinken?