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«Der Staat hat bei der Festsetzung von Löhnen nichts verloren» – «Der Mindestlohn ist wie Zähneputzen»

Mindestlohn-Duell: Bankier Oswald Grübel (l.) diskutiert mit watson-Autor Philipp Löpfe.
Mindestlohn-Duell: Bankier Oswald Grübel (l.) diskutiert mit watson-Autor Philipp Löpfe.Bild: watson
Grübel vs. Löpfe

«Der Staat hat bei der Festsetzung von Löhnen nichts verloren» – «Der Mindestlohn ist wie Zähneputzen»

Soll in der Schweiz ein Mindestlohn gelten? Hat der Staat etwas zu den Löhnen zu sagen? Und wie schädlich ist eine Lohnuntergrenze für die Wirtschaft? watson-Autor Philipp Löpfe hat Wirtschafts-Schwergewicht Oswald Grübel zu einem Streitgespräch empfangen. 
19.04.2014, 16:0226.10.2015, 11:41
Gelöschter Benutzer
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Am 18. Mai stimmen wir über die Mindestlohn-Initiative ab. Heute verdienen in der Schweiz 330’000 Arbeitnehmer weniger als 4000 Franken im Monat. Herr Grübel, finden Sie das gerecht?
Oswald Grübel: Die Frage, was ein gerechter Lohn ist, kann mit einem Mindestlohn nicht geklärt werden. Ich bin dafür, dass jeder soviel verdient, wie nur möglich. Aber es kann nicht sein, dass ein Mindestlohn vom Staat festgesetzt wird. Zudem muss ich korrigieren: Von den 330’000 Arbeitnehmern, die weniger als 4000 Franken im Monat verdienen, sind nur 250’000 Vollzeit angestellt. 

Herr Löpfe, geht es beim Mindestlohn um die soziale Gerechtigkeit in der Schweiz? 
Philipp Löpfe:
 Nein, es geht tatsächlich nicht um die Frage, was gerecht ist oder nicht, sondern darum, dass wir in der Schweiz bereits einen Mindestlohn haben. De facto zahlen sehr viele Arbeitgeber schon Löhne, die ganz nahe am geforderten Mindestlohn sind. «Schuld» daran sind die beiden Grossverteiler Migros und Coop, die heute schon Mindestlöhne im Bereich von 4000 Franken zahlen. Es macht also kaum einen Unterschied, ob wir jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn einführen oder nicht. 

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Bild: watson
«Wenn ein paar Beizen eingehen oder eine Schuhhauskette, die meint, sie müsse ihren Angestellten nur 3000 Franken bezahlen, dann kann unsere Wirtschaft das verkraften.»
Philipp Löpfe

Warum plädieren Sie dennoch für die Einführung eines Mindestlohns? 
Löpfe:
Damit wir klare Spielregeln haben, an die sich alle halten müssen. Ich begreife nicht, warum die Aufregung um den Mindestlohn in der Schweizer Wirtschaft so gross ist. Er ist für die Schweiz keine Revolution und für die Wirtschaft keine Belastung. Wenn ein paar Beizen eingehen oder eine Schuhhauskette, die meint, sie müsse ihren Angestellten nur 3000 Franken bezahlen, dann kann unsere Wirtschaft das verkraften.

Grübel: Ich habe keine Angst vor dem Mindestlohn. Ich bin einfach entschieden dagegen, dass der Staat dort eingreifen soll, wo er nichts verloren hat. Wie gesagt, ich bin dafür, dass jeder so viel wie möglich verdienen kann. Der freie Markt ist aber für die Festsetzung der Löhne meiner Ansicht nach besser geeignet: Er offeriert auch den Leuten einen Job, die weniger verdienen als einen Mindestlohn.

Löpfe: Es geht nicht darum, mit dem Mindestlohn den freien Markt abzuschaffen, sondern klare Spielregeln für den freien Markt zu formulieren. Sonst werden immer wieder Angestellte ausgebeutet. Für alle sollen die gleichen Spielregeln gelten. 

Grübel: Der Markt funktioniert besser ohne staatlichen Lohneingriff. Ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn wird Arbeitsplätze kosten, besonders in kleineren Unternehmen mit geringen Gewinnmargen, und in den Randregionen der Schweiz, wo die Löhne nicht so hoch sind wie in Zürich. Solche Firmen werden sich künftig einfach mit weniger Arbeitnehmern zufrieden geben. So funktioniert die Wirtschaft. 

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Oswald Grübel
Der 70-Jährige gehört zu den bedeutendsten Bankern der Schweiz. Er war Konzernchef beider Grossbanken, der CS (2003 bis 2007) und der UBS (2009 bis 2011). Geboren wurde Grübel auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. 1952 floh er in die Bundesrepublik. Seine Ausbildung machte er bei der Deutschen Bank. 1970 wechselte er zur CS. Grübel gilt als begnadeter und leidenschaftlicher Händler. Er lebt zusammen mit seiner Partnerin in Wollerau und hat eine Tochter aus erster Ehe. Die «Bilanz» schätzt sein Vermögen auf 150 Millionen Franken. (egg)

Die Auswirkungen eines Mindestlohnes auf den Arbeitsmarkt sind sehr umstritten. Was gilt denn nun – Arbeitsplatzabbau oder sogar mehr Jobs?
Löpfe: Man kann genau so gut sagen, dass der Mindestlohn den Konsum einer Volkswirtschaft unterstützt, denn der Einzelne hat mehr Geld zum Ausgeben, wenn er mehr verdient. Das kurbelt die Wirtschaft an, schafft Arbeitsplätze und entlastet die Sozialwerke. In den USA ist es beispielsweise so, dass diejenigen Staaten, die einen höheren Mindestlohn haben, wirtschaftlich besser vorankommen.

Grübel: Mit einem Mindestlohn grenzen wir Tausende aus, die dann keinen Job mehr haben – und der Staat zahlt noch mehr, um diese Leute zu unterstützen. Die Arbeit, die heute günstig verrichtet wird, kann von den Unternehmen nicht mehr bezahlt werden und wird zunehmend automatisiert. 

Ist die Automatisierung durch den Mindestlohn nicht ein Scheinargument? Sie findet ja ohnehin statt. 
Grübel:
 Natürlich findet sie statt, aber mit einem Mindestlohn verschärft sich die Situation. Die Einkommensschere öffnet sich mit der zunehmenden Technologisierung. Denken Sie an ein Restaurant: Sie können als Gast mit einem Tablet am Tisch Ihre Bestellung aufgeben, mit dem Handy oder der Karte zahlen. Die Bedienung braucht es nur noch, um das Essen zu bringen. 

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«Die Bedienung in einem Restaurant braucht es nur noch, um das Essen zu bringen.»
Oswald Grübel

Löpfe: So schnell wird das nicht gehen. Wir brauchen noch lange Service- und Pflegepersonal, deshalb muss man sie auch anständig bezahlen. Es stimmt aber, dass der technologische Fortschritt einen Einfluss auf die Löhne hat, und dass immer mehr automatisiert wird. Der Mindestlohn in der Schweiz wird einen Anreiz schaffen für die Unternehmen, Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Das heisst aber auch, dass wir weniger ungelernte Arbeitskräfte brauchen. Der Mindestlohn hilft uns, qualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen.

Grübel: Der Mindestlohn ist in der Schweiz sehr hoch im Vergleich zum restlichen Europa. Er wird sehr viele Leute aus dem Ausland anlocken. Die Leute sind ja nicht dumm, wenn es ums Geldverdienen geht. Sie finden sehr schnell raus, wie sie zu mehr Geld kommen. 

Herr Grübel, Sie wehren sich vehement gegen den Eingriff des Staates in Lohnfragen. Warum?
Grübel: Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, dafür zu sorgen, dass die Leute anständig entlöhnt werden. Für mich ist es unverständlich, dass ausgerechnet die Gewerkschaften mit dieser Initiative kommen und vom Staat verlangen, dass er ins Lohngefüge eingreift. Die Gewerkschaften geben damit praktisch zu, dass sie ihre Klientel nicht mehr vertreten können. Die Forderung nach dem Mindestlohn macht die Gewerkschaften obsolet. 

Löpfe: Es geht darum, dass der Staat verbindliche Regeln schafft für die Wirtschaft, weil diese das selber offenbar nicht mehr kann. Der Markt braucht heute Spielregeln. Das hat und die Wirtschaftskrise der letzten Jahre klar vor Augen geführt. 

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Philipp Löpfe
Der 60-Jährige ist watson-Autor. Seine Schwerpunkte sind Wirtschafts- und Gesellschaftsthemen, zu denen er mehrere Bücher geschrieben hat. Löpfe war Chefredaktor von «SonntagsBlick» (1988 bis 1991) und «Tages-Anzeiger» (1999 bis 2002) sowie stellvertretender Chefredaktor der Wirtschaftszeitung «Cash». Löpfe wurde 2012 als Wirtschaftsjournalist des Jahres ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau in Zürich und hat eine Tochter. Löpfes neuestes Buch heisst «Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt». (egg)

Grübel: Sie weichen aus. Warum können die Gewerkschaften nicht anständige Löhne aushandeln für die verschiedenen Branchen? Die Gewerkschaften sind zu lahm und zu fett geworden. Jetzt versuchen sie, den Staat dafür einzuspannen, ihre Arbeit zu machen. Wenn der Staat die unteren Einkommensschichten unterstützen will, dann hat er Mittel, das zu tun: über Sozialhilfe oder Steuersenkungen. 

Mehr Steuersenkungen für Leute, die nicht genug verdienen – was halten Sie von diesem Vorschlag, Herr Löpfe?
Löpfe: Das kennen wir ja schon. Dadurch entsteht doch nur noch mehr Bürokratie, es wird alles komplizierter. Ohne Mindestlohn muss man die Tieflöhner sozial unterstützen, Komplementärlöhne zahlen, Sozialarbeiter finanzieren – ein bürokratischer Aufwand. Der Mindestlohn schafft Regeln, um Bürokratie zu verhindern und stopft zugleich die Schlupflöcher. Zudem verursacht der Mindestlohn keine Sozialschmarotzer. Bei den Steuern und bei der Sozialhilfe hingegen gibt es diese Löcher noch.

«Wenn weder Arbeitgeber, noch Arbeitnehmer in der Lage sind, die Löhne so zu regeln, dass alle einigermassen damit überleben können, ist das ein Armutszeugnis.»
Oswald Grübel

Grübel: Die Politiker werden sich jedes mal vor den Wahlen überlegen, um wie viel sie den Mindestlohn erhöhen möchten. 

Löpfe: Das wird sicher nicht passieren! Es ist nicht die Meinung, dass man jedes mal im Wahlkampf die Mindestlöhne neu festsetzt. Der Mindestlohn ist für mich wie Zähneputzen oder Händewaschen – daran haben wir uns auch gewöhnt. Ich möchte lieber in einem Land leben, wo anständige Löhne gezahlt werden, so, wie ich gerne mit Menschen zusammen bin, die sich die Zähne putzen und die Hände waschen.  

Grübel: Da bin ich mit Ihnen sogar einverstanden – mit dem Zähneputzen, mit dem Händewaschen und schliesslich auch mit den Löhnen. Nur: Die Herangehensweise beim Mindestlohn ist falsch. Was sie fordern, sollen die Gewerkschaften einlösen, nicht der Staat. 

Löpfe: Der Mindestlohn ist nichts Neues. Die Schweiz und Deutschland sind weitherum die einzigen Länder, die keinen Mindestlohn haben. Sogar Amerika kennt den Mindestlohn. Mindestlöhne und die freie Marktwirtschaft widersprechen sich nicht. 

Grübel: Sie sagen es ja selbst: Die Schweiz und Deutschland kennen keinen Mindestlohn. Es sind aber auch weit herum die einzigen Länder, die wirtschaftlich erfolgreich sind. 

Was passiert bei einer Ablehnung, respektive bei einer Annahme der Mindestlohn-Initiative? 
Löpfe: Es wird sich nicht viel verändern, weder bei einer Annahme, noch bei einer Ablehnung der Vorlage. Ich bin für den Mindestlohn, weil so wenig dagegen spricht. Es geht nicht darum, dass der Staat irgendwelche Aufgaben übernimmt. Die ewige Diskussion der Trennung von Staat und Markt ist ein Auslaufmodell. Dieser Gegensatz ist künstlich. 

«Ich möchte lieber in einem Land leben, wo anständige Löhne gezahlt werden, so, wie ich gerne mit Menschen zusammen bin, die sich die Zähne putzen und die Hände waschen.»
Philipp Löpfe

Grübel: Für mich nicht. In unserer zivilisierten Gesellschaft hat der Staat einfach nichts verloren, wenn es darum geht, Löhne festzusetzen. Die Generation, die jetzt in Politik und Wirtschaft aktiv ist, die Generation nach mir, erwartet zu viel vom Staat. Ich empfehle, gegen die Initiative zu stimmen. 

Löpfe: Der Staat muss keine Aufgabe übernehmen. Wir haben in der Schweiz auch die Tempolimite von 120 Kilomtern pro Stunde festgelegt. Mit einem Mindestlohn mischt sich der Staat viel weniger ein als heute, wo er immer wieder nachbessern muss. Der Staat könnte einfach ein Schild aufstellen: 4000 Franken für alle. 

Grübel: Wenn wir als Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind – weder vonseiten der Arbeitgeber, noch vonseiten der Arbeitnehmer – die Löhne so zu regeln, dass alle einigermassen damit überleben können, ist das ein Armutszeugnis. 

Hier finden Sie mehr zum Mindestlohn >>>
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