Wirtschaft
Schweiz

Arbeitslosigkeit: So viele Schweizer sind tatsächlich ohne Job

ARCHIV - ZUM SOZIALBERICHT 2016 VOM SCHWEIZER KOMPETENZZENTRUM SOZIALWISSENSCHAFTEN, FORS, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Ein Arbeitsloser liest am 20. August 2010 am Hauptb ...
Die Zahlen des Staatssekretariats täuschen.Bild: KEYSTONE

«Alle Arbeitslosen zählen, bitte!» – so viele Schweizer sind tatsächlich ohne Job 

Eine neue Analyse zeigt: Die Langzeitarbeitslosigkeit ist deutlich höher als die offiziellen Zahlen des Staatssekretariates für Wirtschaft.
30.10.2016, 07:1330.10.2016, 16:50
n. VONTOBEL UND s. SERAFINI / Schweiz am sonntag
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Die Post will 500 Filialen schliessen, der Chemiekonzern BASF streicht 180 Stellen, bei der SBB sind es gar 1200 Stellen. Der Arbeitsmarkt kann dies nicht auffangen. Der Arbeitsmarkt-Experte der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), Michael Siegenthaler, stellt fest: Die Langzeitarbeitslosigkeit ist von der Öffentlichkeit unbemerkt auf ein Rekordniveau geklettert; 90'000 Menschen suchen seit über einem Jahr einen Job. Mehr als je zuvor. Das sind 40'000 Menschen oder 80 Prozent mehr als 2008, als die Finanzkrise durchschlug.

«Ich bin ihnen zu alt. Nur darf man das so offen nicht sagen.»
Theres Grallinger, Arbeitsuchende

Hinter jedem der 90'000 Langzeitarbeitslosen steht eine Lebensgeschichte. Theres Grallinger zählt nicht einmal mehr die Bewerbungen, die sie in den letzten drei Jahren geschrieben hat. «Inzwischen müssen es über dreihundert sein», sagt sie. Die 53-Jährige ist seit Ende 2013 arbeitslos. Als gelernte Verkäuferin arbeitete sie im kaufmännischen Bereich und zuletzt in der Buchhaltung einer mittelgrossen Firma. Als diese verkauft wurde, verlor sie den Job.

Sie machte eine Weiterbildung zur diplomierten Betriebswirtschafterin. «Das lenkte mich ab», sagt sie. Die Zuversicht, mit dem neuen Diplom eine Anstellung zu finden, schwand, nachdem sie eine Absage nach der anderen erhielt. «Überqualifiziert» lautete die Erklärung bei den einen und «Passt nicht ins Team» bei den anderen. Fragte sie genauer nach, merkte sie jeweils schnell, was gemeint war: «Ich bin ihnen zu alt. Nur darf man das so offen nicht sagen.»

Rudolf Strahm Philipp Löpfe
Rudolf Strahm reicht der «Inländervorrang light» nicht.foto: watson

Offiziell heisst es: Kaum Stellenabbau

Optimistisch gestimmt ist Johann Schneider-Ammann: Nach offizieller Sprachregelung seines Wirtschaftsdepartements blieb der Schweizer Arbeitsmarkt bislang von allem Stellenabbau nahezu unberührt. Erst kürzlich rühmte der Bundespräsident die Schweiz dafür. An der 125- Jahre-Jubiläumsfeier des Industriekonzerns ABB trug er vor internationalem Publikum mit erkennbarem Stolz vor, die Arbeitslosigkeit betrage in der Schweiz nach wie vor bloss 3,2 Prozent. Ein Superwert, das nahe Ausland träumt davon.

Eine beruhigend tiefe Arbeitslosigkeit von 3,2 Prozent, aber gleichzeitig ein alarmierender Rekordwert mit 90'000 Langzeitarbeitslosen? Dieser Gegensatz ist leicht erklärt. In der Arbeitslosenquote, auf die sich Schneider-Ammann stützt, sind Zehntausende Arbeitslose nicht enthalten. KOF-Ökonom Siegenthaler hat deshalb seiner Analyse den Titel gesetzt: «Alle Arbeitslosen zählen, bitte».

Der Datensalat kommt so zustande: Die 3,2 Prozent von SchneiderAmmann stammen aus der Arbeitslosenstatistik des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). In dieser Statistik werden nur jene Arbeitnehmer erhoben, die sich bei einem regionalen Arbeitsamt (RAV) registrieren liessen. Was gerade bei der Erfassung von Langzeitarbeitslosen ein Problem ist. «Sie melden sich häufig nicht, weil sie keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosenentschädigung haben», sagt Siegenthaler. So kommt es, dass die Seco-Statistik aktuell etwa 40000 Menschen zu wenig zählt. Ein Anstieg der Langzeitarbeitslosen ist nicht zu erkennen. 2016 waren kaum mehr Menschen betroffen als 2002 aus Sicht des Bundes.

Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit

Auch Theres Grallinger geht nicht mehr zum Arbeitsamt. Sie fühlte sich nicht unterstützt. Wenn sie die Tipps der Arbeitsvermittler anwandte, brachte sie dies nicht weiter. Mit dem Ersparten und der Unterstützung ihrer Geschwister kommt sie über die Runden. Die Sozialhilfe wäre die Ultima Ratio.

Es ist nicht so, dass es in der Schweiz keine Alternative zur Arbeitslosenstatistik des Seco gebe. Das Bundesamt für Statistik erhebt nach den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine «Erwerbslosenstatistik». Laut Siegenthaler von der KOF kommt diese der wahren Arbeitslosigkeit viel näher. In dieser Statistik werden deutlich mehr Langzeitarbeitslose gezählt als in jener des Seco. So wird der Anstieg in der Langzeitarbeitslosigkeit erkennbar.

«Es sind nicht mehr nur Niedrigqualifizierte, die heute ihre Arbeitsplätze verlieren.»
Rudolf Strahm, ehemaliger Preisüberwacher

Daniel Neugart ärgert sich. Als Präsident des Nationalen Dachverbandes «SAVE 50Plus Schweiz» engagiert er sich für über 50-jährige Arbeitslose, die die Langzeitarbeitslosigkeit besonders trifft. «Die Arbeitsmarktzahlen werden beschönigt, um den Druck von den politischen Entscheidungsträgern wegzunehmen.» Bundesrat Schneider-Ammann müsse aufhören, sich vor allem auf Seco-Zahlen zu stützen. «Er sollte sich endlich an die Arbeitslosenzahlen halten, die nach Vorgaben der ILO berechnet werden.» Also an die Erwerbslosenstatistik.

Strahm fordert Taten

Der Ökonom und ehemalige Preisüberwacher Rudolf Strahm warnt: «Es sind nicht mehr nur Niedrigqualifizierte, die heute ihre Arbeitsplätze verlieren.» Es treffe mittlere Kader und Direktoren, leitende Angestellte oder Betriebsleiter, Techniker und Ingenieure. Im September waren 8415 arbeitslose Direktoren und leitende Beamte gemeldet, ebenso 13'300 Arbeitslose mit kaufmännischen Berufen. «Es sind häufig über 50-Jährige, die durch die Personenfreizügigkeit aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden.»

«Das Arbeitskräftepotenzial im Inland wird immer weniger ausgeschöpft.»
Rudolf Strahm, ehemaliger Preisüberwacher
Jetzt auf

Strahm fordert Taten und der «Inländervorrang light» reicht ihm nicht für die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. «Was das Parlament vorschlägt, ist bloss eine Meldepflicht.» Ihm schwebt ein ähnlicher Inländervorrang vor, aber kantonal etwas flexibler, wie er gegenüber Nicht-EU-Staaten gilt. Die Arbeitgeber müssten begründen, warum sie für eine Stelle keinen Inländer finden. «Das Arbeitskräftepotenzial im Inland wird immer weniger ausgeschöpft.»

Theres Grallinger sucht jeden Tag das Internet nach Stellen ab. «Ich bin eigentlich offen für jeden Job», sagt sie. Immer wieder geht sie auch direkt bei Firmen vorbei und stellt sich vor. Sie gibt die Hoffnung nicht auf, darf nicht einmal daran denken, sie aufzugeben. «Ich muss es positiv sehen», macht sie sich selber Mut.

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83 Kommentare
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Luca Brasi
30.10.2016 07:41registriert November 2015
Und weil dem Wirtschaftsminister die Langzeitarbeitslosen piepegal sind, da die seiner "schönen" Arbeitslosenstatistik nur im Weg stehen, wird inländisches Potential nicht genutzt und der Frust dieser Leute wächst. Was diese Leute aber noch können, ist Wählen. Welche Partei könnte da wohl profitieren? Die FDP wahrscheinlich nicht.
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stadtzuercher
30.10.2016 18:28registriert Dezember 2014
Offiziell heisst es: Vollbeschäftigung. Und von links bis rechts: Fachkräftemangel (womit man den Mangel an anspruchslosen Billigarbeitern meint). Wenn die Arbeitslosen dann Rechtsaussen wählen, weil die Zuwanderungsbeschränkungen fordern, dann nennt man diese Arbeitslosen Wutbürger. Die UNIA ist derweil mit ihrer Sexualmoral und teuren internen Abfindungen beschäftigt, die SP mit Teilzeitarbeit für akademische Mütter.
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Der Zahnarzt
30.10.2016 15:26registriert März 2016
Die Arbeitslosenquote ist eine ökonomische Kennzahl. Da die Ökonomie keine exakte Wissenschaft ist, gibt es mehr als eine Möglichkeit, die Arbeitslosenquote zu bestimmen. - Welche Methode gewählt wird, spiegelt letztlich die politischen Interessen und Machtverhältnisse wieder. - Die offizielle tiefe Quote dient dazu uns vorzugaukeln, dass das Neoliberale System gut ist.

Eine anderes Konzept dass z. B. von der NZZ gerne gebraucht wird um zu beweisen, dass die Einkommensschere nicht aufgeht, ist das Konzept des Markteinkommens, das u. a. Einkommen aus Erbschaft ausblendet. (Reine Politik!).
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