Die Post will 500 Filialen schliessen, der Chemiekonzern BASF streicht 180 Stellen, bei der SBB sind es gar 1200 Stellen. Der Arbeitsmarkt kann dies nicht auffangen. Der Arbeitsmarkt-Experte der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), Michael Siegenthaler, stellt fest: Die Langzeitarbeitslosigkeit ist von der Öffentlichkeit unbemerkt auf ein Rekordniveau geklettert; 90'000 Menschen suchen seit über einem Jahr einen Job. Mehr als je zuvor. Das sind 40'000 Menschen oder 80 Prozent mehr als 2008, als die Finanzkrise durchschlug.
Hinter jedem der 90'000 Langzeitarbeitslosen steht eine Lebensgeschichte. Theres Grallinger zählt nicht einmal mehr die Bewerbungen, die sie in den letzten drei Jahren geschrieben hat. «Inzwischen müssen es über dreihundert sein», sagt sie. Die 53-Jährige ist seit Ende 2013 arbeitslos. Als gelernte Verkäuferin arbeitete sie im kaufmännischen Bereich und zuletzt in der Buchhaltung einer mittelgrossen Firma. Als diese verkauft wurde, verlor sie den Job.
Sie machte eine Weiterbildung zur diplomierten Betriebswirtschafterin. «Das lenkte mich ab», sagt sie. Die Zuversicht, mit dem neuen Diplom eine Anstellung zu finden, schwand, nachdem sie eine Absage nach der anderen erhielt. «Überqualifiziert» lautete die Erklärung bei den einen und «Passt nicht ins Team» bei den anderen. Fragte sie genauer nach, merkte sie jeweils schnell, was gemeint war: «Ich bin ihnen zu alt. Nur darf man das so offen nicht sagen.»
Optimistisch gestimmt ist Johann Schneider-Ammann: Nach offizieller Sprachregelung seines Wirtschaftsdepartements blieb der Schweizer Arbeitsmarkt bislang von allem Stellenabbau nahezu unberührt. Erst kürzlich rühmte der Bundespräsident die Schweiz dafür. An der 125- Jahre-Jubiläumsfeier des Industriekonzerns ABB trug er vor internationalem Publikum mit erkennbarem Stolz vor, die Arbeitslosigkeit betrage in der Schweiz nach wie vor bloss 3,2 Prozent. Ein Superwert, das nahe Ausland träumt davon.
Eine beruhigend tiefe Arbeitslosigkeit von 3,2 Prozent, aber gleichzeitig ein alarmierender Rekordwert mit 90'000 Langzeitarbeitslosen? Dieser Gegensatz ist leicht erklärt. In der Arbeitslosenquote, auf die sich Schneider-Ammann stützt, sind Zehntausende Arbeitslose nicht enthalten. KOF-Ökonom Siegenthaler hat deshalb seiner Analyse den Titel gesetzt: «Alle Arbeitslosen zählen, bitte».
Der Datensalat kommt so zustande: Die 3,2 Prozent von SchneiderAmmann stammen aus der Arbeitslosenstatistik des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). In dieser Statistik werden nur jene Arbeitnehmer erhoben, die sich bei einem regionalen Arbeitsamt (RAV) registrieren liessen. Was gerade bei der Erfassung von Langzeitarbeitslosen ein Problem ist. «Sie melden sich häufig nicht, weil sie keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosenentschädigung haben», sagt Siegenthaler. So kommt es, dass die Seco-Statistik aktuell etwa 40000 Menschen zu wenig zählt. Ein Anstieg der Langzeitarbeitslosen ist nicht zu erkennen. 2016 waren kaum mehr Menschen betroffen als 2002 aus Sicht des Bundes.
Auch Theres Grallinger geht nicht mehr zum Arbeitsamt. Sie fühlte sich nicht unterstützt. Wenn sie die Tipps der Arbeitsvermittler anwandte, brachte sie dies nicht weiter. Mit dem Ersparten und der Unterstützung ihrer Geschwister kommt sie über die Runden. Die Sozialhilfe wäre die Ultima Ratio.
Es ist nicht so, dass es in der Schweiz keine Alternative zur Arbeitslosenstatistik des Seco gebe. Das Bundesamt für Statistik erhebt nach den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine «Erwerbslosenstatistik». Laut Siegenthaler von der KOF kommt diese der wahren Arbeitslosigkeit viel näher. In dieser Statistik werden deutlich mehr Langzeitarbeitslose gezählt als in jener des Seco. So wird der Anstieg in der Langzeitarbeitslosigkeit erkennbar.
Daniel Neugart ärgert sich. Als Präsident des Nationalen Dachverbandes «SAVE 50Plus Schweiz» engagiert er sich für über 50-jährige Arbeitslose, die die Langzeitarbeitslosigkeit besonders trifft. «Die Arbeitsmarktzahlen werden beschönigt, um den Druck von den politischen Entscheidungsträgern wegzunehmen.» Bundesrat Schneider-Ammann müsse aufhören, sich vor allem auf Seco-Zahlen zu stützen. «Er sollte sich endlich an die Arbeitslosenzahlen halten, die nach Vorgaben der ILO berechnet werden.» Also an die Erwerbslosenstatistik.
Der Ökonom und ehemalige Preisüberwacher Rudolf Strahm warnt: «Es sind nicht mehr nur Niedrigqualifizierte, die heute ihre Arbeitsplätze verlieren.» Es treffe mittlere Kader und Direktoren, leitende Angestellte oder Betriebsleiter, Techniker und Ingenieure. Im September waren 8415 arbeitslose Direktoren und leitende Beamte gemeldet, ebenso 13'300 Arbeitslose mit kaufmännischen Berufen. «Es sind häufig über 50-Jährige, die durch die Personenfreizügigkeit aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden.»
Strahm fordert Taten und der «Inländervorrang light» reicht ihm nicht für die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. «Was das Parlament vorschlägt, ist bloss eine Meldepflicht.» Ihm schwebt ein ähnlicher Inländervorrang vor, aber kantonal etwas flexibler, wie er gegenüber Nicht-EU-Staaten gilt. Die Arbeitgeber müssten begründen, warum sie für eine Stelle keinen Inländer finden. «Das Arbeitskräftepotenzial im Inland wird immer weniger ausgeschöpft.»
Theres Grallinger sucht jeden Tag das Internet nach Stellen ab. «Ich bin eigentlich offen für jeden Job», sagt sie. Immer wieder geht sie auch direkt bei Firmen vorbei und stellt sich vor. Sie gibt die Hoffnung nicht auf, darf nicht einmal daran denken, sie aufzugeben. «Ich muss es positiv sehen», macht sie sich selber Mut.
Eine anderes Konzept dass z. B. von der NZZ gerne gebraucht wird um zu beweisen, dass die Einkommensschere nicht aufgeht, ist das Konzept des Markteinkommens, das u. a. Einkommen aus Erbschaft ausblendet. (Reine Politik!).