Schweizer Behörden meldeten unlängst einen «stabilen Überschuss der Leistungsbilanz». Die Nachricht erregte wenig Aufmerksamkeit. «Stabil» tönt positiv und beruhigend.
Doch das sehen nicht alle so. Für einen Währungsexperten wie Joseph E. Gagnon wirkt der «stabile Überschuss» gar nicht beruhigend. Er wirft der Schweiz Währungsmanipulation vor – nachzulesen unter dem Titel «Alternatives to Currency Manipulation: What Switzerland, Singapore and Hong Kong can do», publiziert vom einflussreichen «Peterson Institute for International Econormics» in Washington.
Warum schon wieder, mag man argwöhnen bei der Schweizerischen Nationalbank SNB. Bereits vor anderthalb Jahren hat Gagnon zusammen mit seinem damaligen Institutsdirektor Fred Bergsten die Schweiz beschuldigt. Die beiden Experten hatten die Schweiz als den «weitaus grössten Währungsmanipulator im Jahr 2012» bezeichnet.
Dass die Nationalbank eine weitere Aufwertung des Frankens gegenüber dem Euro mit einem garantierten Mindest-Wechselkurs zum Euro verhindert, war nicht der einzige Grund für die Kritik. Schon damals missfiel den US-Experten vor allem der chronisch hohe Leistungsbilanzüberschuss unseres Landes.
Dieser kommt zustande, weil die Schweiz mehr Waren exportiert als importiert, weil Ausländer in der Schweiz mehr ausgeben als Schweizer im Ausland, weil Unternehmen und Private mehr Geld (Zinsen, Lizenzen, Gewinne, Löhne usw.) vom Ausland in die Schweiz transferieren als umgekehrt, und weil der Handel mit Rohstoffen seit ein paar Jahren zusätzlich grosse Einkommen ins Land spült.
Der dank der Euro-Bindung künstlich tief gehaltene Schweizer Franken verstärkt diese Tendenz. Bekämen die Euro-Länder für einen Euro nicht mehr 1.20 Franken, sondern nur noch 1 Franken, ginge der Überschuss der Schweizer Leistungsbilanz zurück – unter anderem auf Kosten der Exportindustrie und des Tourismus.
Auf die Kritik hatte die SNB damals reagiert. Denn das Peterson Institute ist nicht irgendein Institut. Es geniesst hohes Ansehen weit über Washington hinaus. SNB-Präsident Thomas Jordan wagte sich im Oktober 2013 sogar in die Hallen des einflussreichen Instituts. Er stand Red und Antwort, versuchte die Schweiz als Sonderfall unter den Überschussländern darzustellen. Sein Hauptargument: Die offiziell ausgewiesenen Daten über die rekordhohen Leistungsbilanzüberschüsse würden die Wirklichkeit überzeichnen.
Die Schweiz will nicht mit China verglichen werden, das oft beschuldigt wurde, mit seinen gewaltigen Überschüssen die grosse Finanzkrise mitverursacht zu haben. Auch mit Deutschland will man nicht in den gleichen Topf geworfen werden. Unser nördlicher Nachbar eilt von Rekordüberschuss zu Rekordüberschuss und wurde deshalb wiederholt von der Obama-Administration kritisiert.
In der EU läuft gar ein Verfahren wegen den zu hohen Überschüssen. Denn chronisch hohe Überschüsse schaden einer international stabilen Entwicklung ebenso wie die spiegelbildlich chronisch hohen Defizite der südeuropäischen Krisenstaaten. Diese können ihre Leistungsbilanz-Defizite nur abbauen, wenn andere Staaten ihre Überschüsse abbauen.
Gemessen an der Wirtschaftskraft erzielt die Schweiz sogar einen deutlich höheren Leistungsbilanzüberschuss als Deutschland und China. Während die Überschüsse dieser zwei grössten Exportnationen gemessen an deren Bruttoinlandprodukten gut drei bzw. sieben Prozent ausmachen, beläuft sich der schweizerische Überschuss auf meist zehn Prozent und manchmal noch mehr.
Dass die Schweiz dennoch international kaum behelligt wird, verdankt sie zweifellos ihrer Kleinheit. Die gut zehn Prozent Überschuss beziffern sich meist auf rund 60 Milliarden Franken bzw. in Dollar gerechnet um die 70 Milliarden jährlich. Der deutsche Überschuss lag 2013 in absoluten Zahlen mit 260 Milliarden Dollar fast viermal so hoch und wirkt entsprechend stärker destabilisierend.
Es überrascht deshalb nicht, dass unser nördlicher Nachbar öfters und heftiger kritisiert wird. Dass sich die Schweiz trotzdem nicht völlig sicher fühlen kann, dafür möchte der Währungsexperte Joseph E. Gagnon nicht länger alleine sorgen.
Denn die von der Nationalbank vorgebrachten Argumente für den angeblichen Sonderfall Schweiz haben ihn nicht überzeugt. Warum nicht, legt er in seiner neuen Studie Punkt um Punkt dar. Umso erstaunter zeigt er sich darüber, dass der Internationale Währungsfonds die Schweiz nie ermahnt hat wegen den negativen Folgen, die sie mit ihren Überschüssen in anderen Ländern bewirkt. Der IWF müsse seine eigenen Verpflichtungen ernst nehmen – auch gegenüber der Schweiz, meint Gagnon.
Man kann gespannt sein, ob die ein paar Häuserblocks vom Peterson Institute entfernten IWF-Experten bei nächster Gelegenheit neue Töne anschlagen werden.