Fünf Wochen nach dem knappen Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative hat sich der Pulverdampf gelichtet. Die Sieger scheinen nach anfänglichem Triumphgeheul zu realisieren, wie heikel die Lage für die Schweiz im Verhältnis zur EU geworden ist. Die Verlierer wiederum schalten von der Wehleidigkeit in den Trötzlermodus. Bereits gibt es Szenarien, wie man die Initiative umgehen oder ignorieren könnte – eine Entwicklung, die watson in den «Sechs Thesen zur Zukunft der Schweiz» geschildert hat.
Beklagt wird ein Manko, das nach dem 9. Februar nicht mehr zu kaschieren war: Den Anhängern der Personenfreizügigkeit fehlen glaubwürdige Aushängeschilder. Zwischen dem Volk und der Elite aus Politik und Wirtschaft hat eine Entfremdung stattgefunden. Einen exzellenten Beleg lieferte Peter Brabeck, Verwaltungsratspräsident von Nestlé, in einem Interview mit der NZZ.
«Ich habe das Schweizervolk in den letzten Urnengängen sehr gut verstanden», meinte Brabeck gönnerhaft. Das Ja zur SVP-Initiative sei weder eine Absage an die bilateralen Verträge mit der EU noch an die Weltoffenheit der Schweiz – womit er wohl recht hat.
Dann aber erklärte er, was seiner Meinung nach hinter dem Abstimmungsergebnis steckt: «Das Sozialwesen in der Schweiz wurde zum Teil missbraucht. Nehmen Sie als Beispiel den Fall ‹Carlos›. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt viele Fälle.»
«Carlos» also ist schuld, der 17-jährige Sohn eines Schweizer Architekten, vernachlässigt in der Kindheit, auf die schiefe Bahn geraten und in einem teuren Sondersetting «verhätschelt».
Eine Geschichte, die seit Monaten für Wirbel sorgt – und nach Ansicht von Peter Brabeck der Grund, warum das Schweizervolk einer Initiative zustimmte, die sich explizit gegen «Masseneinwanderung» richtete. Die Kontingente für Ausländer einführen und den Einheimischen einen Vorrang auf dem Arbeitsmarkt einräumen will.
In einzelnen Reaktionen wurde Brabeck Kalkül unterstellt. Er habe die Aussage bewusst gemacht, um vom eigentlichen Problem abzulenken und so die Umsetzung der Initiative zu hintertreiben. Wahrscheinlicher ist, dass der Nestlé-Boss sein Gerede wirklich glaubt.
Es entspricht der Arroganz und Ignoranz der heutigen Wirtschaftselite. In ihrem globalisierten Schwarzweiss-Weltbild besteht die Menschheit aus Leistungsträgern und aus asozialen Typen wie «Carlos», die das System missbrauchen. Nicht umsonst betonte der Börsen-Zocker und verurteilte Steuerhinterzieher Uli Hoeness vor Gericht: «Ich bin kein Sozialschmarotzer.»
Im Fall von Peter Brabeck erstaunt dieser Befund auf den ersten Blick: Der 69-jährige Österreicher hat fast sein gesamtes Arbeitsleben bei Nestlé verbracht. Von 1997 bis 2008 war er Konzernchef des Nahrungsmittel-Multis mit Sitz in Vevey, seit 2005 präsidiert er den Verwaltungsrat. Eigentlich müsste ein solcher Mann die Schweiz kennen.
Doch Brabeck denkt in globalen Kategorien.
Stolz verweist er im NZZ-Interview darauf, dass die Marktkapitalisierung von Nestlé unter seiner Führung von 38 Milliarden auf 220 bis 230 Milliarden US-Dollar angestiegen ist. Dollar, nicht Franken.
Wer solche Massstäbe verwendet, beurteilt die Schweiz in erster Linie nach Standortfaktoren. Er tendiert dazu, dieses Land und seine vermeintlich liberale Ordnung zu idealisieren. Und ist entsprechend irritiert, wenn plötzlich die Realität zuschlägt, sei es bei der Masseneinwanderungs- oder auch bei der Abzocker-Initiative.
Er sei ein grosser Verfechter der direkten Demokratie, betont Brabeck und fügt sogleich an: «Es stimmt aber, dass die direkte Demokratie zum Teil etwas missbraucht wird.»
Da haben wir ihn wieder, den Missbrauch. Demokratie-Schmarotzertum sozusagen.
Vielleicht sollte sich Peter Brabeck mit den wahren Gründen für die Annahme der SVP-Initiative beschäftigen. Anschauungsmaterial liefert eine interaktive Karte, die aufzeigt, wie sich die Offenheit der Schweiz seit der EWR-Abstimmung 1992 gewandelt hat.
Interessant: Differenz EWR-Abstimmung 1992 zu #MEI 2014: Blaue Orte sind offener geworden, rote verschlossener. pic.twitter.com/q4aCPUqM7w
— Christian Keller (@krick68) 10. März 2014
Man erkennt, dass sich das MEI-Ja nicht auf den Graben zwischen weltoffenen Städten und fremdenfeindlicher Landschaft in der Deutschschweiz reduzieren lässt. Tatsächlich sind die «Landeier» seit 1992 offener geworden, im Gegensatz zu den Agglomerationen der Deutschschweiz. Ob Basel, Bern oder Zürich – während die Zentren heute noch offener sind als vor 20 Jahren, tendieren die Vororte zu mehr Abschottung.
Die Gründe liegen auf der Hand: In der Agglo bündeln sich die Probleme, die durch die starke Zuwanderung der letzten Jahre akzentuiert wurden. Hier lassen sich die Mittelstands-Familien nieder, die in den Zentren keine bezahlbaren Wohnungen finden. Von hier müssen sie im überfüllten ÖV und im Stau zur Arbeit oder in die Schule pendeln. Hier stossen sie auf einen hohen Ausländeranteil. Und hier wurden und werden ehemals ländliche Gemeinden durch intensive Bautätigkeit zubetoniert und zersiedelt.
Die Folgen sind Anonymität, Entfremdung und Abstiegsängste – der ideale Nährboden für das Ja zur SVP-Initiative. Der von Peter Brabeck beklagte «Sozialmissbrauch» à la «Carlos» ist bestenfalls ein Nebenschauplatz.
Doch davon wollen der Nestlé-Chef und andere Topshots in den Teppichetagen der multinationalen Konzerne lieber nichts wissen. Denn die Befindlichkeiten in der Agglo beleuchten die Schattenseiten der Globalisierung.
Immer mehr durchaus leistungsbereite Menschen haben das Gefühl, dass sie von der Entwicklung nicht mehr profitieren, dass das gesunde Mass abhanden gekommen ist. Die 1:12- und die Mindestlohn-Initiative sind ebenfalls Symptome dieses Unbehagens.
Eine Korrektur dieser Entwicklung wäre eine gewaltige Aufgabe. Der Wille, sie anzupacken, ist nicht in Sicht. Stattdessen sucht man nach Wegen, wie alles so bleiben kann, wie es heute ist. Vor allem die Personenfreizügigkeit mit der EU soll um fast jeden Preis gerettet werden.
Bundesrätin Simonetta Sommaruga und ihr Departement wollen die Initiative so wortgetreu wie möglich umsetzen, heisst es. Aber nicht etwa aus Respekt vor dem Volkswillen. Sie möchte den Schwarzen Peter dem Parlament zuschieben, es soll die Verantwortung für die «Sabotage» der SVP-Initiative übernehmen.
Und Peter Brabeck, der «Schweiz-Versteher» und Fan der direkten Demokratie, wird heimlich applaudieren.
Lesetipp: «Das Magazin» hat eine umfassende Aufarbeitung des Falls «Carlos» und seiner Skandalisierung durch die Medien veröffentlicht. Sehr lohnenswert, vielleicht auch für Peter Brabeck.