Die Katastrophe beginnt kurz nach Mitternacht am 26. April 1986. Ein Test in Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl läuft aus dem Ruder, es kommt zu einer Kernschmelze, Explosionen reissen die Abdeckplatte über dem Reaktorkern weg, zehn Tage lang gelangen grosse Mengen an radioaktivem Material wie Jod und Cäsium in die Atmosphäre und verteilen sich grossflächig. Es ist der bisher schlimmste Unfall in einem AKW und bis Fukushima 2011 der einzige, der auf der INES-Skala der nuklearen Vorfälle die höchste Stufe erreicht.
Eine Fläche von rund 150'000 km2 in der Ukraine, in Belarus und in Russland wird radioaktiv verseucht. Das Gebiet in unmittelbarer Nähe des Reaktors, darunter die ganze Stadt Prypjat, ist so stark verstrahlt, dass die Menschen dort ihre Häuser fluchtartig verlassen müssen. Sie dürfen nicht zurückkehren, eine Sperrzone wird eingerichtet. Nur einige wenige Bewohner kehren verbotenerweise in die Zone zurück. Und sogenannte Stalker führen Neugierige unerlaubt durch das Sperrgebiet, später setzt ein legaler Tourismus ein. Nur weniger stark belastete Gebiete dürfen dabei kurzzeitig besucht werden.
In der von Menschen nahezu vollständig verlassenen verstrahlten Zone gehen – ähnlich wie im Film «Stalker» (1979) von Andrej Tarkowski – merkwürdige Dinge vor. Es ist, als ob hier ein riesiges unfreiwilliges Experiment abliefe. Die hohen Strahlungsdosen führen bei Tieren und Pflanzen vermehrt zu Mutationen, mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Entdeckung eines Forscherteams der amerikanischen Universität Princeton, dass Wölfe in der Sperrzone über Genmutationen verfügen, die die Chance erhöhen, eine Krebserkrankung zu überleben.
Was eine Katastrophe für die Menschen ist, könnte ein Segen für die Flora und Fauna in der Zone sein. Zwar traf die tödliche Strahlung vor allem die Tiere hart: Nur wenige Prozent der Würmer, Insekten und Spinnen waren im Sommer im Umkreis von sieben Kilometern um den Reaktor noch am Leben. Der grösste Teil der Nagetiere überlebte nicht bis zum Herbst. Fehlgeburten, Deformationen und Tumore nahmen stark zu. Doch die Strahlung verringerte sich bald deutlich, weil ein Teil der freigesetzten radioaktiven Elemente nach kurzer Zeit zerfiel. Nun erholten sich die Bestände der Nagetiere wieder und im Bereich der Flora verdrängten strahlungsresistente Birken den abgestorbenen Nadelwald.
Gleichwohl bleibt die Strahlung auch knapp 38 Jahre nach der Katastrophe hoch, denn langlebige radioaktive Stoffe wie Cäsium-137 oder Strontium-90 (beide haben eine Halbwertszeit von ungefähr 30 Jahren) sind noch längst nicht zerfallen. Trotz dieser permanenten Belastung haben sich die Wildtierbestände weitgehend erholt, auch weil der menschliche Einfluss weggefallen ist. Die Population von Elchen, Rehen, Füchsen, Wildschweinen und Adlern ist stabil geblieben oder hat sogar zugenommen.
Die Tiere haben offenbar eine Art von Strahlungsresistenz entwickelt, wie Untersuchungen an Vögeln gezeigt haben: Deren Körper sind wegen der Strahlung zwar oxidativem Stress durch freie Radikale ausgesetzt, der das Erbgut schädigen kann. Viele Arten konnten sich aber physiologisch daran anpassen – sogar besser, wie es scheint, je höher die Strahlenbelastung ist.
Auch auf die Wolfspopulation im Sperrgebiet scheint das zuzutreffen: Die in einer Pressemitteilung von «The Society for Integrative & Comparative Biology» zusammengefassten Ergebnisse des Forschungsteams aus Princeton zeigen, dass sich die Wolfspopulation dort von jener ausserhalb des strahlenbelasteten Gebiets unterscheidet. Die Wissenschaftler um die Evolutionsbiologin Cara Love begannen mit ihrer Untersuchung 2014, als sie einige der Wölfe mit Halsbändern ausstatten, um Echtzeit-Daten über ihren Aufenthaltsort und ihre Strahlenbelastung zu sammeln. Zudem wurden den Tieren Blutproben entnommen.
Wölfe eignen sich als Untersuchungsobjekte besonders gut, denn sie stehen als Spitzenprädatoren an der Spitze der Nahrungskette. Dies ist normalerweise eine privilegierte Position in einem Ökosystem, aber in einem Gebiet wie der radioaktiv verseuchten Sperrzone verkehrt sich dies in sein Gegenteil. Die Strahlenbelastung nimmt nämlich von unten nach oben in der Nahrungspyramide zu: Pflanzen wachsen auf verstrahltem Boden, Pflanzenfresser fressen diese Pflanzen und werden ihrerseits von Karnivoren gefressen. Radioaktive Substanzen reichern sich somit an der Spitze der Pyramide an.
Dieser Umstand würde vermuten lassen, dass die Strahlenbelastung den Wölfen besonders stark zusetzt und ihre Population deshalb kleiner ist als in vergleichbaren Gebieten, die nicht radioaktiv verseucht sind. Wie Love berichtet, ist dies aber keineswegs der Fall – dem amerikanischen Radiosender NPR sagte sie, die Wolfspopulation sei in der Sperrzone siebenmal dichter als in den Naturschutzgebieten im benachbarten Belarus.
Die Wölfe in der Sperrzone sind gemäss den Ergebnissen der Untersuchung jeden Tag einer Strahlung von bis zu 0,1128 Millisievert. Auf das Jahr gerechnet sind das mehr als 41 Millisievert (mSv). Sievert (Sv) ist die Masseinheit für Strahlenexpositionen infolge ionisierender Strahlung, die Auswirkungen etwa auf das Krebsrisiko haben. Zum Vergleich: Der gesetzliche Grenzwert für die Strahlenbelastung durch kerntechnische Anlagen beträgt in der Schweiz 1 mSv pro Jahr. Die natürliche Hintergrundstrahlung, der eine Person am Boden ausgesetzt ist, liegt bei 2 bis 3 mSv im Jahr. Rechnet man noch weitere Belastungen hinzu, etwa durch Flüge oder Röntgen, kommt man in der Schweiz auf rund 6 mSv pro Jahr.
Die Forscher stellten fest, dass die Wölfe von Tschernobyl ein Immunsystem haben, das jenem von Krebspatienten ähnelt, die gerade eine Strahlentherapie durchmachen. Vor allem aber konnten sie bestimmte Teile des Wolfs-Genoms identifizieren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eine Krebserkrankung zu überleben.
Der Grund für die grössere Widerstandsfähigkeit der Wölfe gegen Krebserkrankungen liegt laut Love in der Tatsache, dass die Wölfe einer raschen natürlichen Auslese unterliegen, die wahrscheinlich durch die ebenso raschen Veränderungen in ihrer Umgebung verursacht wird. Radioaktive Strahlung ist ein mutagener Faktor, das heisst, sie ist ein physikalischer Einfluss, der die Mutationsrate beim Erbgut erhöht – es kommt häufiger zu Mutationen, als normalerweise zu erwarten wäre. Die meisten Mutationen sind schädlich oder bleiben ohne Auswirkungen, aber es gibt welche, die in einer bestimmten Umgebung vorteilhaft sein können.
Einige der Wölfe in der Sperrzone verfügten also aufgrund der Strahlung über mutiertes Erbgut, das sie resistenter gegen Krebs machten als andere Wölfe. Sie erkrankten zwar wie ihre Artgenossen immer noch im gleichen Mass an Krebs, konnten der Krankheit aber so gut widerstehen, dass sie ihre Gene an die nächste Generation weitergeben konnten. Damit verbreitete sich die Mutation in der Wolfspopulation der Zone.
Die Krebsresistenz der Mutantenwölfe von Tschernobyl hat gemäss den Daten der Untersuchung eine eindeutig genetische Ursache. Doch die Forscher weisen selber darauf hin, dass es noch weitere Faktoren gibt, von denen die Gesundheit und Resilienz der Tiere abhängt. Ein solcher Faktor besteht darin, dass die Tiere in der Sperrzone nahezu völlig frei von menschlichen Einflüssen sind, etwas durch Jagd, Forst- und Landwirtschaft. Diese Einflüsse wirken oft als Stressoren, die sich negativ auf den Gesundheitszustand der betroffenen Tiere auswirken.
Love weist darauf hin, dass viele Forschungsarbeiten sich bisher auf Mutationen konzentrierten, die das Krebsrisiko erhöhen. Sie will nun die schützenden Mutationen im Erbgut der Wölfe präzise bestimmen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Krebs zu überleben. Und sie hofft, die Erkenntnisse aus der Untersuchung des Wolf-Erbguts könnten künftig menschlichen Krebspatienten oder Menschen mit erhöhtem Krebsrisiko helfen. Die Art, wie diese Caniden an Krebs erkranken, ähnelt jener beim Menschen.
Das Forscherteam arbeitet nun mit Krebsspezialisten zusammen, um herauszufinden, wie sich diese Ergebnisse auf die menschliche Gesundheit auswirken könnten. Derzeit müssen die Forschungsarbeiten vor Ort in der Sperrzone allerdings ruhen – zuerst machte die Corona-Pandemie den Wissenschaftlern einen Strich durch die Rechnung, dann verunmöglichte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine jede Forschungstätigkeit dort.