In den Alpen sind die ersten Schüsse gefallen, die ersten Wölfe liegen in ihrem Blut. Hundertschaften von hochmotivierten Jägern haben sich gemeldet, um in die Berge aufzubrechen und dem verhassten Wolf endlich den Garaus zu machen, den sie so lange erdulden mussten wegen der Städter. Oder präziser: Wegen der Angst vor dem Wolf, der sich anschickt, ihr Territorium zu besiedeln.
Und die Wölfe? Sie werden nicht verstehen, wie ihnen geschieht. Da werden sie zuerst von diesen Menschen während Jahren im Herbst ausgiebig gefüttert. Und jetzt wird plötzlich scharf auf sie geschossen, ohne dass sie diesen Menschen je feindlich gesinnt waren. Was geht hier vor?
Der Wolf. Der Mensch. Zwei Lebewesen im Clinch, von denen das eine sich selbst und das andere bevorzugt in der kategorischen Einzahl nennt: Die Einzahl «Mensch» und «Wolf» sozusagen als Instanz, die alles abdeckt und charakterisiert, was dazu zu sagen ist. Aber genauso, wie es «den Menschen» nicht gibt, gibt es auch «den Wolf» nur in den Köpfen und der Magengrube der Menschen und nicht in der biologischen Wirklichkeit – diese ist unglaublich vielfältig und komplexer, als man in einem Begriff fassen kann. Aber wen interessiert das schon, wenn die «Angst vor dem Wolf» die Agenda beherrscht und die Politik bestimmt?
Das komplexe Verhältnis zwischen diesen grossen Prädatoren und uns Menschen zeichnen wir hier in zwei Teilen nach. In diesem ersten Teil werden wir sehen, dass uns mehr mit den Wölfen verbindet, als wir denken würden. Und wie es dazu kam, dass Wölfe der Landbevölkerung zum Trauma wurden und man sie in der Schweiz ausrottete.
Die biologische Wirklichkeit ist die Geschichte eines grossen Missverständnisses. Wölfe als zähnefletschende Tyrannen mit einer brutalen Hierarchie in Gehegen, in der die Oberen, die «Alphas», die Unteren, die «Omegas» knurrend drangsalieren und zur bedingungslosen Unterwerfung und Demutshaltung zwingen. Wie gern hat sich sogar die westliche Wissenschaft dieses Vorbild der Wölfe in Gehegen bei ihren Nachfahren, den Haushunden, zur Methode gemacht, um als «Meister» den unterlegenen Hund zu dominieren und zum Gehorsam zu erziehen – mit Belohnung und Strafe, wenn es sein muss?
Wie konnte man wissen, dass die Hierarchie und das Verhalten der Wölfe im Gehege, vergleichbar mit dem Spazierhof in einem menschlichen Gefängnis, etwas ganz anderes ist als das Verhalten freilebender Wolfsfamilien in der Natur? Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Wölfe in Westeuropa bis auf winzige Reste ausgerottet, und auch die hiesige Wissenschaft kannte sie nur noch hinter Gittern.
Das Naturwissen über die vierbeinigen Jäger gibt es jedoch seit Jahrtausenden bis in die heutige Zeit bei manchen indigenen Völkern Amerikas, bei den sogenannten «Indianern», lange bevor die Weissen seit dem 18. Jahrhundert den Kontinent überschwemmten und die ursprüngliche Bevölkerung und die Natur gleichermassen erdrückten und grossflächig vernichteten. Wölfe galten etwa beim Volk der Cree seit je als Symbol der bedingungslosen Liebe und der aufopfernden Fürsorge. Oder bei den Tsistsistas, besser bekannt als «Cheyenne», verkörperten Wölfe den Gründungsmythos ihres Volkes und wurden als grosse Jäger respektiert und verehrt. Diese Stämme zähmten sogar Wölfe als Lastenträger und Gehilfen an den Travois, den Zuggestellen für ihre Ausrüstung und ihre Tipis.
Jagende und sammelnde Menschen, die in Wäldern und Prärien ohne Angst in unmittelbarer Nachbarschaft von Wolfsfamilien lebten, wie unsere Vorfahren vor über 30'000 Jahren in der Steinzeit, die damals zum ersten Mal wilde Wölfe in ihre Gemeinschaft aufnahmen und mit ihnen freundschaftlich zusammenlebten – etwas, was archäologische Funde aus vielen Gebieten Asiens und Europas belegen und was nicht nur in einem Ereignis «ein für alle Mal» geschah, sondern sich im Laufe der Jahrtausende in unterschiedlichsten Kulturen viele Male wiederholte: Wilde Wölfe aus dem Umfeld von Wohnstätten kamen zu den Menschen und wurden freundlich als vierbeinige Gefährten aufgenommen.
Das ist heute für viele Schafzüchter und für einen guten Teil der Bergbevölkerung im Wallis oder in der Surselva undenkbar. Was bedeutet es, dass es in den steilen Alpentälern im Gegensatz zu anderen Regionen der Schweiz wie dem Bernbiet, dem Entlebuch oder dem Appenzell kaum Hundehaltung gibt auf den Bauernhöfen? Und dass es in den alpinen Dörfern keine ortstypischen Hunderassen gibt, wie sonst fast überall? Wölfe und Hunde – mit Ausnahme vielleicht von Jagdhunden – gehören offenbar traditionellerweise nicht in diese Berg-Kulturen und sind ihnen weitgehend fremd. Liegt hier vielleicht eine Ursache der vehementen Ablehnung der Wölfe?
Ein Blick auf die andere Seite: Was sagt die heutige Wissenschaft über diese Wölfe in der Natur, im riesigen Verbreitungsgebiet der Spezies Canis lupus, das noch vor 1500 Jahren vom östlichsten Sibirien über ganz Asien nach Westeuropa, vom Pazifik bis an den Atlantik reichte – ebendiese Wölfe, die zudem ganz Nordamerika besiedelt hatten, von den Polargebieten im Norden bis nach Mexiko? Ein beispielloser Genozid der ständig wachsenden menschlichen Bevölkerung hat das Vorkommen der Wölfe während Jahrhunderten auf die heutigen bescheidenen Restpopulationen in Amerika, Europa und Asien reduziert.
Wölfe sind enorm anpassungsfähig und, obwohl sie derselben Art zugerechnet werden, erreichen bei grosse Individuen im hohen Norden um die 60 kg, selten sogar 80 kg Körpergewicht, während sie im Süden – etwa im Mittelmeergebiet – selten über 35 kg schwer werden. Alle diese Wölfe sind jedoch hochentwickelte, soziale Wesen, eine Eigenschaft, die sie mit den frühen Menschen gemeinsam haben. Gemeinsam war ihnen auch der hohe Bedarf an Fleisch in der Ernährung, den beide Arten gleichermassen durch eine gut organisierte Gruppenjagd deckten, wobei Beutetiere überwältigt wurden, die deutlich grösser waren als sie selbst.
In ungestört natürlichen Verhältnissen lebt ein Wolfspaar lebenslang monogam und zieht jedes Jahr seine Jungen auf. Die Jungen bleiben nach ihrer Geburt Ende Mai, Anfang Juni meist bis zum nächsten Frühjahr, manchmal aber auch zwei bis drei Jahre als junge Erwachsene bei den Eltern und beteiligen sich dann an der Aufzucht der Welpen des laufenden Sommers. In der Regel hat nur die Mutter im Elternpaar Junge, und sollte doch einmal eine ihrer Töchter trächtig werden, tötet die Familienmutter diesen Nachwuchs oft kurz nach der Geburt. So wird die Fortpflanzung in einem Wolfsrevier auf einen Wurf des führenden Weibchens, der Familienmutter, beschränkt.
Das Reviersystem der Wölfe ist mit dem der Menschen vergleichbar: Eine Familie besetzt ein Territorium, sozusagen ihr Haus mit Garten. Ungebetene Gäste, die ohne Erlaubnis eindringen, sind nicht willkommen und werden verjagt oder gar getötet. Der Familienverband besetzt seinen Wohnbereich exklusiv – und dieser ist im alpinen Bereich sehr ausgedehnt: Das Territorium einer Wolfsfamilie umfasst nach bisherigen Erfahrungen 100 bis 250 km2. So besetzen bei stabilen Verhältnissen etwa zwei bis fünf, selten sieben erwachsene Wölfe – also die Eltern mit ihren vorjährigen Jungen sowie mit ihrem einen Wurf von Welpen – etwa die Fläche des Kantons Zug.
Einen guten Teil ihrer Aktivität verbringen Wölfe damit, ihr Revier abzupatrouillieren, Grenzpunkte mit Urin und Kot zu markieren und dafür zu sorgen, dass keine fremden Artgenossen eindringen und bei ihnen unerlaubt jagen – genauso wie wir es nicht schätzen, wenn sich ein Fremder ungefragt in unsere Küche setzt und sich am Kühlschrank bedient. Immer wieder markieren sie ihr Revier auch akustisch, indem einzelne Wölfe oder die ganze Familie gemeinsam heulen.
Wenn die Jungen erwachsen werden, fordern sie nicht etwa die Eltern zum Duell um die Macht heraus – sie geniessen wie bei uns den Respekt von Vater und Mutter, und ihre natürliche Autorität und Erfahrung wird von den Jungen ohne Aufmucken akzeptiert. Die Jungwölfe wandern vom ersten bis zum dritten Lebensjahr ab. Das Abwandern über weite Distanzen verhindert Inzucht unter zu nahe verwandten Wölfen.
Bei ihrer Wanderung auf der Suche nach einem geeigneten Territorium legen die Jungen mitunter mehrere Hundert Kilometer zurück. Ist ein Gebiet mit vielen Revieren benachbarter Familien bereits besetzt, wird diese Wanderung zum gefährlichen Spiessrutenlauf. Denn dort werden junge Wanderer als unerwünschte Eindringlinge von den Revierbesitzern aufgespürt, verjagt oder gar getötet. So sorgen Wölfe in stabilen Verhältnissen weitgehend selbst dafür, dass in einer Region nur so viele Individuen aufs Mal leben, als ihnen die dortigen Huftiere – Hirsche, Rehe, Gämsen – und Wildschweine eine Nahrungsgrundlage bieten.
Genauso wie die Wölfe verteidigten in der Steinzeit auch die Menschen ihre exklusiven Wohn- und Jagdgebiete, und dieser Sinn für das eigene Territorium ist in unserem eigenen menschlichen Verhalten bis heute erhalten geblieben – man stelle sich die eigenen Emotionen vor, wenn ein Fremder den gemieteten Parkplatz besetzt oder gar in unseren Wohnbereich eindringt. Man erinnere sich an die leidenschaftlichen Fehden von Nachbarn am Gartenzaun. Und auf nationalem Niveau lässt sich die Territorialität der Menschen bis hin zu Kriegen mobilisieren …
Eine weitere, natürliche Regulierung des Wolfsbestandes bewirkt die hohe Sterblichkeit der Jungen. Bis zur Hälfte der Welpen überstehen in der Natur das erste Lebensjahr nicht. Klimaeinflüsse und Parasiten stellen sicher, dass nur die Stärksten weiterkommen. Entscheidend dabei ist die Ernährungslage vor dem Winter. Und da leistet die Jagd der Menschen in den Bergkantonen jeden Herbst einen bedeutenden Beitrag, dass die Jungwölfe mehr als genug zu fressen haben und für die Winterzeit mit einem dicken Fettpolster ausgestattet sind. Das dürfte ihre Überlebenschancen und damit das Wachstum der Wolfspopulation deutlich erhöhen.
Doch wie kommt es bei allen diesen Gemeinsamkeiten von Menschen und Wölfen zu so viel Angst zwischen beiden Arten? Auf den ersten Blick misstrauen beide fremden Artgenossen gleichermassen oder sie fürchten sie sogar. Steuert unsere Territorialität heute noch unser Misstrauen nicht nur gegenüber fremden Menschen, sondern auch gegenüber Wölfen? Einer Art, die in der Schweiz seit 150 Jahren ausgerottet war und die man in früheren Zeiten nur äusserst negativ erlebte?
Was erstaunen mag, ist schnell erklärt: Seit dem Mittelalter gab es in der Schweiz selten viele Wölfe. Die wirtschaftliche Grundlage der Urkantone war zur Zeit der Gründung der Eidgenossenschaft die Viehzucht. Und diese war mit grossen Prädatoren schlecht kompatibel. Aber im Gegensatz zu den Nachbarländern, die von Adligen beherrscht wurden, die ihren Untertanen keine Waffen erlaubten, durften die Eidgenossen dank eines Freibriefs des deutschen Kaisers Waffen tragen. Sie mussten sich also zum Schutz ihrer Herden keine Herdenschutzhunde zulegen wie die Nachbarn, sondern hielten die Wölfe und Bären mit ihren Waffen in Schach, wie dies eindrücklich Johannes Stumpf in seiner umfassenden Chronik über die Eidgenossen von 1548 beschrieb.
Europaweit erlebten die Menschen die Wölfe in den vielen politischen und kriegerischen Wirren durch die Jahrhunderte als Begleiter des Horrors. Seit der Antike gab es ja kaum eine Generation, die nicht Kriege, Seuchenzüge oder Hungersnöte durchlitt – etwas, was wir uns im heutigen Wohlstand kaum noch vorstellen können.
Und in dieser Lebenslage ständiger Bedrohungen, von denen man im eigenen Siedlungsbereich ohne heutiges Nachrichtensystem jederzeit überrascht und entwurzelt werden konnte, wurde die Natur ausserhalb der Siedlungen als unheimlich und feindlich erlebt: Die Wälder waren undurchdringlich und finster und von dubiosen Figuren und Räuberbanden bewohnt, die die Gesellschaft ausgestossen hatte. Die eigene Sicherheit auf mühseligen Reisen war immer wieder äusserst fragil. Und von den wilden Tieren – namentlich von Wölfen und Bären – erlebte die Landbevölkerung nur, dass sie ihnen die Nutztiere raubten, auf die die armen Menschen dringend angewiesen waren – vor allem dann, wenn Kriege oder Seuchen die gesamte Lebensordnung zerstörten.
Im 19. Jahrhundert – nachdem auch die Menschen der Schweiz in den Napoleonischen Kriegen arg gebeutelt worden waren – spitzte sich die ökologische Lage in den Alpen bedrohlich zu. Der Ausbruch des Mega-Vulkans Tambora in Indonesien im Jahre 1815, der durch eine gigantische Aschewolke einen «atomaren Winter» und damit weltweit Missernten und Hungersnöte provozierte, traf auch die Schweiz hart.
Die starke Ausbreitung der Kartoffeln aus Amerika im 18. Jahrhundert hatte die Bevölkerung anwachsen lassen – und damit die Armut. Dies förderte den Raubbau an den Bergwäldern, denn Holz, das geschlagen und in den Flüssen stückweise talwärts geflösst wurde, war eine wichtige Einkommensquelle der Gemeinden: Brennstoff für die Maschinen der frühen Industrialisierung in den Städten. 1840 war die Waldfläche der Schweiz durch Übernutzung auf 7000 Quadratkilometer zusammengeschrumpft.
Der Raubbau an den Wäldern führte im Unterland zu Überschwemmungen, weil die Niederschläge aus den Bergen ohne Wald viel zu schnell abflossen. Dies führte zu den umfassenden Flusskorrektionen als Hochwasserschutz, etwa der Aare oder der Linth. Schliesslich stoppte das erste Waldgesetz von 1876 den Raubbau an den Bergwäldern erfolgreich. Aber das Ökosystem befand sich auf einem Tiefpunkt.
Mit dem Abholzen der Wälder verloren die Wildtiere im 19. Jahrhundert ihre Lebensräume und sie wurden von der darbenden Bevölkerung so stark bejagt, bis Wildschweine, Rothirsche und Rehe vollständig und die Gämsen nahezu ausgerottet waren. Damit hatten Wölfe, die aus den Nachbarländern immer wieder einwanderten, keine natürliche Beute mehr und hielten sich ausgehungert an die menschlichen Abfälle und an die Haustiere, was sie vor allem im Winter in die Nähe oder gar mitten in die Siedlungen trieb.
Zudem waren sie gefürchtet, weil sich die Wölfe mit dem tödlichen Tollwut-Virus bei Haushunden infizierten und dann aggressiv und furchtlos in die Dörfer eindrangen. Dort bissen sie Menschen, die danach an der Tollwut qualvoll starben. Die Wölfe waren also damals – obwohl in der Realität selten, aber umso mehr in den Erzählungen – für die Bergbevölkerung traumatisch. Wölfe, die sich nicht nur nachts, sondern furchtlos am Tag zeigten, wurden als krank und damit besonders gefährlich erlebt.
So wurden die wilden Fleischfresser erbittert verfolgt, und mit dem Einsatz von geruchlosen Giftködern, die seit dem Handel mit Übersee verfügbar waren, gelang es schliesslich nach 1850, sie im Gebiet der Schweiz vollständig auszurotten. Aber konnte sich das Trauma der Wölfe in den Menschen tatsächlich bis heute halten?
Leider ist das Märli vom bösen Wolf bei zu vielen Menschen fest verankert, als das nach Wissenschaft und Fakten entschieden wird.
Rösti hat hier eindeutig Volkswille gebrochen.