Dieses Modell zeigt, wieso es noch zu viele S-Menschen gibt
Rund um das Coronavirus häufen sich die Statistiken. Den Überblick – und vor allem den Durchblick – zu behalten, ist eine Herausforderung. Christoph Luchsinger, Dozent des Instituts für Mathematik an der Universität Zürich, verknüpft Fakten und Prognosen zu einem einzigen Modell.
Luchsinger ist es wichtig, dass die Pandemie-Statistiken verständlich kommuniziert werden. «Mit Mathematik lässt sich die eigene Argumentation schärfen. Man versteht den Zusammenhang», sagt der Dozent, und stellt das SIR-Modell vor:
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Die natürliche Epidemie
Ein Gedankenspiel: Wir schreiben das Jahr 2019, die Welt verläuft in ihren gewohnten Bahnen und es gibt weit und breit keine Infizierten. Eines Tages isst ein Mensch eine Fledermaus und das Corona-Virus beginnt sich zu verbreiten – und niemand unternimmt etwas dagegen.
Ohne Gegenmassnahmen sorgen die wenigen Personen, die das Virus einschleppen, für eine starke und schnelle Verbreitung. Bei einem R0 von 2-3 gilt, dass erst wenn 60-70% der Bevölkerung gegen das Virus immun sind (60-70% R-Personen), beginnt die Sättigung und die Epidemie geht auf natürliche Weise zu Ende. Dieser Verlauf ist in der Grafik #1 abgebildet.
Epidemie-Verlauf #1
- Die pinke Kurve zeigt die Zahl der S-Personen: Am Anfang ist ein Grossteil der Bevölkerung für das Virus empfänglich.
- Die blaue Kurve stellt die R-Personen dar, die im Laufe der Seuche zunehmen.
- Die grüne Kurve zeigt die Zahl der aktuell infizierten Personen: Je grösser der grüne Peak, desto schwieriger die Situation für das Gesundheitswesen.
Für den natürlichen Sättigungseffekt müssten rund 5.5 Millionen Schweizerinnen und Schweizer immun sein. Diese Form der natürlichen Herdenimmunität ist aber weder für die Wirtschaft noch das Gesundheitswesen tragbar.
Gegenmassnahmen
Verschiedene Massnahmen können in den natürlichen Verlauf einer Epidemie eingreifen. Eine Möglichkeit ist, einen Impfstoff einzusetzen, der die Zahl der R-Personen künstlich erhöht.
Epidemie-Verlauf #2
- Die pinke Kurve: Schon zu Beginn der Seuche sind deutlich weniger Menschen für das Virus empfänglich.
- Die blaue Kurve: Die Zahl der R-Personen ist durch die künstliche Immunität viel höher als ohne Impfstoff.
- Die grüne Kurve: Es gibt generell weniger Infizierte.
Der Corona-Fall
Um es vorwegzunehmen: unsere Pandemie ist noch lange nicht ausgestanden. Die Grafik #2 zeigt ein Szenario mit Impfstoff. Im Fall von Corona gibt es aber noch keine Impfung.
«Gibt es keinen Impfstoff und ist eine rigorose Abschottung unmöglich, bleibt nur die Senkung von Reff unter 1», sagt Luchsinger. Übersetzt bedeutet das, dass I-Personen im Schnitt weniger als einen direkten Epidemie-Nachkommen haben dürfen. Nur so sinkt die Zahl der Infektionen.
Reff = R0 mal der Anteil an S-Personen
Reff > 1 = Zahl der Infektionen steigt
Reff < 1 = Zahl der Infektionen sinkt
Im Gegensatz zu R0, berücksichtigt Reff die steigende Anzahl von R-Personen.
Die «Social Distancing»-Massnahmen des Bundes können Reff senken. Gleichzeitig wird aber die Sättigung zeitlich nach hinten verschoben. «Solange es keine Sättigung gibt, müssen die verordneten Gegenmassnahmen bleiben, sonst kommt es immer wieder zu Neuinfektionen», sagt Christoph Luchsinger.
Zum selben Schluss kommt auch die deutsche Chemikerin und Youtuberin maiLab. Sie erklärt, weshalb eine flache I-Kurve allein nicht ausreicht, um die Lage zu stabilisieren: Es würde schlicht zu lange dauern, bis sich der Sättigungseffekt einstellt.
Nur ein Impfstoff könne ein schnelles Ende der Corona-Krise einleiten. Optimistische Stimmen sprechen von einer frühsten Fertigstellung im Frühling 2021.
