Polarisierung nimmt zu, Toleranz nimmt ab – weil wir mehr Freunde haben
Die einen machen Migranten für nahezu sämtliche Probleme verantwortlich, die anderen sehen in jeder zuwanderungskritischen Äusserung bösartige Hetze – und beide reden kaum noch miteinander. Es scheint, dass sich die gesellschaftlichen und politischen Echokammern immer weiter voneinander entfernen und die Polarisierung stetig zunimmt. Woran liegt das?
Diese Frage hat sich auch der österreichische Physiker und Komplexitätsforscher Stefan Thurner vom Complexity Science Hub (CSH) in Wien gestellt: «Die grosse Frage, mit der nicht nur wir, sondern viele Länder derzeit zu kämpfen haben, ist, warum die Polarisierung in den letzten Jahren so dramatisch zugenommen hat», sagt er in einer Pressemitteilung des CSH.
Thurner und sein Forschungsteam haben eine markante Zunahme der Polarisierung in der Gesellschaft zwischen 2008 und 2010 festgestellt. Und sie haben diese Entwicklung mit einer deutlichen Veränderung des Sozialverhaltens, die etwa gleichzeitig erfolgte, in Zusammenhang gebracht: Die Zahl der engen sozialen Kontakte stieg von durchschnittlich zwei auf vier bis fünf Personen. Dies könnte der Grund dafür sein, dass Gesellschaften weltweit zunehmend in ideologische Blasen zerfallen. Die Forschungsergebnisse sollen am 31. Oktober im Fachblatt Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erscheinen.
Einseitigere politische Einstellungen
Um die Polarisierung zu messen, wertete das Forschungsteam mehr als 27'000 Umfragen aus dem Zeitraum von 1999 bis 2017 des «Pew Research Center» aus. Dieses Institut fragt in den USA in regelmässigen Abständen politische Einstellungen ab. «Der wichtigste Vorteil dieser Daten ist, dass die Fragen im Laufe der Zeit nahezu unverändert geblieben sind, was zuverlässige Langzeitvergleiche ermöglicht», erklärt Markus Hofer vom CSH, der an der Studie beteiligt war.
Die Analyse der Umfragen erbrachte, dass politische Einstellungen zwischen 1999 und 2017 deutlich einseitiger wurden. So waren 1999 nur 14 Prozent der Befragten konsequent in ihren liberalen Ansichten. Im Jahr 2017 war dieser Anteil auf 31 Prozent gestiegen. Umgekehrt hielten 1999 nur 6 Prozent der Befragten konsequent an konservativen Ansichten fest, verglichen mit 16 Prozent im Jahr 2017. «Immer mehr Menschen schliessen sich eindeutig einem politischen Lager an, anstatt eine Mischung aus liberalen und konservativen Ansichten zu vertreten», erläutert Hofer.
Mehr enge Freundschaften
Um Freundschaftsnetzwerke zu analysieren, kombinierte das Forschungsteam 30 verschiedene Umfragen zwischen 2000 und 2024 mit insgesamt mehr als 57'000 Befragten aus Europa und den USA. «Trotz kleiner Unterschiede zwischen den einzelnen Umfragen zeigen die Daten übereinstimmend, dass die durchschnittliche Anzahl enger Freundschaften von 2,2 im Jahr 2000 auf 4,1 im Jahr 2024 gestiegen ist», sagt Hofer. Enge Freundschaften definiert Thurner als Beziehungen zu Personen, mit denen man über alles redet – von Politik über Sexualität bis zu Partnerschaft – und die die eigene Meinung in wesentlichen Dingen beeinflussen können.
Mithilfe eines mathematischen Gesellschaftsmodells verglichen die Forscher den Zusammenhang zwischen Meinungen und sozialen Interaktionen. «Ganz einfach erklärt, bildet das Modell jede Person als Avatar ab. Jeder Avatar hat einige Dutzend Meinungen zu verschiedenen Themen, etwa in Bezug auf das Wahlverhalten, zur Todesstrafe oder zu Veganismus», erklärt Thurner. «Wenn sich nun zwei Personen treffen, vergleichen sie ihre Meinungen. Dabei entscheidet die Ähnlichkeit der Meinungen über die Frequenz bzw. Intensität der Beziehung.»
«Kritische Freundschaftsdichte»
Es zeigte sich, dass sich das Netzwerk aufgrund der höheren Anzahl von engen Freundschaften verdichtete und die Interaktionen dynamischer wurden. Die Polarisierung nahm stark zu, wenn eine kritische Freundschaftsdichte erreicht wurde. «Dadurch konnten wir zeigen, dass zunehmende Verbundenheit unweigerlich zu einer plötzlichen Polarisierung führen muss, sobald eine kritische Verbindungsdichte überschritten wird, ähnlich wie bei einem Phasenübergang in der Physik, beispielsweise wenn Wasser zu Eis wird», erklärt Hofer. «Es ist faszinierend, dass diese Phasenübergänge auch in Gesellschaften existieren. Die genaue kritische Schwelle muss noch untersucht werden, aber unseren Ergebnissen zufolge liegt sie für enge Beziehungen irgendwo zwischen drei und vier Personen.»
Unten: Geschätzte durchschnittliche Anzahl enger Freunde nach Land und Umfrage. Die gestrichelte Linie zeigt eine logistische Regression über alle Datenpunkte hinweg. Der Übergang von geringer zu hoher Konnektivität erfolgte, kurz nachdem Facebook öffentlich zugänglich wurde (vertikale Linie I – 2006) und andere Websites im US-Traffic überholte (vertikale Linie II – 2010).Grafik: Complexity Science Hub
Der starke Anstieg sowohl der Polarisierung als auch der Anzahl enger Freunde fand zwischen 2008 und 2010 statt – genau zu dem Zeitpunkt, als soziale Medien und Smartphones erstmals weite Verbreitung fanden. Dieser technologische Wandel könnte die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Kontakt treten, grundlegend verändert und indirekt die Polarisierung gefördert haben.
Mehr Freunde – weniger Toleranz
«Wenn ich zwei Freunde habe, tue ich alles, damit ich sie nicht verliere und bin ihnen gegenüber dementsprechend sehr tolerant. Wenn ich aber fünf habe und es wird mit einem davon schwierig, ist es einfacher, den Fünften auszutauschen und mir jemand anderen zu suchen», erklärt Thurner. Der Haupteffekt davon sei, dass Menschen mit ähnlichen Meinungen immer stärker in sogenannten Bubbles zusammenfinden. Zwischen diesen Blasen finde dann kaum mehr Austausch statt. Thurner räumt ein, dass dies ein Stück weit kontraintuitiv ist: Oft werde nämlich angenommen, dass mehr soziale Vernetzung bzw. Gespräche mit Menschen, die anderer Meinung sind, zu höherer Toleranz führten.
Der fehlende Austausch zwischen den Lagern ist langfristig gefährlich für die Demokratie, warnt Thurner. «Demokratie hängt davon ab, dass alle Teile der Gesellschaft in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, was voraussetzt, dass alle miteinander kommunizieren können. Wenn Gruppen jedoch nicht mehr miteinander sprechen können, bricht dieser demokratische Prozess zusammen.» Die gesellschaftliche Grundhaltung der Toleranz, ohne die demokratische Strukturen auf die Dauer erodieren, verschwinde dadurch. Um eine zunehmende Fragmentierung der Gesellschaften zu verhindern, sei es wichtig, betont Thurner, frühzeitig zu lernen, mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen und Toleranz aktiv zu fördern. (dhr)
