Herr Hermann, am Mittwoch wurde das letzte Wahlbarometer Ihres Instituts Sotomo veröffentlicht. Demnach rangiert das Thema Wokeness auf Platz 2 der grössten Ärgernisse der Schweizer Stimmbevölkerung. Überrascht Sie das?
Michael Hermann: Nein, es hat mich nicht überrascht, dass dieses Thema so viele Emotionen weckt. Viele lassen sich davon provozieren, es ist ein Reizthema, für den Wahlentscheid spielt es dennoch nur eine untergeordnete Rolle.
Treibt der Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn» die Leute also nicht an die Urne?
Viele sagen, dass das Thema sie nervt, aber deutlich weniger sind der Meinung, dass die Politik Massnahmen ergreifen müsse. Ganz anders bei der Zuwanderung, der Krankenkassenprämie oder beim Klimawandel. Da wollen die Wählenden, dass die Politik handelt.
Denken Sie nicht, dass die SVP dennoch davon profitiert, dass der «Wahn» die Bevölkerung ärgert?
Doch, tendenziell schon. Die SVP gewinnt allerdings vor allem, weil die Zuwanderung als Thema wieder wichtig ist. Aber klar, die Begriffe Wokeness und Gender wecken vor allem auf der rechten Seite Emotionen und tragen eher dort zur Mobilisierung bei. Bei gesellschaftspolitischen Themen hat sich die Stimmung in den vergangenen vier Jahren stark verändert.
Welche Veränderung hat stattgefunden?
Die Gesellschaftspolitik mobilisierte Ende der 2010er-Jahre vor allem die progressive Seite. Es ging um die «Ehe für alle» und selbst Grossunternehmen setzten plötzlich auf Diversität. Es hiess nun: «Es kann doch nicht sein, dass ein Verwaltungsrat nur aus Männern besteht.»
Interessierte sich die konservative Seite früher nicht für gesellschaftspolitische Themen?
Doch, aber eine konservative Gesellschaftspolitik war am Schluss fast nur noch in evangelikalen Kreisen, wie bei der EDU, angesagt. Selbst die SVP hielt sich zurück und stellte mit Hans-Ueli Vogt sogar den ersten offen homosexuellen Bundesratskandidaten. Die Schweiz ist offener geworden, doch mit dem neuen Thema Wokeness ist die Stimmung gekippt und nun hat die SVP die Deutungshoheit.
Der «Woke-Wahnsinn» wird bekämpft. Hat die Schweiz Angst vor einem Fantasma oder ist das Problem real?
Lange war das Thema Wokeness eher ein Feuilleton-Thema, das in rechtsbürgerlichen Zeitungen, wie der NZZ, abgehandelt wurde. Es war eine Thematik, die vielleicht in den USA, aber nicht bei uns eine Breitenwirkung hatte. Dies änderte sich mit der Geschichte von der Brasserie Lorraine – dort musste eine Reggae-Band ihr Konzert abbrechen, wegen des Vorwurfs der kulturellen Aneignung. Das sorgte für Empörung und dafür, dass sich viele in der Schweiz plötzlich selbst davon betroffen sahen. Es braucht erstaunlich wenige reale Ereignisse, um das Anti-Wokeness-Feuer am Lodern zu halten.
Weshalb sind die Fronten so verhärtet?
Die progressive Seite hat früher primär Toleranz für andere Lebensweisen gefordert und die Konservativen argumentieren eher mit Moral und sittlicher Ordnung. Das hat gekehrt: Die linke Seite argumentiert heute mit Normen, Moral und richtigem Verhalten. Es geht nicht mehr nur darum, dass man tolerant sein sollte gegenüber anderen, sondern es wird auch eingefordert, sich selbst korrekt zu verhalten.
Die Gender- und Wokeness-Debatte wird auf der linken Seite aber primär ausserparlamentarisch geführt von Aktivisten und nicht von Politikern, oder?
Genau, es ist ein Thema, um das etwa die SP-Führung im Wahlkampf einen Bogen macht. Die sprechen viel lieber über die Stärkung der Kaufkraft. Dennoch gibt es nun Queer-Quoten auf einzelnen SP-Listen. Insgesamt sind die linken Parteien jedoch eher zurückhaltend, weil sie wissen, dass Wokeness auch in den eigenen Kreisen teilweise Unbehagen weckt.
Aber was ist das Problem, das die Leute mit dem «Woke-Wahnsinn» haben? Es gibt schliesslich keine Woke- oder Genderpolizei, welche die Leute abstraft, wenn sie etwas Falsches sagen.
Ja, im Alltag können die meisten Menschen sagen, was sie wollen. Es geht vielmehr um das Gefühl, die Gesellschaft entwickle sich in die falsche Richtung und die bestehende gesellschaftliche Ordnung werde infrage gestellt. Im Amerikanischen wird das als «moral panic» bezeichnet. Das ist ähnlich wie in den 1970er-Jahren als sich die Hippies lange Haare wachsen liessen und die freie Liebe predigten. Nur waren es damals die Boomer, welche die Älteren provozierten.
Die Recherchen von watson haben ergeben, dass die Wortkreation «Woke-Wahnsinn» erst 2021 in den deutschsprachigen Schweizer Medien vereinzelt aufgetaucht ist. 2019 und 2020 gab es keinen einzigen Schweizer Zeitungsartikel darüber. 2023 sind es bereits über 400 Artikel, in denen «Woke-Wahnsinn» vorkommt. Wie erklären Sie sich das?
Auch der Begriff «Wokeness» ist recht neu. Der Kampfbegriff der Rechten hiess lange «Political Correctness». Der Kulturkampf war aber eher eine akademische Angelegenheit. Durch die Erfolge der LGBTQ+- und der Frauenbewegung, aber auch von Black Lives Matter hat sich jedoch etwas verschoben. Es entstand in einem Teil der Bevölkerung der Eindruck, dass Gewissheiten infrage gestellt werden. Dann genügten ein paar Artikel über «Winnetou» oder die Brasserie Lorraine, um die Begriffe «Woke-Wahnsinn» und «Gender-Gaga» zu etablieren. Wokeness und Gender sind eng verknüpft.
Wie sind die Thematiken verknüpft?
Der Erfolg der Abstimmung zur «Ehe für alle» 2021 war eine Art Wendepunkt. Die ersten drei Buchstaben von LGBTQ+ hatten ihr Ziel damit beinahe erreicht. Und wenn man seine Ziele erreicht hat, steht auch nichts mehr zur Debatte. Aber es entstehen neue Forderungen und der Fokus hat sich in Richtung queere und non-binäre Menschen verschoben und der Genderstern wurde eingeführt. Non-binäre Geschlechtsidentitäten sind heute für viele Menschen das, was Homosexualität in den 1980er-Jahren war. Eine Provokation und ein Tabu.
Hat die Wokeness oder das Gendern die Bevölkerung bei den Wahlen im Jahr 2019 schon genervt?
Das war überhaupt kein Thema damals. Damals hatten erstmals seit langem auch bürgerliche Frauen den Feminismus für sich wiederentdeckt, weil sie gemerkt haben, dass Gleichstellung noch lange nicht erreicht ist.
Das Problem war also vor vier Jahren inexistent. Weshalb ist die Debatte nun so extrem aufgeheizt?
Zum einen, weil immer lauter neue und teilweise schrille Forderungen gestellt wurden, es geht aber nicht nur um Rechte für Transmenschen und Non-binäre. Es geht auch um das Verhältnis zwischen Frauen und Männern. Viele Männer haben Angst davor, die Deutungshoheit zu verlieren. Männer kommen teilweise unter Druck, weil es vermehrt Frauenquoten gibt, damit das Verhältnis ausgeglichener ist. Die männliche Dominanz wird infrage gestellt. All das hat zu einer Art Backlash geführt.
Also brauchte es Zeit, um den Widerstand zu formieren?
Exakt. Die Schwachstellen der progressiven Bewegung mussten zuerst gefunden werden. Gender war noch vor kurzem ein völlig normaler Begriff und heute ist er hochpolitisiert.
Es prallen also Verlustängste auf immer mehr neue Forderungen. Wie kann die Debatte zielführend geführt werden?
Für die Debatte wäre es wichtig, von dieser Empörungsspirale wegzukommen. Der Fokus sollte darauf liegen, dass es Menschen gibt, die sich in ihrem Geschlecht nicht wohlfühlen und mehr Akzeptanz benötigen. Die Empathie wäre in der Gesellschaft grundsätzlich da. Ebenso das Verständnis, dass divers zusammengesetzte Teams einen Mehrwert bringen.
Müssen beide Seiten an ihrer Argumentation arbeiten?
Ja, es geht darum, dass man zeigen sollte, wie sehr gewisse Menschen unter der Intoleranz von anderen leiden, und weniger darum, dass man von anderen fordert, wie sie zu sprechen haben. Man sollte sich überlegen, für welche Schlachten sich das Kämpfen lohnt.
Zum Schluss noch eine philosophische Frage: Weshalb ist die Angst ein besserer Treiber, um Stimmen zu gewinnen, als die Hoffnung?
Vor vier Jahren hatten wir eine Art Hoffnungswahl, man hat auf Veränderung gesetzt. Hoffnung ist wie ein Gefühl von Verliebtheit, doch mit der Zeit setzt die Realität ein und es ist doch nicht alles so glänzend, wie man gedacht hat. Die Ernüchterung folgt. Verlustängste sind schlussendlich hartnäckiger als die Hoffnung, das Positive ist viel flüchtiger als das Negative.
Aber was zu weit geht, geht zu weit. „Brasserie Lorraine“ und Kleber auf Strassen sind nur Beispiele von vielen — für eine Schweiz, die wir einfach nicht wollen! Linke Politiker distanzieren sich zuwenig.
Dasselbe gilt bei den Unternehmensgründungen, den Studienrichtungen, die es dafür braucht, den Insolvenzen (aufgrund der gescheiterten Unternehmensgründungen), den Suiziden, den Arbeitsunfällen, dem Militär-Frondienst, etc. Solange man nicht zeigt, dass das alles auf Diskriminierung beruht, sind Quoten nur bei den positiven Dingen unglaubwürdig. Erst mal verpflichtend gleiche Elternzeit, das würde nämlich nicht den Quotenfrauen helfen, sondern denen, die die Qualifikation wirklich haben.