Genozid gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte. Verbrechen wie der Völkermord an den Armeniern, der Holocaust im Zweiten Weltkrieg, der Genozid in Ruanda, das Massaker von Srebrenica und viele andere mehr haben unvorstellbar viel Leid verursacht. Genozid ist ein Fenster in die finsteren, erschreckenden Abgründe der menschlichen Natur.
Gleichzeitig hat «Genozid» – so verrückt es klingen mag – aber auch ungemein viel Leid verhindert und die Welt fast unvorstellbar stark verbessert. Diese Art des «guten Genozids» richtet sich allerdings nicht gegen Menschen, sondern gegen nicht-menschliches Leben, vor allem im Kampf gegen Infektionskrankheiten.
Den moralisch «guten Genozid» erachten wir zumeist nicht als Genozid, obwohl er genau dies ist: Die gezielte und systematische Auslöschung von Leben. Eine ehrliche Debatte über «Genozid» ist aber überfällig, weil technologische Entwicklungen «Genozid» immer einfacher machen und wir ohne klare moralische Leitplanken riskieren, katastrophale und unumkehrbare Fehler zu begehen.
Die Pocken waren einer der grössten Killer der Menschheitsgeschichte. Allein im 20. Jahrhundert haben über 300 Millionen Menschen aufgrund der Pocken einen äusserst qualvollen Tod erfahren. Dank einer weltweiten Kampagne unter der Leitung der Weltgesundheitsorganisation WHO gelang es zu Beginn der 1980er, diese Geissel der Menschheit zu eliminieren: Die Pocken wurden dank weltweiter Impfkampagnen ausgelöscht.
Die Auslöschung der Pocken bedeutete auch die Auslöschung der Variola-Viren, welche für die Pocken verantwortlich waren. Mit anderen Worten: Dank eines systematischen «Genozids» konnte ungemein viel Leid verhindert werden. Die Auslöschung der Pocken ist nicht die einzige «Genozid»-Kampagne zum Zwecke der Leid-Reduktion.
Aktuell sind beispielsweise die Bakterien, die Frambösie verursachen, sowie die Würmer, die für Drakunkulose («Guinea Worm Disease») verantwortlich zeichnen, am Rande der Auslöschung. Technologische Entwicklungen rund um die CRISPR-Methode der Genmanipulierung (Stichwort «Gene Drive») haben es zudem ermöglicht, beispielsweise gezielt jene Moskito-Spezies auszulöschen, die Krankheiten wie Malaria oder Gelbfieber übertragen.
All diese Beispiele sind schwerwiegende Eingriffe in die Natur. Aber wenn die Natur brutal und leidvoll ist, haben wir als Zivilisation die moralische Pflicht, etwas gegen sie zu unternehmen. Das ist auch komplett unumstritten: Kaum jemand – ausser vielleicht psychopathisch veranlagte Menschen oder eingefleischte Impfgegner – glaubt, dass Pocken und Malaria eine Bereicherung sind, die wir beibehalten sollten.
Moralisch gerechtfertigter «Genozid» zeichnet sich also dadurch aus, dass durch den «Genozid» ein grosses Ausmass an Leid verhindert wird. Bedeutet das, dass wir ohne grosse Bedenken nicht-menschliches Leben auslöschen dürfen, solange damit Leid reduziert wird? Nein: Im Moment ist noch komplett unklar, wie die moralischen Abwägungen für «guten Genozid» im Detail aussehen sollen.
Man stelle sich zwei «Genozid»-Kampagnen vor: Die Auslöschung der Pocken (Variola-Viren) zum einen, die Auslöschung von Malaria (die Moskito-Gattung Anopheles) zum anderen. Für das Gedankenexperiment nehmen wir an, dass in beiden Fällen in etwa gleich viel Leid verhindert wird. Wir gehen der Einfachheit halber also davon aus, dass die Pocken ähnlich schlimm wie Malaria sind. Die zwei «Genozid»-Kampagnen verursachen konsequenterweise also in etwa gleich viel Gutes. Aber sie sind nicht ganz identisch: Die «Genozid»-Kampagne gegen Moskitos richtet mehr moralischen «Schaden» an.
Viren sind komplett ohne Empfindungsfähigkeit. Da Viren keinen eigenen Stoffwechsel haben, gelten sie sogar als nicht «richtig» lebendig. Das bedeutet, dass eine «Genozid»-Kampagne gegen Viren diesen Wesen kein Leid zufügen kann und auch nicht ihr zukünftiges Potenzial für «Glück» vernichtet, weil sie keine glücksähnlichen Empfindungen haben können. Moskitos hingegen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest in Ansätzen empfindungsfähig. Auch wenn die «Genozid»-Kampagne gegen Moskitos sanft ist und über vererbte Unfruchtbarkeit durchgeführt wird, berauben wir all die potenziellen zukünftigen Moskito-Generationen ihres «Glücks».
In beiden Fällen sagt unser Bauchgefühl, dass das moralische Kalkül wohl zugunsten des «Genozids» ausfällt. Es mag sein, dass die «Genozid»-Kampagne gegen Moskitos ein gewisses Mass an moralischem Schaden anrichtet, aber der Nutzen, den die Auslöschung der Moskitos mit sich bringt, dürfte den Schaden rechtfertigen.
Doch was geschieht, wenn wir weniger krasse und offensichtliche Fälle bedenken? Zum Beispiel eine «Genozid»-Kampagne gegen Ratten? Ratten übertragen diverse Krankheiten und verursachen Leid, das aber deutlich geringer ist als jenes, das durch Pocken und Malaria verursacht wird. Zudem sind Ratten klar empfindungsfähige Wesen – indem wir sie auslöschen, berauben wir alle potenziellen zukünftigen Ratten-Generationen ihres «Glücks».
Wir können die moralische Abwägung dieser drei «Genozid»-Kampagnen auch bildlich darstellen:
Wäre eine «Genozid»-Kampagne gegen Ratten zu rechtfertigen, oder ist die Differenz zwischen Schaden und Nutzen zu wenig gross? Und wie sieht es mit anderen Lebewesen aus, bei denen das Verhältnis von Schaden und Nutzen noch weniger klar als bei Ratten ist? Könnte «Genozid» vielleicht sogar zulässig sein, wenn uns eine Spezies bloss nervt, aber nicht allzu grosses Leid verursacht?
Die Antwort auf diese Fragen ist – ein Schulterzucken. Es gibt bisher keine Debatte über die moralischen Regeln des «guten Genozids». Die Weltgesundheitsorganisation WHO beispielsweise war und ist federführend bei mehreren weltweiten «Genozid»-Kampagnen, aber eine Auseinandersetzung mit moralischen Leitplanken für «Genozid» sucht man bei der WHO vergebens.
Wir betreiben heute systematisch «Genozid», ohne Regeln definiert zu haben, wann «Genozid» zulässig ist und wann nicht. Damit besteht das Risiko, dass wir schwerwiegende moralische Fehler begehen. Wir könnten uns beispielsweise in einen «Genozid» hineinkaprizieren, der sich bei genauerem Hinschauen als moralische Fehlkalkulation entpuppt. Oder wir könnten wegen Unsicherheit einen «Genozid» vermeiden, der aber moralisch angebracht wäre. Diese Risiken sind umso grösser, als es im Zuge technologischen Fortschritts immer einfacher wird, «Genozid»-Kampagnen durchzuführen.
Eine Debatte über «guten Genozid» ist doppelt unangenehm. Zum einen widerspricht es unserem Bauchgefühl, «Genozid» überhaupt als etwas, was gut sein kann, anzusehen. Diesen inneren philosophischen Schweinehund zu überwinden, ist schwierig. Zum anderen ist das Bestimmen der richtigen moralischen Schwellen, ab denen «Genozid» zu rechtfertigen ist, eine Herkulesaufgabe. Es ist alles andere als offensichtlich, wie die moralischen Leitplanken für «guten Genozid» auszusehen haben.
So unangenehm die Debatte über «guten Genozid» sein mag, so überfällig ist sie. Je länger wir ohne eine solche Debatte «Genozid»-Kampagnen gegen nicht-menschliches Leben durchzuführen, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir eine moralische Katastrophe verursachen. Gut gemeinter «Genozid» ist nämlich nicht automatisch «guter Genozid».