Leute der besseren Gesellschaft führten früher ein Gästebuch. Darin konnten sich Gäste selbst verewigen (das taten besonders Dichter und Denker und solche, die es werden wollten, gern) oder die Hausherrin führte die Liste der Promis, die sich die Ehre gegeben hatten. Wer kam wann und wie oft und vor allem wann das letzte Mal zu Besuch? Eine interessante Lektüre, nicht nur für die spätere Nachwelt.
Nun zählen wir Viren eher nicht zu unseren (Lieblings-)Gästen, lieber zu den Feinden. Aber besuchen tun sie uns dennoch. Wenn auch ohne Einladung. Dafür hinterlassen sie ihre Visitenkarte und tragen sich auch selbst ins Gästebuch ein. Unser Gästebuch ist unsere Immunabwehr. Und die Einträge sind die Antikörper, welche die Immunabwehr gegen die Viren gebildet haben.
Bisher war es ziemlich aufwendig, im Gästebuch zu lesen. Denn die Gäste hielten sich nicht strikt an die Eintragungsregeln. Man musste entweder gezielt im Serum suchen – also bereits wissen, wonach man suchen will, oder mit einem teuren und zeitraubenden PCR-Test das Genom absuchen. PCR heisst Polymerase Chain Reaction – auch hier muss man mit sogenannten «Primern» arbeiten, also genetisches Material, das gezielt eingesetzt werden muss, damit die Reaktion ein Resultat zeigt.
Genetisches Material, das getestet werden soll, wird vervielfältigt, wobei man nur kurze Gensequenzen erhält. Das reicht zur Identifizierung (genetischer Fingerabdruck) oder um festzustellen, welcher Virustyp (zum Beispiel bei einer Grippeinfektion) vorliegt. Aber ein eigentliches «Lesen» im Gästebuch ist das nicht.
Menschen sind auch neugierig und natürlich möchten wir gerne wissen, wer uns da alles besucht hat. Forscher verschiedener US-Hochschulen haben uns nun eine Lesemethode gebastelt, mit der man leicht(er) überprüfen kann, wer sich da alles in unseren Innereien getummelt hat (Aktuelle Ausgabe von «Science», 5. Juni 2015, www.sciencemag.org).
«VirScan» heisst die Methode und sie verspricht, dass sie alle Viren aufstöbert, mit denen ein Individuum in Kontakt gekommen ist. Man braucht dazu nur ein Tröpflein Blut, nicht um damit zu unterschreiben wie in Goethes «Faust», sondern um es mit einer Bibliothek zu vergleichen, wo sich die Antikörper der Viren, welche Menschen «besuchen» (das sogenannte «Virom»), und ihre Reste befinden.
Das Programm sucht nach bestimmten Textfragmenten oder Buchstabengruppen in der Blutprobe und vergleicht sie mit der Bibliothek. Ist die Zeile oder das Zitat vorhanden, gibt es einen Hit. Das Verfahren ist günstig, VirScan braucht nur 2 Mikrogramm Immunoglobulin (Antikörpermaterial), das entspricht etwa einem Milliliter Serum. Natürlich ist ein Haufen Datenverarbeitung (Statistik und sonstige Mathematik) noch nötig, aber in Zeiten mächtiger Maschinen ist das nicht so ein Problem. Und es soll nicht mehr als 25 Dollar pro Probe kosten.
Die Bibliothek ist allerdings auch etwas speziell. Denn ihre «Bücher» wurden nicht gesammelt oder gekauft, sondern synthetisiert. Die Einträge darin sind sogenannte Oligonucleotide, kurze Stränge von Basenkombinationen, wie sie auch in der Erbsubstanz (DNA und RNA) vorkommen. Damit will man alle Proteinsequenzen derjenigen Viren, von denen man weiss, dass sie Kontakt mit Menschen hatten, abdecken. Das sind 206 Virenarten und mehr als 1000 verschiedene Stämme.
Das Serum der Blutprobe, welche die Antikörper enthält, wird mit der Bibliothek zusammen «ausgebrütet». Dann werden die Antikörper herausgezogen, die Lösung ausgewaschen und dann mit PCR und parallelem Sequenzieren untersucht.
Man hat das Verfahren getestet mit 569 Blutproben aus aller Welt. Die Resultate entsprechen den Erwartungen. Auch die regionale Verteilung der Infektionen entsprach dem, was man bisher beobachtet hatte. Im Durchschnitt waren die Probanden Attacken von 10 verschiedenen Virenarten ausgesetzt. Ein paar Freiwillige wiesen sogar bis 84 Kontakte auf. Die häufigsten waren der Herpesvirus A und andere Herpesviren, dann kamen die Schnupfen- und Erkältungsviren (Adeno- und Rhinoviren).
Grippeviren vom Typ A traten in 53,4 Prozent der Fälle auf, vom Typ B in 40,5 Prozent. Enteroviren, welche die verschiedensten Krankheitsbilder verursachen von Lungenentzündung über Meningitis bis Hepatitis, waren ebenfalls häufig. Überraschend häufig tauchte das ebenfalls zu den Enteroviren gehörende Poliovirus auf (33,7 Prozent), welches Kinderlähmung verursacht. Wobei die Polio-Antikörper natürlich auch von den geimpften Freiwilligen stammten.
Neben der Neugier auf das Gästebuch hat das Verfahren auch einen praktischen Nutzen. Das Immunsystem verändert sich dauernd, weil es ja auf die Virenangriffe reagieren muss. Natürlich machen nicht alle Viren krank, einige verursachen sogar gar keine Symptome.
Aber das Immunsystem macht auch das, was die Manager bei den Menschen «Synergien» nennen. Eine Immunantwort ist Ursache für andere Reaktionen im Immunsystem. Solche Dinge lassen sich jetzt mit VirScan ungleich einfacher studieren. Wie viele Peptid-Antikörper-Reaktionen wurden entdeckt bei diesen 569 Personen? 106 Millionen Interaktionen. Das Immunsystem des Menschen ist ein wahrer Schwerstarbeiter. (aargauerzeitung.ch)