Anna* schämt sich nicht mehr. Für ihre Scham. Für die zwei Zentimeter, die ihre inneren über die äusseren Schamlippen hinausragten. «Es hat mich schon immer gestört, aber früher dachte ich, das sei Biologie und ich müsse damit klarkommen», sagt sie. Wenn die 23-jährige Studentin aus dem Kanton Zürich spricht, tut sie das überlegt. Ruhig. Überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Vor knapp einem Jahr liess sie ihre Labien operativ verkleinern.
Anna ist nicht allein. Die Nachfrage nach Labioplastik – Schamlippenkorrektur – ist stark gestiegen. In den vergangenen Jahren zählte sie gemäss dem jährlichen Report der Internationalen Gesellschaft für Ästhetische Plastische Chirurgie (ISAPS) zu den am schnellsten wachsenden OP-Trends.
Schweizweit werden diese Zahlen nicht erfasst. Weil die Krankenkassen die OP-Kosten nicht übernehmen. Eine Umfrage bei Schönheitskliniken zeigt aber: Auch hier steigt die Zahl der Schamlippenkorrekturen. «Der Anstieg liegt bei 200 bis 300 Prozent», sagt Nikolaus Linde, Spezialist im Bereich der ästethischen Chirurgie bei «Beautyclinic». Im Zentrum für Plastische Chirurgie an der Zürcher Klinik «Pyramide am See» zählt die Schamlippenkorrektur zu den Top 10 der chirurgischen Eingriffe.
Auch fernab von Zürich spüren die plastischen Chirurgen einen Anstieg. «Vor ein paar Jahren haben wir jährlich vielleicht fünf Operationen durchgeführt, heute sind es 30 bis 40», sagt Sascha Dunst, Facharzt für Plastische Chirurgie bei «Skinmed» in Lenzburg. Die Kosten belaufen sich auf rund 3000 Franken.
Die Nachfrage nach anderen Schönheitseingriffen in der Intimzone steigt ebenfalls: Hier laut Schönheitschirurg Linde vor allem nach nichtoperativen Methoden mit Laser.
Ist der Schönheitswahn in der Intimzone angekommen? Thomas Eggimann, Gynäkologe und Generalsekretär bei der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG), betrachtet den Trend zur «Baby-Vagina» mit Sorge. «Der präpubertäre Intimtyp wird im Modelbereich gepusht und ist auch in der Pornobranche in», sagt er. Doch auch die plastischen Chirurgen würden teilweise «sehr aktiv» Werbung machen. «Es ist ein Teilgebiet, an dem gut verdient werden kann.»
Seit dem Aufkommen der Intimrasur entwickelte sich der freie Blick auf das Geschlechtsorgan zu einer Art Norm. Ein Grossteil aller Frauen und Männer sind heute komplett rasiert. Unterschiede der Geschlechtsorgane wurden damit erst richtig sichtbar.
«Sie sahen aus wie zwei Mini-Hoden», sagt Anna über ihre Schamlippen. Unästhetisch. Abstossend. «Mein erster Freund hat mich immer darin bestärkt, dass das ganz normal ist.» Als Anna mit anderen Männern intim wurde, kehrte ihre Unsicherheit zurück. «Sie sind verloren, wenn sie da unten sind und das sehen. Sie scheinen überfordert – und dann auch recht schnell wieder weg.» Anna suchte im Netz nach Möglichkeiten, ihre inneren Schamlippen loszuwerden. «Ich habe gegoogelt, ob ich sie irgendwie abschneiden kann.»
Thomas Eggimann spricht von einem gesellschaftlichen Problem. «Ich erlebe immer wieder (junge) Frauen, die durch Trends verunsichert sind und bereits kleine Abweichungen von der Norm als krankhaft wahrnehmen.»
Innere Schamlippen, die gut sichtbar sind, sind nichts Ungewöhnliches: Bei 17.3 Prozent oder mehr als jeder sechsten Frau ragen die inneren Labien im Stehen über zwei Zentimeter heraus, wie eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Intimchirurgie und Genitalästhetik e.V. zeigt. Genaue Zahlen kennt Thomas Eggimann nicht. «Sie scheinen aber durchaus realistisch», so er.
Lediglich bei einem Drittel der Frauen sind die inneren Labien im Stehen gemäss Umfrage vollständig von den äusseren bedeckt. Und entsprechen am ehesten dem Bild einer «Barbie-Vagina». Je stärker sie herausragen, desto mehr stören sich Frauen daran. 26 Prozent beschrieben ihr Aussehen als «nicht so schön», rund 23 Prozent sogar als «hässlich».
Fast 40 Prozent der Korrekturen lassen Frauen im Alter zwischen 16 und 25 Jahren vornehmen, wie aus einer Schweizer Studie von 2016 hervorgeht.
Zwar unterliegen dem Wunsch nach einer Korrektur auch funktionelle Gründe. So können grössere innere Schamlippen beim Sport, beispielsweise beim Velofahren, stören. In den meisten Fällen spielen aber ästhetische Gründe eine weit grössere Rolle, hält die Studienautorin fest.
«Das Anders-Sein muss als positiv angesehen werden», glaubt Eggimann. Die Vielfalt propagiert werden. In Form von Aufklärung im Sexualunterricht, aber auch Frauen- und bereits Kinderärzte seien hier gefordert. «Ich selber versuche insbesondere junge Frauen zu überzeugen, dass es keine Normgrösse gibt», so Eggimann.
Gegenbewegung formiert sich in den sozialen Medien. «The Vulva Gallery» will aufklären, die Vielfalt der Vulven zelebrieren, wie die Künstlerin Hilde Atalanta in einem Interview mit «Vice» sagte. «Ich will, dass Leute die Vulva und sich selbst positiver wahrnehmen.» Auf Instagram teilt sie ihre Botschaften mit 437'000 Abonnenten: «Wir müssen endlich anfangen, unsere vermeintlichen Makel mit Stolz zu tragen [...] Wir sind eben nicht alle gleich und perfekt und das ist doch gerade das Interessante daran.»
Auch Anna versucht, ihr Umfeld zu sensibilisieren. Viele wissen nicht, dass sich das weibliche Geschlecht in einer Vielzahl von Formen präsentiert. Viele sprechen nicht darüber. «Es ist ein schwieriges Thema, da nicht jeder den Intimbereich zu sehen bekommt. Du kannst extremst verunsichert sein dabei. Weil es eben so intim ist.»
Der Aargauer SP-Ständeratskandidat Cédric Wermuth betrachtet diesen Trend bereits seit längerem mit Verwunderung. Vergangenes Jahr reichte Wermuth einen Vorstoss mit dem Titel «Zunahme von kosmetischen Operationen, insbesondere Labioplastik» im Parlament ein. Darin stellte Wermuth dem Bundesrat Fragen wie: «Auf was führt er den Trend der kosmetischen Operationen an Genitalien zurück?» und «Was sind die Begründungen für diese Eingriffe?»
Geht es nach Wermuth, soll der Bundesrat nicht nur Abklärungen zu den körperlichen und psychosozialen Effekten der Labioplastik treffen. Sondern auch Möglichkeiten prüfen, um den Trend einzudämmen.
Der SPler will, dass der Bund ein Werbeverbot für Schönheits-OPs im Genitalbereich prüft. Zudem schlägt er eine «zwingende psychosexuelle Beratung durch eine unabhängige Fachperson» vor jeder Operation und ein Verbot von Schönheits-OPs für unter 18-Jährige vor.
In seiner Antwort schreibt der Bundesrat, dass er nicht über aussagekräftige Zahlen verfüge, da kosmetische Operationen in der Regel ambulant durchgeführt würden und die Kosten meistens nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Studien seien nicht geplant.
Der Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf, da «solche Eingriffe im geltenden Recht, namentlich durch das Prinzip der aufgeklärten Einwilligung und durch die ärztliche Sorgfaltspflicht, genügend geregelt sind», schreibt er weiter.
*Name geändert
Es ist ja auch ganz normal🙄!
Komischerweise finde ich (Mann, 48) es anregender wenn die inneren Schamlippen sichtbar sind.
Andererseits habe ich in meinem Umfeld noch keinen einzigen Mann sagen hören, dass Ihn das stören würde. Aber wir sind halt die Meisten ohne Internet und ständig verfügbare pornographische Vergleichsmöglichkeiten aufgewachsen.