Der Krebs meldete sich bei Benjamin Lüthi mit einem Schnupfen. Starke Halsschmerzen, ein heftiger Husten, ein Infekt der Nebenhöhlen: Die Ärzte konnten seine Entzündungswerte im Blut stets erklären. Die eigentliche Ursache blieb vorerst unentdeckt.
Nach eineinhalb Jahren der Müdigkeit und Mattheit begannen den Knaben Bauchschmerzen zu plagen. Anfangs waren die Stiche kurz, dann so heftig, dass seine Eltern ihn ins Spital Rheinfelden brachten. Die Diagnose: ein geplatzter Blinddarm. Als die Ärzte im Operationssaal jedoch seine Bauchdecke öffneten, sahen sie diesen unversehrt. Die Flüssigkeit stammte von einem geplatzten Tumor. Benjamin war damals 14 Jahre alt.
In der Schweiz erkranken pro Jahr zwischen 200 und 220 Kinder unter 15 Jahre an Krebs. Mehr als die Hälfte von ihnen sind entweder von einer Leukämie oder einem Tumor im Hirn oder Rückenmark betroffen. Bei Benjamin war es ein undifferenziertes Sarkom, ein bösartiger Tumor beim Dünndarm.
Er kam in die Onkologie des Universitäts-Kinderspitals beider Basel (UKBB). «Als sich dort die Krebsdiagnose bestätigte, dachte ich nicht daran, dass mein Leben vorbei sein könnte. Ich spürte vielmehr eine grosse Angst um meine Familie. Beim Gespräch mit den Ärzten dachte ich, dass ich nun für meine Mami da sein muss», sagt er. Denn die Entfernung des Tumors gab ihm einen Energieschub. Erstmals nach eineinhalb Jahren brauchte er die freien Nachmittage nicht mehr, um zu schlafen.
«So fit wie damals fühlte ich mich seither nie mehr. Dieser Level an Energie ist eines meiner Ziele», sagt Benjamin Lüthi. Der 22-jährige Medizinstudent sitzt in einem Bistro in Wallbach. Er winkt Gästen zu, grüsst sie: «Sali Anna», «ciao Hans». Man kennt sich in der kleinen Gemeinde nahe Rheinfelden, wo er mit seinen beiden Schwestern aufgewachsen ist.
Das Bistro liegt direkt am Rhein. An dessen Ufern spaziert er häufig, um die sich kreisenden Gedanken zu durchbrechen. Oder er geht im nahen Elsass fischen: «Ich kann stundenlang am Wasser sitzen. Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit», sagt Benjamin Lüthi.
Wer seine Krankheitsgeschichte nicht kennt, sieht sie ihm nicht an: braune Haare, Bart, ein klarer Blick. Äusserlich unterscheidet ihn nichts von seinen Mitstudenten; umso schwächer ist hingegen seine Fitness, geringer sein Wohlbefinden.
Soeben erhielt Benjamin Lüthi den Bericht, dass seine Nieren nicht mehr gut funktionieren. «In meinem Körper gibt es überall Baustellen. Zudem ist meine chronische Müdigkeit so stark, dass ich häufig nur zwischen schlechten Alternativen wählen kann: Lasse ich beispielsweise die Vorlesung sausen oder schleppe ich mich hin, bekomme aber nichts davon mit? Beides ist für mich schwierig zu akzeptieren.»
Seine letzte Chemotherapie liegt zwei Jahre zurück. Erholt davon fühlt er sich nicht. Beim ersten Tumor sei die Energie schneller zurückgekehrt. Vielleicht deshalb wollte er unbedingt die gleichen Leistungen wie seine Mitschüler erbringen. Er liess keine Schulstunde aus, schrieb jede Prüfung.
Hilfestellungen von seinen Eltern wies er wütend zurück: «Bloss keine Sonderbehandlung.» Nur langsam lernte er, zu pausieren, sich zurückzunehmen. Sein Vertrauen in den eigenen Körper wuchs mit den Kräften, die er zurückgewann. Es ging ihm gut, das bestätigten auch die medizinischen Checks.
Deshalb schenkte er als 18-Jähriger den Krämpfen im rechten Arm keine Bedeutung. Als blaue Flecken hinzukamen, suchte er seine Ärzte im Kinderspital auf. Aufgrund seiner Vorgeschichte liessen sie einen Ultraschall machen. Benjamin Lüthi erinnert sich noch deutlich daran: «Zu dritt betrachteten sie das Bild, blickten sich wortlos an. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt», sagt er.
Weitere Untersuchungen folgten, auch eine Biopsie. Am Abend nach seiner ersten Maturaprüfung erhielt er die Nachricht, dass in seinem Arm ein bösartiger Tumor wächst. «Der Rückfall traf mich unvorbereitet, er hat mir bis heute die Illusion der Unsterblichkeit geraubt», sagt er.
Die folgenden Behandlungen dauerten zwei Jahre; beinhalteten mehrere Chemotherapien und Bestrahlungen. Aus seinem Arm entfernten die Ärzte einen Muskel. Zweimal musste Benjamin je drei Wochen in ein Isolationszimmer im Spital. Dort bekam er die grösste mögliche Dosis einer Chemotherapie; musste sich seine eigenen Blutstammzellen spenden. Jeweils acht Kilo nahm er ab, war zu schwach, um selber gehen zu können. Wieder zu Hause, musste er auf dem Po die Treppen hinunterrutschen. Für mehr reichte die Kraft nicht.
Seine Matura schaffte er – trotz der ersten Chemotherapie. Zwei mündliche Prüfungen durfte er noch am Morgen der Notenkonferenz nachholen. So bekam er gemeinsam mit seinen Mitschülern das Zeugnis, begann sein Medizinstudium.
Die menschliche Biologie interessierte ihn schon vor seiner Diagnose. Bei seinen Spitalaufenthalten begann ihn die zwischenmenschliche Seite des Arztberufes zu faszinieren. Gleichzeitig fürchtete er sich vor den Schicksalen der Patienten – eine Unsicherheit, die ihn bis heute begleitet.
«Je nach Kontakt werde ich auf mich selber zurückgeworfen. Realität und Vergangenheit verschwimmen teilweise. Das hat in diesem Beruf aber keinen Platz», sagt Benjamin Lüthi. Ob er jemals als Arzt arbeiten kann, weiss er nicht. Eine Psychologin unterstützt ihn, wie er mit der grossen Angst vor einem erneuten Rückfall umgehen kann. Noch sei es ein permanenter Kampf, dass die dunklen Gedanken nicht überhandnehmen.
Neuerdings geht Benjamin Lüthi für die Nachsorge ins Unispital. Bis anhin fanden die regelmässigen Untersuchungen im Kinderspital statt. Es ist ein Wechsel, der ihm anfänglich Mühe bereitete. Der Kontakt und Austausch mit den Kindern half ihm: «Sie bewahren sich trotz schwerer Krankheit eine gewisse Unbeschwertheit, die einem – je älter man wird – abhanden kommt. Ein Mädchen erzählte mir beispielsweise, dass ihre Haare momentan in den Ferien seien. So erklärte sie sich die Folgen ihrer Chemotherapie.»
Inzwischen sieht er im Übertritt ans Unispital eine Chance: «Damit kann ich hoffentlich ein Kapitel meiner Krankheitsgeschichte abschliessen und muss nur noch für Routine-Checks ins Spital.»