Deutsche Truppen setzten am 22. April 1915 in der Nähe der westbelgischen Stadt Ypern zum ersten Mal Giftgas massiv als Waffe ein. Das Verhängnis kam mit einer sanften Spätnachmittagsbrise, welche die grünliche Chlorgaswolke in die französischen Schützengräben blies.
Aus ungefähr 6000 Zylindern stiegen Gasschwaden auf, die der leichte Wind auf die französischen Linien zutrieb. Das Chlorgas, das schwerer als Luft war, sank in die Schützengräben, wo die ungeschützten Soldaten völlig überrascht waren. Ihre Augen begannen zu tränen, das Gas reizte ihre Nasen, Rachen, Lungen und verursachte heftigen Husten. Panik brach aus, die Soldaten versuchten zu fliehen, aber für viele von ihnen war es zu spät. Der Gasangriff forderte etwa 1200 Tote und 3000 Verwundete.
Von der durchschlagenden Wirkung, die das Gift entfalten würde, waren Angreifer und Opfer wohl gleichermassen überrascht. «Sie wussten nicht, was über sie hereinbrach», sagt der Historiker Pieter Trogh vom Forschungszentrum des Weltkriegsmuseums in Ypern über die Männer aus Algerien und der Bretagne, die die Wolke auf sich zuwehen sahen.
Für die deutsche Militärführung war es nach zwei abgebrochenen Versuchen bereits der dritte Anlauf mit Giftgas. «Sie glaubten selbst nicht recht daran», erklärt Franky Bostyn, der als Historiker für das belgische Verteidigungsministerium arbeitet.
Die Deutschen hatten nicht genügend Reserven an Soldaten bereit und konnten daher die Lücke, die Tod und panische Flucht in die französischen Linien rissen, nicht nutzen. Der Gasangriff war dabei der Versuch, den seit Monaten andauernden Stellungskrieg zu beenden und die Front zu durchbrechen.
Der Überraschungseffekt der neuen Waffe liess sich nicht wiederholen. Nur Tage später, so Bostyn, nutzten die Alliierten erste primitive Schutzvorrichtungen. Innerhalb weniger Monate setzten beide Seiten auf Chemiewaffen, allerdings ohne grossen strategischen Nutzen.
Auf das leicht erhältliche und weithin industriell genutzte Chlor folgten Phosgen und Senfgas. Während das eine innere Blutungen verursachte, zerstörte Senfgas Gewebe und führte zu Blindheit.
«Gas wurde einfach nur eine weitere Waffe im tödlichen Arsenal des Krieges», stellt Historiker Trogh fest. Die deutsche Seite setzte zum ersten Mal massiv Gas ein. Es gibt zwar auch Berichte über frühere Experimente der Franzosen mit einer Art Tränengas. Doch daraus wurde nicht viel.
124'200 Tonnen chemischer Substanzen kamen nach Schätzungen der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) in Den Haag im Verlauf des Ersten Weltkriegs zum Einsatz und sollen dabei mehr als 90'000 Soldaten getötet haben. Beinahe eine Million kehrte blind, entstellt oder verkrüppelt nach Hause zurück.
Die strategische Bedeutung chemischer Waffen blieb dennoch insgesamt gering. Nur ein Prozent der Toten im Ersten Weltkrieg starb laut Bostyn durch Gas. Andere Quellen nennen 3,4 Prozent.
Schon damals waren Chemiewaffen durch die Haager Konventionen verboten – allerdings war darin von Projektilen die Rede. Findige Juristen argumentierten, der Einsatz von aufsteigendem Gas aus Kanistern sei legitim, erklärt Alastair Hay von der Universität in Leeds, der die OPCW berät. Und bald wurde Giftgas ohnehin von allen Seiten auch per Munition gezielt verschossen.
Auch wenn die Wolke vom 22. April längst verweht ist – der Schatten der grausamen Waffen reicht bis in die Gegenwart. Die OPCW geht davon aus, dass trotz internationaler Ächtung Syrien Chlorgas jüngst verbotenerweise als Waffe eingesetzt hatte. Die Zerstörung des syrischen Giftgases unter Aufsicht der OPCW ist noch in Gang.
Und was als Munition im Ersten Weltkrieg verschossen wurde, das findet sich noch heute im Umland von Ypern, wo der deutsche Vormarsch 1914 zum Halten kam. Oft pflügen Landwirte die Geschosse aus den Feldern, tragen sie zum Wegesrand und arbeiten weiter.
150 bis 200 Tonnen an Munition aus dem Ersten Weltkrieg sammeln Spezialkräfte der belgischen Armee pro Jahr ein. Etwa fünf Prozent der Geschosse enthalten noch heute gefährliches Giftgas. (dhr/sda/dpa)