Die Bahn ist gut 4 km/h schnell, die Fahrt dauert zwei Minuten, und so etwas wie einen Fahrplan gibt es nicht: Das «Funiculaire» fährt nach Bedarf, von der Freiburger Ober- in die Unterstadt und zurück. Das «Funi», wie die Standseilbahn liebevoll genannt wird, bietet ein multisensorielles Erlebnis: Es ruckelt und knirscht, die 121 Meter lange Trasse mit ihrer Neigung von 54 Prozent ist steil, «et ça schlingue», wie es im Freiburger Patois heisst: Es riecht streng, bisweilen sehr streng. Aber davon später.
Freiburg ist eine Hügelstadt. Ihre höchsten Punkte liegen auf 700 m ü. M.; die Saane dagegen durchschneidet die Stadt auf nur 530 m ü. M. Wer also von der am Fluss gelegenen «Neuveville» ins 56 Meter höher gelegene «St.-Pierre»-Quartier wollte, hatte einen ziemlichen Aufstieg vor sich. Ende des 19. Jahrhunderts liessen die eben gegründete Universität und neue Industriebetriebe die erst 15’000 Einwohner zählende Stadt rasch wachsen; die alten Unterstadtviertel verloren an Bedeutung.
Das brachte den Unternehmer Paul-Alcide Blancpain (1839–1899), Inhaber der im Neustadtquartier gelegenen Bierbrauerei Cardinal, auf die Idee, Ober- und Unterstadt per Bahn zu verbinden, um der Arbeiterschaft den Zugang zum Stadtzentrum zu erleichtern. Erst 1877 war in Lausanne die erste Standseilbahn der Schweiz in Betrieb gegangen, und so wurde 1893 in Freiburg eine entsprechende Konzession beantragt.
In der Schweiz fällt der Beginn des Industriezeitalters mit dem Aufbau des Eisenbahnnetzes zusammen, das eine Art Transportrevolution auslöste. Die jungen Industrieunternehmen liessen das Verkehrsaufkommen sprunghaft wachsen. In nur 30 Jahren, zwischen 1868 und 1898, stieg die Menge der transportierten Güter um das Sechsfache auf 13,8 Millionen Tonnen an, und mit einer Steigerung von 9,9 auf 98 Millionen Fahrten war bei den Personentransporten gar eine Verzehnfachung zu verzeichnen. Bahnen waren ungemein effizient, und insbesondere die Draht- und Standseilbahnen ermöglichten die Überwindung grosser Steigungen bei kurzer Distanz und Fahrzeit.
In Freiburg begann die Berner Giesserei der Von-Roll-Eisenwerke daher im März 1898 mit dem Bau einer Bahn, für deren Antrieb das Gewicht des Abwassers aus der Oberstadt sorgen sollte. Die Anlage wurde an die Kanalisation der Stadt angeschlossen, damit der eine der beiden Waggons an der Bergstation 2700 Liter Abwasser in seinen zwischen den Achsen montierten Tank aufnehmen konnte. Der mit einem zweieinhalb Zentimeter dicken, über eine mächtige Umlenkrolle laufenden Drahtseil verbundene zweite, an der Talstation stehende Wagen entleerte derweil seinen Tank, so dass das Übergewicht des oberen Wagens ausreichte, bis zu 20 Personen nach oben zu befördern.
Eine Bahn für die Arbeiterschaft dank dem Abwasser der Bourgeoisie, das hatte durchaus einen Beigeschmack. So schrieb etwa der Schweizer Schriftsteller Niklaus Meienberg in einer Reportage über seine Studienstadt Freiburg: «Auf diese Weise lassen die barmherzigen Einwohner der Oberstadt die Mitbürger in der ‹basse ville› schon seit Jahrzehnten an ihren Exkrementen profitieren. Und diese Energiequelle gestattet einen bescheidenen Fahrpreis, dem schmalen Einkommen der Unterstädtler angepasst.»
$Am 4. Februar 1899 erteilte der Bundesrat die Betriebsbewilligung, und das «Funiculaire» nahm seinen Betrieb auf. Insgesamt 140’000 Franken hatte der Bau gekostet. 1900, in seinem ersten vollständigen Betriebsjahr, beförderte das «Funi» 174’776 Passagiere.
Das «Funiculaire» war von Anfang an ein Erfolg; schon nach wenigen Jahren schrieb die Betriebsgesellschaft Gewinne. 1965 kaufte die Stadt Freiburg die Aktienmehrheit auf; 1977 fusionierte die Société du Funiculaire Neuveville-St-Pierre à Fribourg SA mit den städtischen Verkehrsbetrieben. Doch der Zahn der Zeit nagte an der Mechanik. Immer wieder waren längere Betriebsunterbrüche zu verzeichnen, und 1996 erlitt einer der Wagen einen Achsbruch, worauf das Bundesamt für Verkehr eine Totalrevision anordnete.
Angesicht der knappen Mittel überlegte sich die Stadt, das «Funiculaire» stillzulegen und durch einen Schräglift oder durch Busse zu ersetzen. Wütende Proteste der traditionsbewussten Freiburger Bevölkerung zwangen die Verwaltung jedoch zum Umdenken, und die Bahn wurde für zwei Millionen Franken restauriert. Am 3. Juli 1998 nahm das «Funi» seinen Betrieb wieder auf.
Bis heute wird das noch immer weitgehend im ursprünglichen Zustand befindliche, wie ehedem grün lackierte «Funi» mit gefiltertem Abwasser betrieben. Und weil das mit den Dichtungen eben so eine Sache ist, kann man den Antrieb auch jederzeit riechen.
Geruch hin oder her, das «Funiculaire» ist die letzte Standseilbahn mit Wasserballastantrieb der Schweiz und eine der letzten in ganz Europa. Es steht im Inventar der nationalen Kulturgüter, dient als Touristenattraktion – und, wie am ersten Tag, als zuverlässiges Verkehrsmittel für Freiburgerinnen und Freiburger, die den Weg von der Unter- in die Oberstadt nicht unter die Füsse nehmen wollen.