«Werden Klimaziele 2030 massiv verfehlen»: Oberster Klimabeamter kritisiert das Parlament
Klimaexpertinnen und Klimaexperten warnen schon seit Längerem: Die Schweiz muss sich viel mehr anstrengen, ihre Treibhausgase zu reduzieren, wenn sie ihre Ziele nicht verfehlen will. Mit dem Pariser Abkommen hat sich die Schweiz per 2050 zu Netto-Null verpflichtet. Ein wichtiges Etappenziel stellt das Jahr 2030 dar. Bis dahin sollen die Emissionen gegenüber 1990 halbiert sein. So will es auch das vom Parlament verabschiedete CO₂-Gesetz.
Dass der eingeschlagene Weg nicht zu diesem Ziel führt, bestätigt nun auch der höchste Klimabeamte der Schweiz, Reto Burkard. Er leitet den Direktionsbereich Klima und ist Vizedirektor des Bundesamtes für Umwelt (Bafu). An der Klimarechtstagung an der Universität Bern sagte er: «Stand heute kann ich Ihnen versichern, wir werden unsere Klimaziele für 2030 verfehlen – und dies massiv.» Der Auftritt erfolgte vergangene Woche, blieb jedoch in der Öffentlichkeit bislang unbeachtet – trotz der teils brisanten Aussagen.
Die Schweiz hat bereits 2020 ihr Ziel nicht erreicht, wenn auch nur knapp. Damals war eine Reduktion der Emissionen um zwanzig Prozent vorgegeben, erreicht wurden jedoch nur 19. In etwas mehr als vier Jahren dürfte das Scheitern dann aber krachend sein. Konkrete Zahlen nannte Burkard nicht, doch er sprach davon, dass die Verfehlung massiv ausfallen werde. «Ausser der Bundesrat hat Lust pro Jahr 400 Millionen Franken aus der allgemeinen Bundeskasse zu nehmen», sagte er.
Doch selbst für diesen unwahrscheinlichen Fall wäre die Zeit zu knapp, um die Vorgaben noch zu erfüllen, hielt Burkard fest. Das Verfehlen der Klimaziele sei dann vielleicht ein Türöffner für eine andere Diskussion. Eine, vor der er sich persönlich fürchte: «Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dann darüber diskutieren werden, ob die Schweiz beim Pariser Abkommen noch dabei sein soll oder nicht.»
Schweiz nutzt nicht alle Möglichkeiten
Besonders in der Pflicht, Dinge anzustossen, sieht der Vizedirektor des Bafu das nationale Parlament. Doch dieses scheint ihn desillusioniert zu haben: «Wenn ich sage, wir sollten aktiv sein, dann ist das primär abhängig von der Legislative. Aber im Moment interessiert das Klima in der Bundespolitik kaum jemanden.»
Burkard nimmt die Bundesversammlung auch in die Verantwortung für das Scheitern der Klimaziele 2030. Das Parlament habe über die Massnahmen entschieden, sagt er. «Wir haben immer offengelegt, dass jene fürs Inland nie ausreichen werden, um die Emissionen zu halbieren. Etwas salopp gesagt, hat dann das Parlament entschieden, dass der Bund bei einer sich abzeichnenden Zielverfehlung Zertifikate kaufen soll.»
Gemeint sind damit die CO₂-Kompensationen im Ausland. Diese sind nicht nur umstritten, sondern kommen ebenfalls nicht zum Fliegen. Dabei stellen sie eine bedeutende Säule der angestrebten Reduktionsziele dar. Ein Drittel der beschlossenen CO₂-Einsparungen soll mit Projekten im Ausland erreicht werden. Das sind 34 Millionen Tonnen.
Kürzlich berichtete das Magazin «Beobachter», dass der Bund erst 0,04 Prozent dieses Ziels erreicht habe. Zwei Projekte – eines in Thailand und eines in Ghana – brachten der Schweiz 13'649 Zertifikate ein. Ein Zertifikat gibt es für eine Tonne CO₂-Reduktion. Die Schweiz bräuchte also 34 Millionen davon.
Burkard bestätigte an der Klimarechtstagung diese Zahlen. Und verteidigte sie: «Die Projektprüfung der Schweiz ist vorbildlich.» Das Bafu ist dem Vorwurf ausgesetzt, zu viele Daten zu verlangen und zu viel Zeit für die Überprüfung aufzuwenden. Das lasse sich aber nicht ändern, wenn Greenwashing-Projekte ausgeschlossen werden sollen, sagte Burkard. Bis Ende des Jahres, so hofft er, sollte sich die Anzahl Zertifikate verdreifachen oder vervierfachen.
Lange Diskussionen, verspätete Umsetzung
An der Tagung sassen primär Juristinnen, Klimawissenschaftler und Politologinnen. Burkard stand bei der Panel-Diskussion auf dem Podium. Dort machte er aus seinem Frust keinen Hehl. So sagte er: «Wir befinden uns in einer Delle. Was es nicht braucht, sind weitere Ziele. Die interessieren mich inzwischen nicht mehr. Was mich interessiert, ist ein Massnahmenmix, der gesellschaftsfähig ist. Einer, der tatsächlich eine grosse Wahrscheinlichkeit hat, im Parlament zu überleben.»
Es fehle nicht an Studien – auch das Bafu mache «Studien à gogo». Längst sei bekannt, dass je länger man bezüglich Klimawandel warte, umso teurer dieser einem zu stehen komme. «Aber diese Erkenntnis kommt nicht an. Wie schaffen wir es also, dass die Politiker sie wahrnehmen?», fragt Burkard. Denn grundsätzlich gäbe es gute Entwicklungen, auch in der Schweiz. Etwa im Bereich Elektromobilität und Gebäudesanierung.
«Entscheidend ist aber die Geschwindigkeit der Umsetzung. Es kann nicht sein, dass wir seit zehn Jahren über die Förderung der Elektromobilität und deren Ladestationen diskutieren. Das müsste alles viel schneller gehen», kritisiert Burkard. Zudem befände man sich nicht mehr in der Lage, darüber zu debattieren, ob auf gewisse Ansätze wie etwa die Auslandskompensationen verzichtet werden könne: «Es braucht alles. Und ein jeder muss dranbleiben und vorwärts kämpfen.» Ein Zuspruch, den er wohl auch an sich selbst richtete. (aargauerzeitung.ch)
