Der Kanderdurchstich und seine Auswirkungen
Die Kander ist ein launischer Bergfluss mit einem grossen Einzugsgebiet im Berner Oberland. Bei Starkregen und Schneeschmelze steigt sein Pegel innerhalb kurzer Zeit markant an und seine unbändige Kraft reisst alles mit, was sich ihm in den Weg stellt. Der alte Kanderlauf führte westlich der Stadt Thun über eine Ebene in die Aare. Bei Hochwasser überschwemmte die Kander im Unterlauf das weite Gebiet und bedrohte die Landschaft um die Ortschaften Allmendingen, Uetendorf und Thierachern. Das mitgebrachte Kander-Geschiebe staute zuweilen auch die Aare, deren steigender Pegel dann Schäden in der Stadt Thun verursachte.
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Im Jahr 1698 wandten sich deshalb einige betroffenen Gemeinden an die Berner Regierung, mit der Bitte, den ungestümen Fluss in den Thunersee umzuleiten. Die Obrigkeit setzte daraufhin eine Kommission ein, um das Vorhaben zu prüfen. Es dauerte allerdings bis ins Jahr 1710 und die Einsetzung der bereits dritten Kander-Kommission, bis konkrete Pläne vorlagen. Beratend zur Seite stand der angesehene Festungsbauer Pietro Morettini.
Federführend war aber Samuel Bodmer (1652–1724). Der gelernte Bäcker Bodmer hatte sich als Artillerie-Offizier Kenntnisse im Ingenieurwesen und der Feldmessung erarbeitet. In Amsoldingen besass er das Schlossgut und betrieb eine Mühle. Aus der leicht erhöhten Lage von Amsoldingen konnte er das schädigende Verhalten der Kander gut beobachten. Für die Berner Regierung hatte er bereits einige Vermessungsarbeiten ausgeführt und fühlte sich nun bereit, die grosse Kander-Umleitung zu planen und auszuführen.
Bodmer schlug vor, in den Moränenhügel, der parallel zum Thunersee verläuft, einen 400 Meter langen Durchstich zu machen und so einen Teil des Flusses bei Einigen in den Thunersee zu leiten – die Idee wurde als Kanderdurchstich bekannt. Auch den Bedenken des Rates der Stadt Thun, das Kanderwasser werde den Pegel des Thunersees ansteigen lassen und in der Stadt zu Überschwemmungen führen, nahm Bodmer ernst und schlug zusätzliche Massnahmen zur Vergrösserung der Abflussmenge des Sees vor.
Am 11. Februar 1711 beschloss der Rat von Bern, den Plan von Bodmer unter seiner Leitung ausführen zu lassen. Vorerst wollte man sich aber, wohl aus Kostengründen, auf den eigentlichen Durchstich konzentrieren, ohne die flankierenden Massnahmen umzusetzen.
Die Arbeiten begannen im April 1711. Bodmer konnte zu Beginn rund 150 Arbeitskräfte einsetzen, die, ausgerüstet mit Schaufeln, Pickeln und Schubkarren, begannen, den Hügel bei Strättligen treppenförmig abzutragen. Die Bauleute bestanden aus wenigen Facharbeitern, vielen Taglöhnern, einigen Bettlern, Landstreichern und Häftlingen sowie Frauen und Kindern. Obwohl die Arbeiten militärisch organisiert waren und täglich von 5 bis 19 Uhr ausgeführt wurden, kam man nur langsam voran. Der Ausbruch des Zweiten Villmergerkrieges im Frühjahr 1712 führte zu einem fast einjährigen Unterbruch der Bautätigkeiten.
Aus Sicht der Regierung verlief das Abtragen des Strättlighügels viel zu schleppend. Daher erhielt der Baugutachter des Projekts Samuel Jenner grünes Licht für seine Idee, parallel zu den Grabarbeiten einen Stollen durch den Hügel zu treiben. Die Verantwortung für den Bau des Stollens wurde nicht Bodmer übertragen, sondern direkt dem Ideengeber Jenner. Bereits im Dezember 1713 war der etwa 300 Meter lange Stollen vollendet, und das erste Wasser der Kander konnte testweise hindurchgeleitet werden. Im Frühjahr 1714 entschied man, den Stollen zum Hauptbestandteil des Projekts zu machen und begann mit der definitiven Umleitung.
Doch ab diesem Zeitpunkt nahmen die Ereignisse eine dramatische Wendung. Aufgrund der geologischen Beschaffenheit des Hügels und des starken Gefälles zum See weitete sich der Stollen durch die Kraft des Wassers immer weiter aus, bis die Kander schliesslich vollständig und mit lautem Getöse in den Thunersee stürzte. Am 16. Juli 1714 hielt ein Abschnitt des Stollens dem enormen Wasserdruck nicht mehr stand, brach ein und riss dabei fünf Menschen in den Tod. Bereits einen Monat später war vom Stollen nichts mehr übrig: Die Kander hatte ihn vollständig einstürzen lassen und sich tief in den Hügel eingefressen. Die entstandene Kanderschlucht, ursprünglich von Bodmer geplant, wurde durch die Natur selbst fertiggestellt.

Die Umleitung hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Region. Während die Gemeinden unterhalb des Thunersees von der Überflutungsgefahr befreit wurden und sich keine Malaria mehr aus den trockengelegten Sumpfgebieten ausbreiten konnte, führte die Umleitung zu einem deutlichen Absinken des Grundwasserspiegels. Dadurch versiegten Quellen und Brunnen, und die Mühlen kamen zum Stillstand. Brücken spannten sich nutzlos über das ausgetrocknete Flussbett, und die Menschen sassen buchstäblich auf dem Trockenen. Um diese Probleme zu mindern, wurde ein Bach, der Glütschbach, teilweise in den alten Lauf der Kander umgeleitet.
Die Auswirkungen auf die Stadt Thun waren noch dramatischer. Der Wasserzufluss in den Thunersee erhöhte sich abrupt um 60 Prozent, was eine deutliche Zunahme an Überschwemmungen zur Folge hatte. Brückenfundamente und Gebäude wurden unterspült und teilweise zerstört. Um die Situation zu entschärfen, waren umfangreiche bauliche Massnahmen nötig: Der Stadtgraben wurde erweitert und als zweiter Aarearm genutzt, Mühlen wurden versetzt, Schwellen abgetragen und Schleusen zur Regulierung des Wasserstands errichtet.
Trotzdem blieb die Stadt von Hochwassersituationen betroffen. Erst mit der Inbetriebnahme des Entlastungsstollens im Jahr 2009 – beinahe 300 Jahre nach dem Kanderdurchstich – wurde ein zusätzlicher Abfluss geschaffen. Dieser leitet bei Bedarf Thunerseewasser unter der Stadt hindurch und mildert so die Folgen der Kanderumleitung.
Die ausgetrockneten Sumpfgebiete entlang des alten Kanderlaufs ermöglichten ab 1819 den Bau des grössten Waffenplatzes der Schweiz, der bis heute die Entwicklung Thuns mitprägt. Auch im Zweiten Weltkrieg spielte der Kanderdurchstich eine wichtige Rolle, als er, durch militärische Bauwerke ergänzt, in die Réduit-Verteidigungslinie integriert wurde.
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Ein weiteres Resultat der Umleitung war das Kanderdelta, das sich an der neuen Mündung der Kander schnell durch angeschwemmtes Geschiebe bildete und in den Thunersee vorstiess. Heute ist dieses Delta ein geschütztes Naturschutzgebiet, das zahlreichen Tier- und Pflanzenarten Lebensraum bietet. Ohne den seit über 100 Jahren stattfindenden Kiesabbau, bei dem jährlich rund 20'000 Kubikmeter Kies gewonnen werden, wäre das Delta jedoch erheblich grösser und hätte das untere Thunerseebecken längst verlanden lassen.
Tragisch endete die Geschichte für Samuel Bodmer. Obwohl er von Anfang an weitere Massnahmen empfohlen hatte und die Obrigkeit diese nicht umsetzen wollte, machte die Thuner Bevölkerung ihn alleine für die zahlreichen Hochwasserschäden verantwortlich – Bodmer war verhasst und wurde sogar mit dem Tode bedroht. Infolgedessen sah er sich 1717 gezwungen, sein Gut in Amsoldingen nahezu fluchtartig zu verlassen und das Lochbachbad bei Burgdorf zu erwerben. Erst zum 300-jährigen Jubiläum des Kanderdurchstichs wurde Bodmers Pioniertat mit der Errichtung eines Gedenksteins am Ende der Kanderschlucht gewürdigt.
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