Wissen
Schweiz

Der lange Weg zur Kirche

Wieso zur Kirche gehen, wenn es im Dorf auch ein Wirtshaus gibt? 
https://achtung.be/arbeiten
Wieso zur Kirche gehen, wenn es im Dorf auch ein Wirtshaus gibt?Illustration: Marco Heer

Der lange Weg zur Kirche

Die Religion und die Kirche prägten früher das Leben der Menschen. Der Besuch der Gottesdienste war nahezu eine Pflicht. Für die Bevölkerung im ländlichen Gebiet war der «Predigtgang» oftmals mit einem langen Fussmarsch verbunden. So auch für die Menschen am Buchholterberg.
29.10.2023, 20:0329.10.2023, 20:03
Reto Bleuer / Schweizerisches Nationalmuseum
Mehr «Wissen»

Die Gegend um den Buchholterberg, dem Hügelzug nordöstlich von Thun, an der Grenze des Berner Oberlandes zum Emmental, gehörte zu früheren Zeiten der Kirchgemeinde Diessbach an (ab 1870 Oberdiessbach genannt). Das Gebiet war weitläufig, bis zu drei Stunden dauerte der Fussmarsch vom östlichsten Rand der Kirchgemeinde bis zur Kirche nach Diessbach. Die Wege waren schlecht ausgebaut und für Fuhrwerke fast nicht passierbar.

Nach der anstrengenden Anreise begaben sich, sehr zum Ärger des Pfarrers, die weithergereisten Leute oftmals ins Wirtshaus, um sich zu stärken. Dabei soll es vorgekommen sein, dass einige gleich dortgeblieben sind und so den Gottesdienst verpassten. Ein weiteres Problem war der Platzmangel in der Kirche. An hohen Feiertagen fanden nicht mehr alle Menschen Platz im Gotteshaus und manche mussten unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen.

Hier bloggt das Schweizerische Nationalmuseum
Mehrmals wöchentlich spannende Storys zur Geschichte der Schweiz: Die Themenpalette reicht von den alten Römern über Auswandererfamilien bis hin zu den Anfängen des Frauenfussballs.
blog.nationalmuseum.ch

Es erstaunt also nicht, war der Wunsch nach einer eigenen Kirche am Buchholterberg immer wieder Thema. Verschiedene Bittschriften der Bevölkerung an die «gnädigen Herren zu Bern» zeugen davon. Ab 1712 stand dem Pfarrer von Diessbach ein Helfer zur Verfügung, der im Schulhaus Bruchenbühl am Buchholterberg die «Kinderlehre» (kirchliche Unterweisung) hielt.

Einige Jahre später äusserte man zudem den Wunsch, neben diesem Schulhaus einen Friedhof zu errichten. Gerade im Winter war es sehr schwierig, die Verstorbenen durch den Schnee bis zum Friedhof nach Diessbach zu bringen. Auch die Taufen waren zur Winterzeit eine Herausforderung. So sollen wiederholt auch Täuflinge den langen Weg bis zur Kirche in Diessbach nicht überlebt haben.

Der Buchholterberg und die Kirche Diessbach, dargestellt auf der Schöpfkarte, 1672.
https://doi.org/10.3931/e-rara-76375
Der Buchholterberg und die Kirche Diessbach, dargestellt auf der Schöpfkarte, 1672.Karte: e-rara

Mit der Zeit wurden die Unterrichtsräume im Schulhaus für die grosse Kinderschar zu klein – um das Jahr 1800 besuchten rund 200 Kinder und Jugendliche die Schule und waren bei der Kinderlehre anwesend. Ein geordneter Unterricht war kaum mehr möglich und es wurde dadurch immer schwieriger, einen Pfarrhelfer zu finden. Pfarrer Bachmann aus Worb, der als Schulkomissär zuständig war für das Schulwesen, warnte vor dem Verfall der Sittlichkeit und Religiosität, als Folge der mangelhaften Seelsorge und Unterweisung. Er fand in seinem Bericht an die Obrigkeit im Jahr 1805 dann auch deutliche Worte und schrieb:

«Die Gegenden […] des Buchhol­ter­bergs sind die wildesten und ungesit­tes­ten im ganzen Amt, so dass ich glaube, wenn es an einem Ort nötig seye, einen entste­hen­den Eyfer zu Verbes­se­rung der Sittlich­keit zu ergreifen und zu befördern, so seye es daselbst.»
Pfarrer Bachmann, Schulkomissär aus Worb

Die Warnungen des Pfarrers wurden bei der Berner Regierung ernst genommen, im Jahr 1810 wurde eine Kostenschätzung für einen Kirchenbau in Auftrag gegeben und ein entsprechender Platz gesucht. Von einem Baustart war man aber noch weit entfernt, da die Patrizierfamilie von Wattenwyl, Besitzer der Herrschaft Diessbach, das «Kollaturrecht» besass und somit das Sagen bei allen kirchlichen Angelegenheiten hatte. Der Staat Bern bemühte sich, der Familie dieses Recht abzukaufen. Die Verhandlungen dazu dauerten 26 lange Jahre, erst dann wurde man sich einig.

Am 15. Mai 1835 wurde dann der Kirchenbau vom Grossen Rat in Bern endgültig beschlossen. Schon vier Jahre vorher konnte ein geeignetes Grundstück im Weiler Heimenschwand erworben werden. Aus Spargründen wurde ein Projekt für einen einfachen Kastenbau mit 720 Sitzplätzen zum Preis von 13'799 Franken gewählt. Für den Bau der Kirche wurden Steine und Sand aus der Region verwendet, die Fenster- und Türumrahmungen sowie der Sockel wurden aus zwei grossen Findlingen gehauen, die in der letzten Eiszeit vom Grimselgebiet auf den Buchholterberg gelangten. Auch die Bevölkerung hatte einen Beitrag an den Bau zu leisten. Da aber keine finanziellen Mittel zur Verfügung standen – der Buchholterberg gehörte damals zu den ärmsten Gegenden des Kantons – wurde dies in Form von Arbeitsleistungen erbracht.

Kirche Heimenschwand von der Südseite, mit Fensterumrahmungen und Sockel aus Grimselgranit.
Kirche Heimenschwand von der Südseite, mit Fensterumrahmungen und Sockel aus Grimselgranit.Bild: Reto Bleuer

Doch damit war der lange Weg zur Kirche noch nicht zu Ende – kaum war nämlich der Kirchturm fertig gemauert, zeigten sich auch schon erste Risse. Die Kirche wurde mit einigen Monaten Verspätung am 16. April 1837 zwar eingeweiht, allerdings wagte man es nicht, die beiden vorhandenen Glocken im Turm aufzuhängen und zu läuten. Dies erfolgte erst im Frühling 1838, nachdem bauliche Verstärkungsmassnahmen am Turm realisiert worden waren.

Der Bau wies aber weiterhin Mängel auf und es mussten weitere Garantiearbeiten geleistet werden. Die Übernahme durch den Auftraggeber, und damit auch die Bezahlung der Handwerkerrechnungen, erfolgte erst 1841.

Die Kirche Heimenschwand mit Blick auf die Berner Alpen, um 1920.
Die Kirche Heimenschwand mit Blick auf die Berner Alpen, um 1920.Bild: Fritz Gugger, Heimenschwand

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wollte der Kanton Bern, wie es unterdessen üblich war, die Kirche in Heimenschwand der Kirchgemeinde übertragen. Im Kirchturm waren aber bereits wieder Risse vorhanden, teilweise bis zu 10 Zentimeter breit. Die Kirchgemeinde weigerte sich deshalb, das unsichere Gebäude zu übernehmen. Es folgten weitere Renovationen und bauliche Verbesserungen, bis die Kirche schlussendlich per 15. Juli 1960, als letzte Kirche im Kanton, über 120 Jahre nach der Fertigstellung, in den Besitz der Kirchgemeinde ging. Auch dies war wiederum ein langer Weg.

>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Der lange Weg zur Kirche» erschien am 25. Oktober.
blog.nationalmuseum.ch/2023/10/der-lange-weg-zur-kirche
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das sind die Schäden in der Kirche von Herzogenbuchsee
1 / 10
Das sind die Schäden in der Kirche von Herzogenbuchsee
Blick ins Kirchenschiff nach dem Brand in der reformierten Kirche von Herzogenbuchsee.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Die erste Fussball-Kirche der Schweiz bald in Zürich?
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
20 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Bakunin
29.10.2023 21:46registriert März 2021
Der Bau eines Wirtshauses wäre vermutlich einfacher gewesen 😉
610
Melden
Zum Kommentar
avatar
Sarkasmusdetektor
29.10.2023 20:50registriert September 2017
Die Handwerkerrechnungen wurden erst bezahlt, als die Mängel beseitigt waren? Da könnte sich heute auch manch ein Bauprojekt etwas davon abschauen, anstatt einfach a gogo Budgetüberschreitungen hinzunehmen.
422
Melden
Zum Kommentar
avatar
Lucida Sans
29.10.2023 20:24registriert Februar 2017
Danke für diesen originellen Artikel. Ich lese Ihre Beiträge immer gerne.
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass es im 19. Jh. so etwas wie ‚Fertigkirchen‘ gegeben hat. Das ist auch der Grund, weshalb viele Kirchen in Dörfern gleich aussehen. Leider habe ich darüber keine Infos gefunden. Weiss jemand mehr darüber?
281
Melden
Zum Kommentar
20
Der royale Schürzenjäger
Louis-Philippe (1773–1850), Herzog von Orléans und später König Frankreichs, weilte nach den Wirren der Französischen Revolution in der Schweiz. Er lebte in den Kantonen Zürich, Zug, Aargau und Graubünden – und hinterliess Spuren bis in die Schweizer Gegenwartsliteratur.

Dies ist die wilde Geschichte des wohl unfähigsten Lehrers aller Zeiten. Er unterrichtete ein Fach, das er nicht beherrschte, und hielt den Unterricht in einer Sprache ab, die keiner der Schüler verstand. Dazu schwängert er die Schulköchin. Dieser Lehrer hiess Louis Chabos und kam am frühen Morgen des 24. Oktober 1793 zu Fuss in Reichenau im Bündnerland an, in der Internatsschule des dortigen Schlosses. Chabos wohnte in einem düsteren Zimmer im Seitenflügel.

Zur Story