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Opfer der Colonia Dignidad: «Das waren wahnsinnige Schreie»

Lange Zeit das Tor zur Hölle: Der Haupteingang der Colonia Dignidad.  
Lange Zeit das Tor zur Hölle: Der Haupteingang der Colonia Dignidad.  
Bild: messynessychic.com

Folter, Mord und Führerkult: Wie aus einem deutschen Idyll in Chile ein Gottes-KZ wurde

Die Sekte Colonia Dignidad galt lange als deutsches Idyll in Chile. Tatsächlich war die Siedlung unter ihrem Anführer Paul Schäfer ein Schauplatz von Folter, Mord und Missbrauch. Viele der Verbrecher kamen ohne Strafe davon. 
09.03.2016, 11:2911.03.2016, 15:39
Christoph Gunkel / Spiegel online
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Spiegel Online

Abends, gegen acht, hörte er die Motorengeräusche. Dann wusste er, dass es wieder losging. Dass die nächsten Opfer an der Reihe waren. Dass er sich die Bettdecke fest über den Kopf ziehen konnte und sie trotzdem schreien hören würde, direkt unter seinem Schlafraum, in einer unterirdischen, geheimen Folterzelle. Zwei, drei unendlich lange Stunden. Nacht für Nacht, monatelang. 

«Das waren wahnsinnige Schreie», sagt Georg Laube vier Jahrzehnte später über seine Zeit in der Sekte Colonia Dignidad, einer berüchtigten deutschen Siedlung in Chile. Immer wieder sagt er «wahnsinnig», er dehnt das Wort in die Länge, als könnte er damit das Unfassbare besser beschreiben. Doch es fehlen die passenden Worte für den Terror, den er 1973 als zwölfjähriger Junge miterleben musste

«Das war unglaublich schlimm, ich hatte so ein Mitleid», sagt Laube; man spürt seine Hilflosigkeit. Er musste zuhören und konnte nichts machen. Nur eine Betondecke trennte ihn von den Folteropfern – verschleppte Regimegegner des chilenischen Diktators Augusto Pinochet. «Irgendwann wurden die Schreie leiser oder endeten abrupt. Dann dachte ich: Ist der jetzt tot? Kommt er in den Himmel oder die Hölle?» 

Dieser Gedanke, er war ein Triumph für Paul Schäfer – den ehemaligen Jugendpfleger mit dem Glasauge, der als Sektenführer der Colonia Dignidad für die Folterungen verantwortlich war und auch Laube jahrelang folterte: mit Schlägen, Psychopharmaka, Elektroschocks, sexuellem Missbrauch. Ein Triumph, weil Laube selbst in Todesangst noch in religiösen Kategorien wie Himmel und Hölle dachte – genauso wie Schäfer es ihm und allen anderen eingepflanzt hatte.

Colonia Dignidad – das vermeintliche deutsche Idyll in Chile

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Colonia Dignidad – das vermeintliche deutsche Idyll in Chile
Die ehemalige Colonia Dignidad, heute «Villa Baviera». Die von dem deutschen Sektenchef Paul Schäfer gegründete Siedlung liegt rund 340 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago.
quelle: x01744 / â© ivan alvarado / reuters
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Der Sektenchef wollte entwurzelte Menschen

Dabei hätte Laube, 54, den Sektenchef längst gedanklich in die Hölle schicken können. Dafür, dass Schäfer ihn seit seinem siebten Lebensjahr gezwungen hatte, in sein Bett zu kriechen und dort Dinge zu tun, die bis heute bei ihm Ekel hervorrufen. Aber Schäfer war in der Sekte gottgleich. Er nannte sich Pius, der Fromme, wie zwölf Päpste, und «Tio permanente», der ewige Onkel. Für alle Grausamkeiten, die Laube durchleiden musste, fühlte er sich selbst schuldig: Sünden, Gottes Strafe, Gottes Prüfung, «und all dieser Scheiss, der uns eingetrichtert wurde», sagt Laube. Spätestens, wenn er vollgepumpt war mit Medikamenten, habe er alles zugegeben, was Schäfer hören wollte. «Ich war kein eigener Charakter mehr.» 

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Trotzdem habe er auch damals «immer wieder Zweifel» gehabt, aber «viel zu viel Angst, um zu fliehen». Zudem kannte er nur die Colonia Dignidad – nicht aber die Welt ausserhalb des Elektrozauns mit den Bewegungsmeldern. Laube war noch ein Baby, als seine Eltern ihn 1962 ins ferne Chile brachten. Schäfer trennte alle Kinder strikt von ihren Eltern. Er wollte entwurzelte Menschen, verbot Heiraten, bestrafte heimliche Liebesbeziehungen, trennte Männer und Frauen. An die Stelle solcher Bindungen setzte er allein sich und seine Version des Christentums. So konnte er seine Jünger gefügiger machen. 

«Wer achtet schon auf einen Tropfen?»

Wer dennoch floh, wurde mit Spürhunden gehetzt, gefangen, gefoltert. Schon Kinder machte Schäfer zu Spitzeln. Je mehr er wusste, desto besser konnte er manipulieren. Opfer berichteten später übereinstimmend von seinem untrüglichen Gespür, wer der Schwächste war – und wann Zweifel aufkamen. 

Dann predigte er los: «Die Heiden sind bei Gott so geachtet wie ein Wassertropfen an einem Eimer», erinnert sich Laube. «Anschliessend brüllte er los: ‹Aber was ist schon ein Tropfen? Wer achtet schon auf einen winzigen Tropfen? Ein Tropfen ist nichts, die Heiden sind nichts!›» Versöhnlich endete er: «Ihr lebt hier in einer heiligen Welt. Ihr seid keine Tropfen, ihr seid Gottes Kinder!» 

Im Februar kam «Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück» in die Kinos. In dem Thriller spielen Daniel Brühl und Emma Watson ein Liebespaar, das 1973 in die Unruhen nach dem Putsch des rechten Generals Augusto Pinochet gerät – und dann in die Fänge der Sekte.

Beste Kontakte nach Deutschland

Pinochet hatte, auch mit Hilfe der CIA, den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt. Er liess Zehntausende foltern, ermorden oder verschwinden – auch in der Colonia Dignidad. Denn Schäfer ging mit den neuen Machthabern einen Pakt ein, der ihn über Jahrzehnte nahezu unangreifbar machen sollte: Er liess nicht nur Pinochets Feinde foltern und gliederte sie später in die Sekte ein, sondern lieferte dank seiner guten Kontakte nach Deutschland und zu CSU-Politikern auch Waffen, darunter Raketenwerfer, Minen, Sprengstoff und Senfgas. Dazu konstruierte er eine unterirdische Parallelwelt aus Bunkern, geheimen Telefonzentralen und Abhöranlagen. Ermittler fanden später auch so seltsame Utensilien wie schiessfähige Spazierstöcke oder ein Teleobjektiv für Giftpfeile. 

Das enorme Waffenlager in der Colonia Dignidad.
Das enorme Waffenlager in der Colonia Dignidad.
Bild: AP

Nach aussen aber war die Colonia Dignidad eine landwirtschaftliche Mustersiedlung, in der die etwa 350 Bewohner deutsches Vollkornbrot backten und deutsche Wurst räucherten. Die frommen Deutschen arbeiteten auf den Feldern, in der Schlosserei, der Nähstube, der Tischlerei oder dem modernsten Krankenhaus der Region. Mädchen trugen auf öffentlichen Feiern Dirndl, Jungs Lederhosen; sie tanzten ausgelassen zu bayerischer Volksmusik. 

In Wahrheit diente das vermeintliche Idyll von Beginn an als Tarnung. Schäfer war in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg wegen sexueller Übergriffe aufgefallen und als evangelischer Jugendpfleger entlassen worden. Als Laienprediger in Siegburg hatte er bald einige Hundert Anhänger um sich geschart, meist Baptisten. Auch hier verging er sich an Jungen. Als die Staatsanwaltschaft ermittelte, floh Schäfer 1961 und erwarb in Chiles Einöde 3000 Hektar Land mit Blick auf schneebedeckte Berge. 

Trailer (deutsch): «Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück» (2016).
YouTube/Hochdeutsche Kino

Die Kolonie nennt Florian Gallenberger, 43, einen «Mini-Terrorstaat», geführt mit «mitleidsloser Brutalität». Gallenberger hat 2001 als Regisseur einen Oscar für den besten Kurzfilm gewonnen und nun den Kinofilm über die Sekte gedreht. Wer mit ihm spricht, spürt, dass es ihm um mehr als einen packenden Thriller geht: Vier Jahre hat er sich mit dem Thema befasst und das Vertrauen früherer Sektenmitglieder gewonnen, von denen viele noch auf dem alten Gelände leben. 

Mit einem Dutzend von ihnen hat er sprechen können. Auch wenn seine Hauptfiguren im Film fiktiv sind, hat er vieles übernommen, was belegt ist: die «Herrenabende» etwa, bei denen eine Frau vor allen Männern öffentlich für ihre angeblichen Sünden gedemütigt und verprügelt wurde. Den Versuch Schäfers, Tote zu erwecken. Das nervöse, pfeilschnelle Aufspringen, sobald er seine Jünger aufrief. 

Heute ist die Kolonie eine Touristenattraktion

Manche Zeitzeugen weinten in den Gesprächen, nur um sich beim nächsten Treffen wieder völlig verschlossen zu verhalten. «Da war etwa dieser Mann, der mit seinem Traktor die Folteropfer in die Berge brachte und verscharrte», erzählt Gallenberger. Die Toten waren in Leinentücher gewickelt. «Er sagte, er habe nicht gewusst, was in den Tüchern ist. Ich glaube, er wusste es – und gleichzeitig war seine innere Selbsttäuschung so perfekt, dass er es wirklich nicht wusste. Es sind diese Mechanismen, die dazu führen, dass sich viele bis heute lieber einen oberflächlichen Frieden als eine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit wünschen.» 

Sektenchef Schäfer wurde 2005 in Argentinien verhaftet und an Chile ausgeliefert. 
Sektenchef Schäfer wurde 2005 in Argentinien verhaftet und an Chile ausgeliefert. 
Bild: EPA

Schäfer, 2005 auf der Flucht gefasst und 2010 im Gefängnis gestorben, wurde zwar wie einige Mittäter verurteilt. Aber viele Schuldige blieben von der Justiz unbehelligt. Und wer derart offen spricht wie Georg Laube, macht sich keine Freunde. Er werde, sagt er, von vielen seiner ehemaligen Brüder «als Verräter geächtet». 

So bleibt er mit seiner Wut allein: «Nichts ist aufgearbeitet. Die Opfer haben keine Entschädigung bekommen, auch die deutsche Regierung hat total versagt.» Denn schon ab Ende der 60er Jahre gab es Berichte über Verbrechen in der Kolonie. Die deutsche Regierung aber handelte nicht, und deutsche Waffenhändler wie Gerhard Mertins machten weiter Geschäfte mit der Sekte. Die deutsche Botschaft in Chile soll sogar geflohene Mitglieder zu Schäfer zurückgeschickt haben. 

Laube ist längst weggezogen, weit in den Süden Chiles. Ab und an besucht er seine alte Mutter, die noch in der Gemeinschaft lebt. Ein paar Mal ist er in den ehemaligen Folterraum gegangen, aus dem er als Kind die Schreie hörte, die ihn bis heute verfolgen. 

Heute heisst die Colonia Dignidad «Villa Baviera» und ist eine Touristenattraktion.
Heute heisst die Colonia Dignidad «Villa Baviera» und ist eine Touristenattraktion.
Bild: messynessychic.com

«Drinnen stand noch ein Sanitäterstuhl mit Ledergurten, mit denen die Gefolterten festgezurrt waren. An den Decken habe ich noch Striemen gesehen.» Spuren von Schlägen. Der Bunker war unterirdisch befahrbar, die Folterzelle aber nur zwei mal drei Meter gross. Jedes Mal rannte Laube schnell aus dem Raum. «Mir war übel, ich musste nach Luft ringen.» 

Umso unverständlicher für ihn, dass auf diesem belasteten Gelände, das heute «Villa Baviera» heisst, 2012 ein Hotel für Touristen eröffnet wurde. «Im Saal, in dem heute das Restaurant ist, hat Schäfer uns durchgeprügelt, und ich habe mich vor Angst zugepinkelt. Nebenan hat er Kinder vergewaltigt. Und dort finden jetzt Hochzeiten statt!»

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Er findet nur eine Erklärung: Schäfer sei zwar tot – aber seine alte Strategie, der Welt eine falsche Normalität vorzugaukeln, sie lebe weiter.

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Evenwhenthewaterscold
09.03.2016 11:47registriert Mai 2015
Da bleibt einem der Mund offen....
Starker Artikel, der Film scheint ebenfalls sehenswert zu sein!
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Einstein56
09.03.2016 11:35registriert Juni 2014
Das ist ein dunkles Kapitel der Geschichte Chiles. Zum Glück wird es aufgearbeitet. Vielen nützt es zwar nichts mehr- seien es nun Folter- oder Missbrauchsopfer. Und leider können einige nicht mehr belangt werden. So weit führt religiöser Fanatismus - seien es nun evangelikale Christen wie in diesem Fall oder der IS.
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DAMA
09.03.2016 16:29registriert März 2015
Ich habe den Film im Kino gesehen und es hat mich sehr bewegt. Die Geschichte geht bis in die Knochen. Ganz traurig was hier passiert ist.
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