Die Provence-Luft flimmert in der provenzalischen Hitze, und den Bauarbeitern rinnt der Schweiss schon am Morgen aus dem Helm. 2000 Beschäftigte bauen dort eines der grössten zivilen Projekte überhaupt, den «Internationalen thermonuklearen Versuchsreaktor», kurz ITER. Die Ausmasse sind wahrhaft pharaonisch: Das bereits verlegte Erdreich hat das Volumen der Cheops-Pyramiden.
Im zentralen, 60 Meter hohen Hangar entsteht der Reaktor, das Herz des Bauwerks. Seine Mission: Herauszufinden, ob die Kernfusion im grossen Stil machbar ist. Man könnte auch sagen, obwohl es die Atomphysiker in Cadarache nicht so «politisch» formulieren würden: Der ITER soll helfen das Klimaproblem mitzulösen. Damit auch Bauarbeiter weniger schwitzen.
Die technische Idee hinter dem Vorhaben: Der ITER sucht eine Kernfusion zu realisieren, wie sie in der Sonne abläuft: die Verschmelzung der Wasserstoff-Isotope Deuterium und Tritium zu Helium, wie Pressesprecherin Sabina Griffith auf der Betriebsführung erklärt. Für diese energiefreisetzende Fusion braucht es im ITER allerdings Temperaturen von bis zu 150 Millionen Grad - heisser als im Inneren der Sonne.
Das hält keine irdische Materie aus. Also siedeln die ITER-Physiker die Reaktion in einem kreisrunden Vakuumraum von 20 Meter Durchmesser an. Dieser so genannte «Tokamak» (eine russische Abkürzung für «toroidale Kammer in Magnetspulen») ist umgeben von Magneten, die jede Annäherung der brandheissen Partikel an die Aussenwände verhindern und sie in einem labilen Gleichgewicht in der Mitte der Kreisbahn halten. Die freiwerdenden Kräfte sind gewaltig - genügend, um über Dampfturbinen 500 Megawatt zu produzieren - die Energie eines kleinen Atomkraftwerkes. «Der zentrale Solenoid-Magnet ist der stärkste, der je erstellt wurde», sagt Sabina Griffith. «Er könnte zwei Flugzeugträger auf einmal hochziehen.»
Für vermessen hält die deutsche Baustellenführerin die menschgemachte Kernfusion mitnichten. «Sie folgt physikalischen Gesetzen und ist im kleinen Massstab auch schon erprobt worden.» Um 500 Megawatt zu produzieren, genügen ein paar Gramm Materie. Und anders als die Kernspaltung in heutigen Atomkraftwerken produziert die Kernschmelze kaum radioaktiven Abfall - und kein CO2. Das Tritium hat zudem eine Halbwertszeit von nur zwölf Jahren - damit kann das Menschengeschlecht leben.
Das Tüpfelchen auf dem i ist die Betriebssicherheit: «Bei einem Unfall stoppt die Operation von selbst, ohne dass im Plasma eine Kettenreaktion entstünde», erklärt Griffith vor einem riesigen Teilstück des Tokamaks. Und was geschieht, wenn die Schweissnähte in der Vakuumkammer nicht millimetergenau sind; was, wenn ein Flugzeug in den Tokamak stürzt, so wie die Germanwings-Maschine 2015 in die nahen Voralpen crashte? «Nichts», meint die Physikerin. «Gar nichts, die Fusion hört einfach auf, wie wenn man das Licht abstellt.»
Wenn nur alles so einfach wäre. Im Februar hat die französische Atomsicherheitsbehörde ASN in einigen Punkten Verbesserungen am ITER verlangt. Das führe aber zu keinen Verzögerungen, präzisiert Griffith. Auf der Fahrt durch die endlos scheinende Baustelle erzählt die Physikerin die Geschichte des ITER. 1985 hatte der Sowjetrusse Michail Gorbatschow dem US-Präsidenten Ronald Reagan ein Gemeinschaftsprojekt namens ITER vorgeschlagen, um den Kalten Krieg zu überwinden. Weitere Nuklearstaaten wie Japan, China, Indien, Korea, die EU und die Schweiz schlossen sich an. 2006 wurde das Vorhaben auf dem Militärgelände der französischen Atombehörde CEA in Cadarache offiziell lanciert. Es kam aber zu Managementfehlern, die Kosten explodierten von sechs auf 20 Milliarden Euro.
Kein Pappenstiel für ein Pilotprojekt. Alain Becoulet, der Chefingenieur von ITER, relativiert:
Becoulet räumt ein, dass die Covidkrise, der Ukrainekrieg und auch der Frachterstau im Suezkanal von 2021 den Zeitplan des ITER verzögerten. Seine Bestandteile kommen aus allen Mitgliedstaaten - von Japan über Indien bis in die USA. Der oberste ITER-Ingenieur ist dennoch zuversichtlich, dass die Bauarbeiten 2024 beendet sein werden. Darauf wird die Kernschmelze geprobt. Bis 2035 soll das ITER-Experiment schlüssige Resultate zeitigen. Fallen sie positiv aus, woran Becoulet nicht zweifelt, könnte die Kernfusion ab 2050 in kommerziellem Umfang dekarbonierte Energie liefern.
Schon jetzt interessieren sich immer mehr Privatinvestoren wie Jeff Bezos, Bill Gates oder Georges Soros für die Kernschmelze. Becoulet freut sich darüber. «Halbstaatliche Institute wie das MIT in Massachusetts, das JET bei Oxford oder das deutsche Max-Planck-Institut bringen die Forschung aber weiter als Privatfirmen», gibt der 59-jährige Franzose aber zu bedenken. «Wir sind keine Konkurrenten, wir ziehen alle am gleichen Strick.» Zu vermissen sei höchstens eine bessere wissenschaftliche und politische Koordination. Dazu müsste aber auch der ITER stärker beitragen. Er folgt seit 2006 dem gleichen Modell; und wenn sich mittlerweile 35 Partnerstaaten mühsam einigen müssten, scheint jede physikalische Anpassung unmöglich.
Und auch jeder politische Kurswechsel? Der ITER ist von den westlichen Sanktionen gegen Russland an sich nicht betroffen. «Er beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den man nicht so leicht auflösen kann», sagt Becoulet. Die Russen sollen in den nächsten Monaten den obersten Magnetring des Tokamaks liefern. Er ist unverzichtbar für ITER, wo 80 Russen arbeiten.
Aber die Russland-Frage ist nur eine Episode im epochalen Projekt der Kernverschmelzung. Die grosse Frage ist für Becoulet: «Wollen wir auf eine abfalllose Fusionsenergie setzen - oder weiterhin auf fossile Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle? Die erneuerbaren Energien werden sie jedenfalls in Ballungszentren wie Peking oder Los Angeles nie vollständig ersetzen können. Der Stausee Serre-Ponçon nördlich von Cadarache ist derzeit schlicht ausser Betrieb, nachdem sein Wasserstand mangels Regen in diesem Jahr acht Meter gesunken ist.»
Umweltschützer halten gerne dagegen, die Kernfusion sei jene Technologie, deren Durchbruch ständig für die nächsten 30 Jahre versprochen werde - und das schon seit weit mehr als 30 Jahren. Greenpeace spricht von einem Milliardengrab. Das offizielle Gegenargument hört man im Gespräch mit ITER-Mitarbeitenden immer wieder auf dem Gang durch den Tokamak, die Kühlanlage und das Umspannwerk: «Können wir es uns leisten, nicht alles versucht zu haben im Kampf gegen den Klimawandel?» (aargauerzeitung.ch)
Wenn es dann aber um die Kosten und den Vergleich zur WM geht, merkt man, dass das Messer scheinbar noch nicht nah genug am Hals der Menschheit ist.
Aber dass solch ein Fusionskraftwerk mal Strom produziert ist alles andere denn sicher. Also ersetzt dieser Versuch keine andere Anstrengung bei den Bemühungen von fossilen Energieträgern los zu kommen.