Wissen
Klima

«Kipppunkte» verwirren und lenken von dringenden Klima-Massnahmen ab

This 2016 photo provided by NASA shows the Getz Ice Shelf from 2016’s Operation Icebridge in Antarctica. According to a new study published Monday, Jan. 14, 2019, in Proceedings of the National Academ ...
Der westantarktische Eisschild gilt als einer der wichtigsten Klima-Kipppunkte. Bild: AP/NASA

Warum manche Klima-Forscher den Begriff «Kipppunkte» abschaffen möchten

07.12.2024, 10:45
Mehr «Wissen»

In der Diskussion über die Klimaerwärmung und deren Folgen sind sie ein fester Bestandteil: sogenannte Kipppunkte, Points of no return, nach denen sich das Klima unwiderruflich verändert. Klimaforscher verweisen oft auf diese Kipppunkte, um die Dringlichkeit von Massnahmen gegen die fortschreitende Klimaerwärmung zu untermauern. Der Begriff ist daher auch in der Klima-Berichterstattung prominent vorhanden – auch watson hat mehrfach über Klima-Kipppunkte berichtet, etwa hier, hier oder hier.

Klima-Kipppunkte
Kipppunkte sind definiert als «eine kritische Schwelle, an der eine winzige Störung den Zustand oder die Entwicklung eines Systems qualitativ verändern kann». Als Vergleich könnte ein Stift dienen, den man mit dem Finger immer weiter über eine Tischkante hinausschiebt: Zuerst geschieht nichts, doch dann fällt er plötzlich. Wenn etwa ein Gletscher beim Abschmelzen an Höhe verliert, gerät seine Oberfläche in niedrigere, wärmere Luftschichten, was das Abschmelzen beschleunigt.
Jenseits der Kipppunkte können selbstverstärkende Rückkopplungsprozesse dafür sorgen, dass eine Entwicklung unaufhaltsam wird – auch wenn der externe Einfluss inzwischen nicht mehr besteht. Im Fall von Meeresströmungen wie dem Golfstrom können Änderungen enorme Auswirkungen auf das Klima haben.

Kritik am Begriff

Doch eine wachsende Gruppe von Wissenschaftlern befürchtet, dass der Begriff mehr schadet, als nützt und man ihn deshalb nicht mehr verwenden sollte. So ist etwa am 3. Dezember im Fachmagazin «Nature Climate Change» ein Beitrag von Wissenschaftlern mehrerer Universitäten – darunter Princeton, Rutgers und Carleton – erschienen, der sich kritisch mit dem Begriff befasst. Die Autoren argumentieren, Kipppunkte seien in Bezug auf die globale Erwärmung schlecht definiert und würden oft falsch angewandt. Obendrein gebe es keinen Beweis dafür, dass der apokalyptische Ton der Kipppunkt-Metapher wirklich die Handlungsbereitschaft erhöhe.

Zudem stellen die Autoren fest, dass die Öffentlichkeit eher auf Bedrohungen reagiere, die kurzfristig und unmittelbar bevorstehend sind und deren Eintreten als relativ sicher gilt. Abstrakte Gefahren, deren Zeitpunkt höchst ungewiss oder unvorhersehbar sei, lösten dagegen weit weniger Reaktionen aus.

«Zwar sind viele der physikalischen Phänomene, die unter die Bezeichnung Kipppunkte fallen, wichtig und sicherlich eine Untersuchung wert, aber sie beleuchten nicht unbedingt die kritischsten oder weitreichendsten Aspekte davon», erklärt Hauptautor Robert Kopp, Professor für Erd- und Planetenwissenschaften an der Rutgers School of Arts and Sciences.

Intensive Klimaereignisse wirken eher

Erkenntnisse aus der sozialwissenschaftlichen Forschung, so stellen die Autoren fest, legten nahe, dass konstruktives kollektives Handeln eher durch intensive Klimaereignisse ausgelöst werde, die jetzt stattfinden, als durch die eher abstrakte Idee von Kipppunkten. Als Beispiele für solche intensive Klimaereignisse nennen die Autoren etwa grossflächige Waldbrände, anhaltende Dürre, starke Hitzewellen und Überschwemmungen.

In this May 2016 photo released by The Ocean Agency/XL Catlin Seaview Survey, an underwater photographer documents an expanse of dead coral at Lizard Island on Australia's Great Barrier Reef. Cor ...
Ein anderer Klima-Kipppunkt, der oft Erwähnung findet, sind Korallenriffe. Bild: AP/The Ocean Agency / XL Catlin Seaview Survey

Nicht gut definiert

Die Autoren bemängeln, der Begriff «Kipppunkt» sei nicht gut definiert, auch wenn es so aussehe. «Der Versuch, so viele Phänomene und Situationen unter einer Bezeichnung und einem Interpretationsrahmen zusammenzufassen, trägt nicht zur Wissenschaft bei», kritisiert Mitautor Michael Oppenheimer, Professor an der Princeton University.

Die breite Anwendung des Begriffs mache ihn vage und unwirksam, wenn es darum gehe, Massnahmen anzuregen. «Die Wahrscheinlichkeit, dass Länder Massnahmen ergreifen, ist grösser, wenn sie ein eindeutiges Ereignis wie einen verheerenden Waldbrand oder eine Energiekrise erkannt haben, das politische Möglichkeiten zur Förderung bereits bekannter Lösungen bietet», erläutert Rachael Shwom, Professorin an der Rutgers School of Environmental and Biological Sciences, ebenfalls Mitautorin.

Die Autoren monieren ferner, es entstehe Verwirrung, wenn politische Ziele, die auf der Erwärmung basieren – etwa Bemühungen zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs – fälschlicherweise mit Klima-Kipppunkten in Verbindung gebracht würden. Nach ihrer Ansicht sollte sich die Klimawissenschaft nicht zu sehr mit der Bestimmung genauer Schwellenwerte für katastrophale Auswirkungen befassen, zumal deren Zeitpunkt höchst ungewiss sei. Dies könne zu Fehlalarmen führen und die Glaubwürdigkeit künftiger Behauptungen nur verringern.

«Jeder Bruchteil eines Grades zählt»

«Jeder Bruchteil eines Grades zählt: 1,45 Grad Erwärmung sind schlecht, 1,55 Grad sind noch schlechter», sagt Mitautorin Elisabeth Gilmore von der Carleton University. «Dennoch scheinen viele zu glauben, dass 1,5 Grad Erwärmung eine besondere Bedeutung habe oder eine Schwelle darstelle, ab der sich Klimaschutz nicht mehr lohnt. Das Gegenteil ist der Fall: Je wärmer die Erde wird, desto grösser ist die Notwendigkeit, die Emissionen schnell zu reduzieren.»

Die Wissenschaftler betonen, dass sie nicht die ersten sind, die Zweifel an der Verwendung von Kipppunkten äussern. Bereits im Jahr 2006 kritisierten die Redaktoren der Zeitschrift «Nature» den Begriff in einem Aufsatz wegen der höchst unsicheren Wissenschaft und der Gefahr, dass dieser Fokus zu Fatalismus führen könnte. Für Gilmore ist daher klar: «Solange Wissenschaftler über Kipp-Punkte sprechen, sollten ihre kommunikativen Auswirkungen Gegenstand der Forschung sein.»

(dhr)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Braunalgen verpesten Meere von der Karibik bis nach Afrika
1 / 11
Braunalgen verpesten Meere von der Karibik bis nach Afrika
Von wegen weisser Strand und tief blaues Meer: In Cancun, Mexiko, sind die Strände kilometerlang mit Braunalgen bedeckt.
quelle: ap/ap / israel leal
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Es hat mit Wehmut zu tun» – wie der Klimawandel die Schweizer Bergwelt verändert
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
75 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Blaghund
07.12.2024 13:18registriert November 2023
Betrachten wir das ganze doch mal realistisch.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit künftig weniger Energie braucht, tendiert gegen 0.
Somit fällt sparen aus.
Bleibt übrig:
- die Anzahl Verursacher reduzieren
- Technologie

Variante eins bedeutet Genozid und Massenmord. Ziemlich unethisch.

Variante zwei kostet Geld.
Momentan wär's "günstig" auf Erneuerbare umzusatteln, aber zu viele Petrolheads laben am Tropf der Fossilen...

Somit läufts wohl darauf aus, dass die Natur es selbst richten muss.
287
Melden
Zum Kommentar
75
    Blink-182-Sänger lässt Banksy-Gemälde für 4,3 Millionen Pfund versteigern

    Ein Ölgemälde des legendären Streetart-Künstlers Banksy ist bei Sotheby's in London für fast 4,3 Millionen Pfund (rund 4,9 Millionen Franken) versteigert worden. Das auch unter dem Titel «Toxic Beach» bekannte Werk «Crude Oil (Vettriano)» ist eine Neuinterpretation des Gemäldes «Singing Butler» des Schotten Jack Vettriano, dessen Tod einen Tag zuvor verkündet worden war.

    Zur Story