Spätestens nach gut einer Stunde hätte er tot sein müssen. Guðlaugur Friðþórsson aber lebte weiter, als ob der Tod ihn vergessen hätte. Der isländische Fischer, ein Hüne von 1,93 Meter und mehr als 125 Kilo, trotzte lebensfeindlichen Verhältnissen, die seine unglücklichen Gefährten nur wenige Minuten überstanden. Der Mann, der einfach nicht sterben wollte, wurde zum Untersuchungsobjekt der Wissenschaft.
Am 11. März 1984, einem Sonntag, läuft die «Hellisey VE 503» aus dem Hafen von Heimaey aus. Der kleine Ort auf der gleichnamigen Insel, Teil der südwestisländischen Inselgruppe Vestmannaeyjar, lebt von der Fischerei. Fünf Männer arbeiten auf dem Fischtrawler, darunter der 22-jährige Guðlaugur Friðþórsson, den alle «Laugi» nennen. Alles geht seinen gewohnten Gang. Bis sich das Grundschleppnetz am Meeresboden verhakt und das Schiff blitzschnell zum Kentern bringt.
Noch bevor die Männer ein Notsignal abgeben können, treibt die «Hellisey VE 503» kieloben im Wasser, fünf bis sechs Kilometer östlich von Stórhöfði, wo ein Leuchtturm den südlichsten Punkt von Heimaey markiert. Es ist 22 Uhr und bereits dunkel. Nur drei Männer schaffen es, sich auf den Kiel des Schiffs zu retten, die beiden anderen tauchen nicht mehr aus dem 5 Grad kalten Wasser auf. Zuerst versuchen die Überlebenden, das Rettungsboot klar zu machen, doch die Befestigungen liegen unter Wasser und sind eingerostet.
Die einzige Hoffnung der Männer ist, auszuharren, bis Hilfe eintrifft. Wenn ihre nächste fällige Meldung bei der Küstenwache ausbleibt, wird automatisch eine Suche eingeleitet. Doch nach 45 Minuten beginnt das Boot unter den Männern wegzusinken – nun bleibt ihnen nichts anderes übrig, als an Land zu schwimmen. Dass ihre Chancen schlecht stehen, ist eine massive Untertreibung.
Ein voll angezogener Erwachsener mit einer Schwimmweste überlebt in 5 Grad kaltem Wasser etwa eine Stunde, denn im Wasser verliert der menschliche Körper 25-mal so schnell Wärme wie an der Luft. In Labortests beginnen Versuchspersonen schon nach etwa 20 bis 30 Minuten unter schweren Beeinträchtigungen zu leiden. Für die Strecke bis zur Küste, die vor Laugi und seinen beiden Kollegen liegt, benötigt aber auch der schnellste Schwimmer mehrere Stunden.
Und die drei Männer haben zuvor eine Dreiviertelstunde in nassen Kleidern an der 2 Grad kalten Luft verbracht, die wegen des Windes noch kälter wirkt. Bei Personen, die einer Lufttemperatur von 4 Grad ausgesetzt sind und deren Kleider einen Liter Wasser enthalten, sinkt die Körpertemperatur um 10 Grad, wenn das ganze Wasser verdunstet ist.
Nach wenigen Minuten bleiben nur noch Laugi und Hjörtur Jónsson, der Kapitän, über Wasser. Bald darauf, es sind höchstens zehn Minuten vergangen, ist Laugi allein. Es ist ein kritischer Moment für ihn, als ihm bewusst wird, dass er seine Kollegen nie mehr sehen wird und er jetzt ganz allein ist. Er schwimmt auf das Licht des Leuchtturms von Stórhöfði zu, Zug um Zug, fünf bis sechs endlose Stunden lang. Seine Stiefel und sein Ölzeug hat er ausgezogen; er schwimmt barfuss, in Jeans, Hemd und Pulli.
Unterwegs, so erzählt er später, spricht er mit den Möwen, die die ganze Zeit über ihm kreisen, und erzählt ihnen Witze. Er bittet sie, Hilfe zu holen. Ein Nordatlantischer Eissturmvogel leistet ihm die ganze Zeit Gesellschaft – fast wie ein Schutzengel, so kommt es Laugi vor. Und er denkt daran, dass er die letzte Rate für sein Motorrad noch nicht bezahlt hat. Wenn er jetzt aufgibt und stirbt, wird der Verkäufer sich bestimmt ärgern. Einmal fährt ein Boot an ihm vorbei, es sind weniger als 100 Meter, Laugi ruft und schreit, niemand hört ihn.
Früh am Morgen erreicht er endlich Land. Hier aber sind die Klippen hoch und steil, die Brandung schwer. Laugi muss einsehen, dass es hier kein Durchkommen gibt. Er gleitet zurück ins Meer und schwimmt weiter, der Ostküste Heimaeys entlang, bis endlich eine geeignete Stelle ihm erlaubt, an Land zu klettern. Dies, sagt er später, sei für ihn der schlimmste Moment gewesen – sich wieder der Kälte der Luft aussetzen zu müssen.
Und noch immer ist seine Drangsal nicht vorüber. Barfuss muss Laugi zuerst einen steilen Hang erklimmen und über ein Lava-Geröllfeld laufen. Die scharfkantigen Steine schneiden tief in seine Füsse. Etwa drei Kilometer sind es bis zum Ort Heimaey; Laugi benötigt zwei Stunden dafür. Auf dem Weg kommt er an einer Badewanne vorbei, sie dient als Tränke für Schafe. Mit blosser Faust zerschlägt er die zentimeterdicke Eisschicht und trinkt.
Um 7 Uhr – neun Stunden nach dem Untergang seines Boots – hat es Laugi geschafft und klopft an die Tür des ersten Hauses von Heimaey. Er spricht nicht in ganzen Sätzen, er nennt die Namen seiner Kollegen, seines Schiffs und sagt immer wieder «geschwommen, geschwommen». Man bringt Laugi umgehend ins Krankenhaus, doch der Hüne ist zwar unterkühlt, hat aber keine erheblichen Erfrierungen und ist bis auf die tiefen Schnittwunden an seinen Füssen unverletzt.
Sein unglaubliches Durchhaltevermögen machte aus Guðlaugur Friðþórsson einen isländischen Helden. An der Stelle, wo er das Eis in der Badewanne zerschlagen hatte, setzte man ihm ein Denkmal, das an seinen Überlebenswillen erinnert – und an seine ertrunkenen Kollegen. Sein kariertes Hemd und seine Jeans sind im Museum von Vestmannaeyjar ausgestellt.
Auch die Wissenschaft wurde auf den unverwüstlichen Isländer aufmerksam. Sein Zustand nach dem stundenlangen Aufenthalt in lebensbedrohlichen Verhältnissen war ein medizinisches Wunder. Als er gerettet wurde, lag seine Körpertemperatur unter der Skala, die ein handelsübliches Fieberthermometer anzeigt – je nach Quelle betrug sie weniger als 35 Grad oder lag sogar unter 33 Grad. Dennoch zeigte Laugi keine geistigen Einschränkungen, die normalerweise mit Hypothermie einhergehen, zum Beispiel Verwirrtheit.
Laugi zeigte dafür allerdings Symptome von Dehydration. Dies ist nicht verwunderlich: In einer kalten Umgebung ist die Luft sehr trocken, was dazu führte, dass Laugi bei jedem Atemzug etwas Feuchtigkeit an die Umgebung verlor (dies sehen wir, wenn unsere Atemluft in der kalten Luft eine Wolke bildet).
Um Laugi auf Herz und Nieren zu untersuchen, schickte ihn die Universität in Reykjavík 1985 ans London Hospital Medical College zu William R. Keatinge, einem führenden Experten für Hypothermie. Dort unterzog man ihn vielfältigen Test – unter anderem wurde er in Becken mit drei bis fünf Grad kaltem Eiswasser gesetzt. Er trug dabei ähnliche Kleider wie damals in den kalten Fluten des Atlantiks und machte Schwimmbewegungen.
Während die trainierten Navy-Schwimmer, die der Tortur ebenfalls unterworfen wurden, bald aufgeben mussten, holte man den eher unsportlichen Laugi erst nach 83 Minuten aus dem Becken, weil seine Füsse zu schmerzen begannen. Die Kerntemperatur seines Körpers blieb auch nach 75 Minuten im Eisbad nahezu normal. Keine andere Versuchsperson, die Keatinge jemals testete, hielt es länger als 30 Minuten aus.
Was Laugi dabei hilft, länger als alle anderen Menschen in kaltem Wasser zu überleben, ist eine subkutane Fettschicht, die seinen Rumpf schützend einhüllt und dicker ist als jene anderer Menschen. Im Durchschnitt ist sie 5 bis 6 Millimeter dick, bei korpulenteren Personen 7 bis 8 Millimeter. Laugi hingegen verfügt über eine 14 Millimeter dicke Schicht – was ihm den Scherznamen «Seehund-Mann» eintrug.
Tatsächlich scheint Laugis subkutane Fettschicht ihn ausserordentlich gut zu isolieren. Bei anderen Menschen – egal, ob sie dick oder dünn sind – paralysiert extreme Kälte früher oder später die Blutgefässe in der Fettschicht, was dazu führt, dass sie sich ausdehnen. Damit gelangt mehr Blut in die äusseren Schichten des Körpers, was den Wärmeverlust steigen lässt – die Fettschicht büsst ihre isolierende Wirkung ein. Diesen Effekt nennen die Mediziner «Vasodilatation». Laugi zeigte aber keine Anzeichen von Vasodilatation, vermutlich aufgrund der Dicke seiner Fettschicht.
Doch sogar seine ungewöhnliche Physiologie hätte nicht ausgereicht, um Laugi vor einem einsamen Tod in den kalten Fluten zu bewahren, glauben die Wissenschaftler. Ohne seine mentale Stärke, ohne seine Beharrlichkeit und ohne seine Weigerung, einfach zu sterben, wäre auch Laugi im Atlantik versunken wie seine vier Kollegen.
1987, der mediale Rummel um seine Person hatte sich längst gelegt, begann Guðlaugur Friðþórsson wieder als Fischer zu arbeiten. Er fühlte sich lange schuldig, dass er als einziger seiner Crew überlebt hatte und seinen Kollegen nicht hatte helfen können – ein Gefühl, das als Überlebensschuld-Syndrom bekannt ist. Später heiratete er und sass bis 2012 im Lokal-Parlament von Vestmannaeyjar.
Auf der Inselgruppe hat Laugis Heldentat eine neue Tradition begründet: Seit 1985 findet im Swimming Pool von Heimaey alljährlich der Guðlaugssundið – «Guðlaugurs ‹Schwumm›» – statt. Einige Teilnehmer schwimmen dabei eine Distanz von 6 Kilometern wie einst Laugi. Der Anlass soll an Laugis heroisches Überleben, an seine ertrunkenen Kollegen und alle auf See gebliebenen Seeleute zu erinnern.
Watcherson
schwiizermeischterevz
LifeIsAPitch