«Das sind ganz normale Regelschmerzen, nehmen Sie einfach ein Schmerzmittel»: Sätze wie diesen bekamen Livia Umiker und Jana Schmid während Jahren bei jedem Arztbesuch zu hören. Dabei hatten sie regelmässige Schmerzattacken, die so stark waren, dass sie den Weg vom Auto ins Büro nicht schafften oder sich stundenlang auf einem öffentlichen WC einschliessen mussten.
Wieder und wieder musste Livia Umiker bei ihren Chefs antraben, weil sie zu oft bei der Arbeit fehlte. Seit sie denken kann, hat die 36-jährige Bündnerin monatlich starke Mensschmerzen. Doch immer häufiger wurden die Tage, an denen die Schmerzen auch unabhängig von der Mens kamen. An solchen Tagen konnte Umiker das Bett kaum verlassen: «Während dieser Attacken fühlte es sich an, als ob mein Unterbauch explodieren würde.»
Sie solle die Pille durchgehend nehmen, riet ihr die Gynäkologin. Doch das half nicht, im Gegenteil: Die Symptome verschlimmerten sich. Es begann eine jahrelange Odyssee. Ein Arzt nach dem anderen beschied ihr, sie sei gesund, man finde nichts. Irgendwann glaubte ihnen Livia Umiker:
Dann kam der Kinderwunsch. Umiker hatte Respekt vor dem Absetzen der Pille, da sie half, die Schmerzen etwas in Schach zu halten. Umiker entschloss sich dennoch dazu – und wurde zu ihrem grossen Erstaunen innert weniger Monate schwanger.
Doch das Glück währte nur kurz. Livia Umiker hatte einen Abort. Auch die Schmerzen nahmen wieder zu, und in ihrer Verzweiflung wechselte Umiker ein weiteres Mal die Frauenärztin. Im ersten Ultraschall sah diese die riesigen Zysten – so gross, dass sich die Eierstöcke als sogenannte «Kissing Ovaries» in der Bauchmitte berührten.
Das müsse man sicher operieren, sagte die Gynäkologin und schickte Umiker weg. «Ich ging einfach aufs WC und heulte, ich fühlte mich total verloren», erzählt die 36-Jährige. Alleingelassen in ihrer panischen Angst vor der Operation. «Weil die Endometriose bis in den Darm gewachsen war, sagte man mir, man müsse vielleicht einen künstlichen Darmausgang einsetzen», sagt Umiker. Diese Ungewissheit habe ihr bis zur Operation stark zugesetzt.
Umiker holte sich therapeutische Hilfe und so überstand sie die Zeit bis zur Operation. Sie wachte ohne künstlichen Darmausgang auf, doch sie trug einen schweren Infekt davon. Es dauerte Monate, bis sie sich von der Operation erholte.
Auch der Kinderwunsch blieb. In den kommenden sechs Jahren versuchten Umiker und ihr Mann, ein Kind zu bekommen. Erfolglos. Monat für Monat wiederholten sich das Hoffen und Bangen – und die Enttäuschung. Umiker glaubte, Veränderungen im Körper wahrzunehmen, die auf eine Schwangerschaft hinwiesen; sie schöpfte Zuversicht, wenn die Mens im Verzug war. Doch wieder und wieder zerschlug sich die Hoffnung.
Die psychische Belastung wurde immer grösser, für Livia Umiker wie auch für ihren Mann. Irgendwann mussten sie sich eingestehen: So geht es nicht mehr weiter. Sie gaben sich einige Wochen Zeit, um über ihre Zukunft nachzudenken: Was sind unsere Wünsche und Ziele? Wie viel Kraft wollen wir noch in unseren Kinderwunsch investieren? Können wir uns ein Leben ohne Kinder vorstellen?
Schliesslich waren sie sich einig: Sie begraben den Kinderwunsch und machen sich auf in ein Leben ohne Kind. «Ich konnte einfach nicht mehr», sagt Livia Umiker, «ein riesengrosser Stein fiel mir vom Herzen.» Endlich habe sie begonnen, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu hören und nicht mehr alles auf den Kinderwunsch auszurichten.
Manchmal überkam sie später noch ein Anflug von Wehmut, doch nicht mehr der tiefe Schmerz von früher. Heute sind Livia Umiker und ihr Mann glücklich mit ihrem Leben – genau so, wie es ist.
So wie Livia Umiker geht es vielen Frauen mit Endometriose. «Bis zu 50 Prozent der Frauen, die nicht schwanger werden können, haben eine Endometriose. Bei manchen wird die Diagnose erst wegen des unerfüllten Kinderwunsches gestellt», sagt Sara Imboden, stellvertretende Leiterin des Endometriosezentrums am Berner Inselspital. Durch die Behandlung – mit Hormonen oder einer Operation – könne die Chance auf eine Schwangerschaft meist deutlich gesteigert werden.
Die Endometriose sei recht gut erforscht. Einige ungeklärte Fragen gebe es aber noch, etwa zur Entstehung, sagt Sara Imboden:
Vor allem aber müsse die Krankheit bekannter werden, in der Bevölkerung wie auch beim Gesundheitspersonal. Das sagt auch Michael Müller, Chefarzt Gynäkologie und Co-Klinikdirektor der Universitätsklinik für Frauenheilkunde am Berner Inselspital: «Gynäkologische Fachärzte wissen meist gut Bescheid, doch Allgemeinmedizinerinnen, Gastroenterologen und Chirurginnen sowie die Bevölkerung müssen unbedingt besser informiert werden.»
Zwar gibt es typische Symptome für die Endometriose: Schmerzen bei der Mens, beim Stuhlgang, beim Geschlechtsverkehr, ein Blähbauch und Durchfall. Doch die Symptome und deren Schweregrad variieren stark, da die Endometriose die unterschiedlichsten Organe befallen kann. Aus diesem Grund wird sie auch das «Chamäleon unter den gynäkologischen Erkrankungen» genannt.
Wie vielfältig die Symptome der Endometriose sein können, zeigt die Geschichte von Jana Schmid. Zwar begann es auch bei der 30-jährigen Aargauerin typisch – mit starken Mensschmerzen, die chronisch und immer stärker wurden. Doch dann kamen auch unspezifische und zyklusunabhängige Symptome hinzu.
Da Schmids Zwerchfell von der Endometriose befallen war, zogen sich die Schmerzen bis in die Schultern. Schon bei geringen Anstrengungen wie Treppenlaufen hatte sie Mühe beim Atmen. Manchmal hatte sie während der Mens so starke Gelenkschmerzen, dass sie sich brennend heisses Wasser über die Glieder schüttete. Es ist Schmid wichtig zu betonen: «Bei der Endometriose geht es nicht ‹nur› um Mensschmerzen. Es ist eine Ganzkörperkrankheit.»
Zehn Jahre lang ertrug Jana Schmid diese Symptome nicht nur, sondern hielt sich deswegen für schwach und fragil. Denn auch sie wurde nicht ernst genommen. Als sie vor Schmerzen weinend bei ihrem Gynäkologen anrief, verweigerte man ihr eine Untersuchung: Das seien normale Mensschmerzen, das müsse sie eben aushalten.
«Wenn einen so viele Ärzte über einen so langen Zeitraum nicht ernst nehmen, kommen grosse Selbstzweifel auf», sagt Jana Schmid. Es sei wichtig, sich Zweit- oder Drittmeinungen einzuholen oder bei eigenem Verdacht direkt in ein Endometriosezentrum zu gehen.
Als Berufsfotografin war Jana Schmid oft unterwegs. Sie kämpfte sich durch Tage, an denen sie sich kaum aufrecht halten konnte:
Im Gespräch mit einer Kollegin hörte Schmid dann erstmals von der Endometriose. «Es klingelte sofort bei mir», sagt sie. Die erste Abklärung bei einer Ärztin, welche sich mit Endometriose befasst, ergab eine Verdachtsdiagnose. Bestätigt wurde diese jedoch erst in einer Bauchspiegelung, in der Schmid unter Vollnarkose eine Gewebeprobe entnommen wurde.
«Im ersten Moment war ich unendlich erleichtert», blickt Schmid zurück. Ihr unsichtbares Leiden hatte endlich einen Namen. Doch dann drang ihr auch ins Bewusstsein: «Ich bin chronisch krank.» Es begann eine Phase der Neufindung für Jana Schmid. Sie lernte, auf ihren Körper zu hören. Sie fand heraus, was ihr im Umgang mit der Krankheit hilft: eine Ernährungsumstellung, Yoga und vor allem – reden, reden, reden.
Vor einem guten Jahr erweckte Jana Schmid gemeinsam mit anderen Betroffenen – darunter auch Livia Umiker – die Schweizerische Endometriose-Vereinigung Endo-Help zu neuem Leben. Organisiert in regionalen Gruppen in der ganzen Deutschschweiz, können sich Betroffene in Selbsthilfegruppen austauschen. Das erste Treffen sei für sie augenöffnend gewesen, sagt Schmid, Co-Präsidentin von Endo-Help:
Gemeinsam kämpfen die Frauen bei Endo-Help nun auch für eine grössere politische und gesellschaftliche Sichtbarkeit der Krankheit. Sie stehen auf, um anderen Betroffenen den jahrelangen Leidensweg zu ersparen, den sie selbst gegangen sind. Das sei das Schlimmste gewesen, sagen Schmid und Umiker unisono: dass die Ärzte sie jahrelang nicht ernst nahmen und ihr Leiden keinen Namen hatte.
Es gebe noch so viel zu tun, etwa bei der Aufklärung, die schon in der Schule beginnen sollte, sagt Jana Schmid: «Alle wissen, was Diabetes oder Brustkrebs ist, aber kaum jemand weiss, was Endometriose ist.» In der Schweiz sei man im Rückstand bezüglich Bekanntheit, Erkennung sowie Behandlung der Krankheit. Es fehle an finanzieller Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit und an Rehaplätzen nach einer Operation. Auch in die Forschung und Entwicklung von Therapien müsse man viel mehr investieren.
Durch ihre Krankheit haben Jana Schmid und Livia Umiker einen anderen Blick auf das Leben gewonnen. Livia Umiker sagt, sie möchte keinen Schritt auf ihrem Weg missen:
Auch Jana Schmid sagt: «Heute weiss ich, dass mein Körper jeden Tag mit mir den Kampf mit der Endometriose führt. Ich bin dankbar für alles, was ich lernen durfte, und für tolle Freundschaften, die über die Selbsthilfegruppen entstanden sind.»
Gleich zwei Motionen zur Endometriose kommen demnächst in den Nationalrat: eine von Benjamin Roduit (Mitte, VS) und eine von Gabriela Suter (SP, AG). Die Motionen geniessen eine breite Unterstützung: Sie wurden von Parlamentsmitgliedern aus allen Parteien und Regionen mitunterzeichnet.
Roduits Motion fordert, dem Schweizerischen Nationalfonds ein Forschungsmandat zur Endometriose zu erteilen. Dabei geht es einerseits um die Auswirkungen der Krankheit auf Gesundheits- und Gesellschaftskosten. Gemäss einer internationalen Studie sind diese für die Schweiz auf 1,5 Milliarden Franken jährlich zu schätzen. Anderseits, so schreibt Roduit in der Motion, erfordere die Entwicklung von Methoden zur Früherkennung umfangreiche Forschungsarbeiten. Da hinke die Schweiz hinterher.
Eine nationale Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne fordert Gabriela Suter in ihrer Motion. Sowohl die Bevölkerung als auch das medizinische Fachpersonal seien zu wenig sensibilisiert. «Im Gegensatz zu Australien und Frankreich, die nationale Strategien und Aktionspläne beschlossen haben, wird die Krankheit in der Schweiz noch immer vernachlässigt», sagt Gabriela Suter. Es sei wichtig, die Krankheit zu enttabuisieren und bekannt zu machen, damit die Betroffenen schneller behandelt würden. (aargauerzeitung.ch)