Bianca, eine 50-jährige Ostschweizerin, sitzt an diesem Sommernachmittag im Wintergarten, die Oleander blühen. «Meine erste Diät habe ich mit 13 Jahren gemacht», sagt sie.
Damals in der Mädchensekundarschule seien die Mitschülerinnen alle drahtig und gross gewesen. «Ich war ein Jahr älter und hatte bereits weibliche Kurven.» Was nach dieser ersten Diät folgt, ist eine jahrzehntelange Ernährungs-Odyssee, die auf dem Operationstisch ihr Ende findet. Aber der Reihe nach:
Einige Jahre später – nach der ersten Schwangerschaft – wiegt Bianca 20 Kilogramm mehr als in der Sek. «Früher habe ich viel Sport gemacht. Ich ging gerne schwimmen oder in den Vitaparcours». Mit dem ersten Kind sind Zeit und Motivation für sportliche Aktivitäten kaum noch vorhanden. Sie fühlt sich zum ersten Mal unwohl in ihrer Haut.
Sie beginnt mit einem Diätprogramm namens «Weight Watchers» abzunehmen und verliert auf diese Weise 15 Kilogramm. Sie wird erneut schwanger. Wieder 20 Kilogramm rauf, 10 Kilogramm runter.
Dann geht es stetig nach oben: erst 20 Kilogramm, dann 30 Kilogramm. «Im Jahr 1996 habe ich 127 Kilogramm gewogen», sagt Bianca. Es ist die höchste Zahl, die eine Waage jemals unter ihren Füssen anzeigen wird.
In den nächsten 15 Jahren probiert Bianca jede nur erdenkliche Diät aus: «Einmal habe ich mich an einer Kohlsuppen-Diät versucht, ein anderes Mal trank ich für zwei Wochen nur noch Kaffee mit Zitronensaft und Bouillon».
Diät folgt auf Diät. Ein Jojo-Effekt jagt den nächsten. Auch ärztlich verschriebene Fettblocker-Kapseln habe sie zwischenzeitlich genommen. «Es ist völlig krank, was ich meinem Körper zugemutet habe», sagt Bianca heute.
Bis 2011 – mit einem Gewicht von 120 Kilogramm – Schluss ist: «Ich konnte mich nicht mehr anschauen». Erneut startet sie das Weight-Watchers-Programm, dieses Mal «extrem konsequent». In den nächsten 18 Monaten nimmt sie 50 Kilogramm ab. «Ich traf mich nicht mehr mit Freunden. Ich hatte kein soziales Leben mehr.» Eines Morgens zeigt die Waage 69 Kilogramm an.
Doch der Körper hat die letzten 36 Jahre nicht vergessen und jede Diät ihre Spuren hinterlassen. Obwohl sich Bianca nach eigenen Angaben weiterhin an das Programm hält, beginnt sie langsam wieder zuzunehmen. «Ende 2019 waren 43 von 50 abgenommenen Kilos wieder da, ohne dass ich viel mehr gegessen hätte. Ich wurde einfach immer dicker», sagt Bianca.
Ein Teufelskreis: «Irgendwann isst man gar nichts mehr, und nimmt trotzdem zu.» Der Körper habe ein wahnsinniges Gedächtnis. «Der Stoffwechsel ist komplett gestört», sagt Bianca. «Die vielen Diäten haben meinen Körper zerstört.»
Dass Fettleibigkeit schwerwiegende gesundheitliche Probleme verursachen kann, ist allseits bekannt. Heinrich von Grünigen, Präsident der Schweizerischen Adipositas-Stiftung, zählt einige auf: Diabetes, Bluthochdruck und Nierenschäden, verschiedene Krebs-Arten und Gelenk-Probleme.
Doch Diäten und Pülverchen seien der falsche Weg um langfristig abzunehmen: «Methoden wie Crash-Diäten treiben die Betroffenen noch tiefer in die Adipositas-Spirale», sagt er. «Jede markante Gewichtsveränderung stellt eine Belastung für den menschlichen Organismus dar.»
Der Jojo-Effekt ist ein allseits bekannter Mechanismus: lediglich 4 bis 5 Prozent können nach einer Diät das neue Gewicht halten. Alle anderen nehmen wieder zu – teils mehr als zuvor. In medizinischen Kreisen sind diese starken Gewichtsschwankungen als sogenanntes «weight cycling» bekannt.
«Wie stark ‹weight cycling› den Organismus belastet, ist bis heute noch nicht abschliessend geklärt», sagt Philipp Gerber, Arzt und Leiter des Fachbereichs für klinische Ernährung und Adipositas am Universitätsspital Zürich (USZ).
«Grundsätzlich gilt es, ‹weight cycling› zu vermeiden, da wir das Herz-Kreislauf-Risiko von starken Gewichtsschwankungen nicht abschätzen können», sagt Gerber. Ob und in welcher Weise Diäten den Stoffwechsel belasten oder gar schädigen, sei noch unbekannt.
«Kurzfristige Diäten funktionieren generell nicht, es braucht langfristige Veränderungen». Wenn eine Diät einmal nicht zum Ziel geführt habe, sei die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie es niemals tue.
Die folgenden zwei Wechselwirkungen können gemäss Philipp Gerber bei gleich bleibender Ernährung zu einer Zunahme an Körpergewicht führen:
Da Ernährungsumstellungen und Medikamente oft keine langfristigen Erfolge erzielen, werden immer häufiger Operationen im Magen-Darm-Trakt durchgeführt. Eine davon ist der Magenbypass (Box 2). Die Vorteile dieser Operation liegen für Philipp Gerber auf der Hand: «Der Magenbypass ist die nachhaltigste Art des Gewichtsverlusts», sagt der Arzt.
Sieben Monate sind seit Biancas Operation vergangen. «Heute geht es mir sehr gut», sagt sie. Das Leben mit einem Magenbypass ist anders. Es gibt Regeln, und es gibt Hoffnung.
«Ich habe zurzeit fast nie Hunger. Meistens vergesse ich, etwas zu essen», sagt Bianca. Nahrungsergänzungsmittel sind seit dem Eingriff Pflicht, denn einige Stoffe wie Proteine, Kalzium oder Vitamin-D3 kann Biancas Körper nur noch begrenzt aufnehmen.
Eine wichtige Regel lautet, dass Bianca weder während noch nach dem Essen etwas trinken darf. Sie muss immer eine halbe Stunde warten. Der Nahrungsbrei würde sonst praktisch unverdaut in den Darm gespült. «Das kann zu Bewusstseinsverlust oder einem Kreislaufkollaps führen», sagt sie.
Die Spuren der jahrzehntelangen Gewichtsschwankungen bleiben nach der Magenbypass-Operation zurück: schmerzende Füsse, Arthrose in der Hüfte, überschüssige Haut und fünf rote Narben am Bauch. «Ich habe mir das selbst zugefügt. Deshalb lerne ich mit diesen Spuren zu leben. Ich kann gut damit leben», sagt Bianca.
Ein gängiges Urteil lautet, dass Übergewicht selbstverschuldet sei. Das ist so nicht richtig, denn «sowohl das Umfeld als auch die genetische Veranlagung beeinflussen, wie hoch das Risiko für Übergewicht ist», sagt Gerber: «Ein Mensch mit ungünstiger Gen-Zusammensetzung hat weniger Spielraum als andere.»
Dicke Menschen gelten oft als disziplinlos, faul und ungepflegt. «Diese Vorurteile halten sich leider hartnäckig und bestimmen nach wie vor den Umgang unserer Gesellschaft mit der Krankheit Adipositas», sagt Heinrich von Grünigen, Präsident der Schweizerischen Adipositas-Stiftung.
«Diskriminierung kann schon in der Familie beginnen und setzt sich über die Schule fort bis an den Arbeitsplatz. Das Vorurteil ‹dick gleich dumm› ist nicht auszurotten», sagt von Grünigen.
Bianca erinnert sich an eine Szene: Als sie ihrer Vorgesetzten alte Fotos von sich zeigt, auf denen sie 120 Kilogramm wiegt, sagt diese rundheraus, sie hätte Bianca niemals mit diesem Körpergewicht eingestellt – wegen des Kundenkontaktes.
Adipositas ist ein gesellschaftliches Tabu-Thema, sagt Bianca. «Wir müssen uns entschuldigen und rechtfertigen, weshalb wir so dick sind.» Die Fettsucht sei eine sichtbare Krankheit. Trotzdem werde kaum darüber gesprochen.
Dieser Aussage schliesst sich auch Philipp Gerber vom USZ an: «Stigmatisierung ist ein Problem», sagt er. Im Gegensatz zu anderen Krankheiten werde Fettleibigkeit nicht als solche wahrgenommen. Der Arzt setzt sich deshalb für Aufklärungsarbeit am USZ ein. Er will die Öffentlichkeit über das Thema informieren.
«Falsche Rollenbilder und Schönheitsideale setzen Menschen mit Übergewicht einem enormen sozialen Druck aus», ergänzt Heinrich von Grünigen. Er fordert einen empathischen und normalen Umgang mit Adipositas.
Blickt sie heute zurück, ist Bianca überzeugt, dass es niemals so weit gekommen wäre, hätte sie nicht mit 13 Jahren Diäten gemacht. «Ich wäre vermutlich nie schlank gewesen, aber auch nie so dick geworden.» Könnte sie noch einmal zurück, sie würde sich selbst raten, das Ganze bleiben zu lassen. «Aber ich weiss auch, ich würde nicht auf mich hören.»
Aber die Kommentarexperten wissen es natürlich besser.
Der JoJo Effekt resultiert daher, dass man in alte Verhaltens- und Ernährungsmuster verfällt.
Das einzige was gegen Übergewicht hilft ist schlicht weniger Energie aufzunehmen als zu verbrauchen. Wer also sagt er esse fast nichts und nimmt trotzdem zu, bescheisst sich schlicht. Gerade übergewichtige Menschen haben oft kein Gefühl für Mengen und Energiedichte von Nahrungsmittel. So habe Studie gezeigt, dass Übergewichtige ihren Energieverbrauch höher einschätzen und die Kcl Menge ihres Essen zu tief einschätzen. Bei schlanken Menschen ist es umgekehrt.