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Derains «Das Meer der Aswang»: Warum ein Mädchen zum Krokodil wird

Illustration von Allan N. Derain aus seinem Roman «Das Meer der Aswang».
Illustration von Allan N. Derain aus seinem Roman «Das Meer der Aswang».bild: allan N. Derain
Review

Dieser philippinische Roman erzählt, warum ein Mädchen zum Krokodil werden muss

Dieses Buch ist anders. Es entführt dich in eine mythische Welt voller Zauberwesen, erzählt von kolonialer Gewalt und dichterischer Schöpfungskraft. Ein Rezensionsversuch mit historischen Ausflügen in die philippinische Vergangenheit und den Gedanken von Autor und Übersetzerin zu diesem aussergewöhnlichen Werk.
24.08.2025, 20:0725.08.2025, 15:15

Im Grunde lässt sich eine Aswang gar nicht beschreiben. Weil Worte festhalten wollen. Eine Aswang aber lässt sich nicht festhalten. Sie ist ein Wandelwesen; als etwas zwischen Mensch, Tier, Göttin und Geist entschlüpft sie durch alle Grenzen und feste Formen, sie ist uralt und frisch geboren, alles zur selben Zeit. Ihr Zuhause ist der Widerspruch – und sie hat damit nicht das geringste Problem. Was sie allerdings hat, ist Hunger. Sehr grossen Hunger. Alles will sie in sich aufnehmen.

«Das menschliche Gehirn hat nur einen Vorteil: Es ist so weich und lecker wie süsse, schlabbrige Reisbällchen.»
Allan N. Derain – «Das Meer der Aswang»

Um aber die Geschichte einer solchen Kreatur erzählen zu können, muss man natürlich gewisse Regeln einhalten, das gebietet das Vermitteln, das die Sprache sich zur zentralen Aufgabe gemacht hat. Der Autor kann sich nicht einfach im Chaos verlieren, von dem er gern berichten will, ein Roman braucht eine gewisse Stringenz, eine Zeit, einen Ort und einen Handlungsstrang, an dem man sich als Leserin entlanghangeln kann.

Allan N. Derain fängt also da an, wo die Aswang noch keine Aswang ist. Als sie noch ein 15-jähriges Mädchen mit dem Namen Luklak ist und im kleinen Küstendorf Bariwbariw auf der philippinischen Insel Panay heranwächst. Die Spanier, die hier den Boden und die Menschen übernommen haben, nennen es einfach Pueblo. Wir befinden uns in der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Luklak steht am Flussufer und grillt einen Aal. Der schlangenförmige Fisch war ihr Bruder. Genauer ihr Halbbruder, der in der Mutter ohne das Zutun des Vaters herangereift war.

«Was auch immer die Erklärung dafür war, wie der Aal Luklaks Mutter entspringen konnte: Sie sollten beide zusammen getötet werden. Und so geschah es. Die Strafe wurde streng nach Befehl und ohne weitere Umstände vollstreckt. Ein bisschen Mühe bereitete das Ersäufen des Aals, aber auch dafür fand man schliesslich einen Weg.»
Allan N. Derain – «Das Meer der Aswang»

Wenn Luklak nicht ihren Bruder verspeist, kämmt sie das Haar der Heiligen Jungfrau Maria mit einem elfenbeinernen Kamm, den ihr Pater Obaba zur bevorstehenden Taufe geschenkt hat. Wenn sie ihren Dienst in der Kirche verrichtet hat, steckt sie den Kamm ein und setzt ihn ebenso bei der einzig verbliebenen Binukot der Insel, der letzten Sängerin der Epen von Panay, ein. Der verborgenen, edlen Dame, die so lange verborgen bleibt, bis sie heiratet. Aber sie heiratet nicht. Und darum kämmt ihr Luklak weiterhin das Haar, kämmt ihr die Läuse und Nissen raus, aber nie alle, weil die Läuse vom Leben der Verstorbenen zeugen, wenn deren Seele im Jenseits beurteilt wird.

Einige dieser verschonten Tierchen wandern dann wohl gemeinsam mit Luklak und ihrem Kamm hinüber aufs maisfarbene Heiligenfigurenhaar Mariens. Und so infiziert hier die eine Welt die andere, so wie das bald mit dem Mädchen selbst geschehen wird.

Sie wird vom Speichel der Faulatmigen angesteckt, die an ihrem Aal geleckt haben, vom Geifer, der aus den herabhängenden Lefzen der Waldholden Bawa tropft und aus den Mäulern aller anderen Erd- und Unmenschen, die im Untergrund wohnen und so viele Namen haben, weil sie nicht so einfach auf einen Nenner zu bringen sind.

«Da nimmt Luklak die vielen Ferkel wahr. Ihr Fell ist schwarz, es wächst handlang wie dünnes Schilf. Die Körper sind kugelrund, wie ein Vogelschnabel ist die lange und spitze Schnauze angesetzt. Und bei den Ferkeln stehen ihre Herrchen und Dämchen. Sie kommen als Bettler, denn die Elfen lieben mannigfaltige Erscheinungen ihrer selbst; einige kommen als Gockel, andere als Hunde, Katzen, Wildschweine, Geckos, und einige haben es fertiggebracht, zugleich ein Tier und eine Bettlerin zu sein, tierische Bettlerin und Bettlertier, sie haben eine kühne Vorstellungskraft, oder vielleicht entgleisen ihnen die Metamorphosen.»
Allan N. Derain – «Das Meer der Aswang»​

Einige wenige haben den Mut, sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, und sehen dabei aus wie bösartiger Ingwer. Einer legt sich Farnblätter als Schal um, ein anderer schmückt sich mit Leuchtkäferchen; «goldene Asseln und allerhand Gefleuch» dienen den Wandelwesen als Verzierung.

In Derains Universum werden aus göttlichen Scheisshaufen Inseln, güldene Schamhaare zu Lautensaiten, auf denen Melodien von einzigartiger Reinheit und Melancholie gespielt werden.

Und Luklak wird zum Krokodil. Wird frei von all den Erwartungen, die an ihrem Geschlecht, an ihrer Stellung, an ihrem Menschsein hängen, sie streift sie ab, zusammen mit ihrer alten Haut.

Und während sich jene Hauptmetamorphose vollzieht, webt Derain wie ein wild gewordener philippinischer Ovid Geschichten in Geschichten, singt alte Lieder von Himmelswanderungen, droht zuweilen ganz im Mythos zu versinken, nur um dann aus seiner Tiefe wieder einen Schwarm schwatzhafter Seelenvögel steigen zu lassen, die im Hier und Jetzt ganz ernst über die von «Moro-Piraten» bedrohte Zukunft beraten; denn jene Männer aus den südlichen Sultanaten werden bald übers Meer kommen – und Menschen rauben. Und um ihnen entgegenzutreten, gibt's nur eins: ein rituelles Besäufnis.

Alles hier ist Spiel, Spiel der Götter, Spiel der Wandelwesen und Spiel des Autors mit seiner Erzählmacht; fast scheint sich Derain an seiner eigenen Unzuverlässigkeit zu ergötzen, liebt es, unter dem Deckmantel vermeintlicher Klarheit noch mehr Verwirrung zu stiften, historische Gerüchte zu verbreiten, xenophobe Stereotype einzustreuen und altehrwürdige Rituale auf eine wunderbar direkte Art zu ironisieren.

Derain hat es in seinem Buch geschafft, eine Leichtigkeit in das schwere Kolonialerbe zu bringen, das bis heute auf den Philippinen lastet.

Über den Autor
Allan N. Derain arbeitet in Bulacan und Manila, in der Hauptstadt unterrichtet er auch Kreatives Schreiben, Kunstgeschichte und Philippinische Literatur an der Ateneo de Manila University. Zudem ist er Direktor des AILAP (Ateneo Institute of Literary Arts and Practices). Mehrere seiner Bücher wurden mit dem Philippine National Book Award ausgezeichnet, unter anderem auch das hier besprochene Werk, das im Original «Aswanglaut» heisst und 2021 auf Tagalog erschienen ist.
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Bild: Ateneo de Manila University

Das koloniale Erbe der Philippinen: Die Aswang in den Fängen der CIA

Die Spanier brachten Katholizismus, Steuern und Zwangsarbeit, 333 Jahre lang drückten sie den Menschen dort ihren Glauben, ihre Sprache und ihre Werte auf, bis 1898 ein neues Eroberervolk kam und dem Königreich auf der Iberischen Halbinsel seine letzten bedeutenden überseeischen Kolonien entriss. Die Amerikaner brachten den Philippinen Soldaten, Verwaltungsstrukturen, Rechts- und Schulsystem, Coca-Cola, Baseball und Jeans. Und sie kontrollierten das Land; gaben ihm einen freien Markt, der vor allem sie selbst bediente, während ihre imperialen Hände in die nach ihrem Vorbild geschaffenen demokratischen Institutionen fingerten und sie zum Steuerknüppel der eigenen Interessen umfunktionierten.

Der Zweite Weltkrieg brachte Verwüstung, Tod und die japanische Besatzung über die 7641 philippinischen Inseln.

(Eingeschränkte Rechte für bestimmte redaktionelle Kunden in Deutschland. Limited rights for specific editorial clients in Germany.) World War II in the Philippines Landing of the Japanese on Mindanao ...
Landung der Japaner auf Mindanao: Japanische Truppen kämpfen auf den Strassen von Mindanao, Dezember 1941.Bild: ullstein bild

Und nachdem die USA die Philippinen zurückerobert hatten, folgte endlich die versprochene Unabhängigkeit, auf die ihre «wohlwollende Assimilierung» von Anfang an abzielen sollte. Aber der Kommunismus, der sich nun im Land breitzumachen drohte, veranlasste die philippinische Regierung dazu, die amerikanische Militärpräsenz abermals zu erhöhen.

Nur, wen holte man hier zurück in die Heimat? Befreier oder Kolonialherren? Für die Hukbalahap, die Volksarmee gegen die Japaner, kurz Huks, waren die Amerikaner Letzteres. Aus den Reihen landloser Bauern und Bäuerinnen rekrutiert, kämpften sie ab 1942 als kommunistisch geführte Guerilla-Organisation gegen die Japaner. Doch die Lorbeeren blieben ihnen trotz ihres beachtlichen Erfolgs verwehrt. Anstatt sie als legitime Guerillas anzuerkennen, wurden sie von den USA und der philippinischen Regierung als Rebellen eingestuft; statt des Veteranenstatus gab es Verhaftungen.

(Original Caption) Huk Chief Proves He's Alive. Luis M. Taruc, head man of the Huk Guerrillas in the Philippines, who has often been reported dead by Philippine government intelligence, proves it ...
Huk-Anführer Luis M. Taruc beweist mittels einer Manila-Zeitung vom 1. Juli 1950, dass er, anders als oft vom philippinischen Geheimdienst gemeldet, noch am Leben ist.Bild: Bettmann

Und so gingen die Huks in den bewaffneten Untergrund und begannen mit der echten Rebellion; überfielen Dörfer, Regierungstruppen und Banken. 1950 zählten sie bereits über 15'000 Kämpferinnen und Kämpfer und genossen hunderttausendfache Unterstützung; zudem hatten sie inzwischen zwei Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht.

Das ist die Bühne, die Edward Lansdale betritt. Ein 42-jähriger Armeeoffizier, der in Friedenszeiten als Werbefachmann in San Francisco tätig ist und in den nachkriegerischen die nachrichtendienstliche Abteilung der USA auf den Philippinen leitet. Das Office of Strategic Services (OSS), das zwei Jahre später zur CIA wird. In dieser Funktion soll er die Huks loswerden.

Edward Landsdale
Generalmajor Edward Lansdale im Jahr 1963.Bild: wikipedia

Und das tat er laut eigenen Angaben auf besonders kreative Weise:

«Eine psychologische Kriegsführungseinheit wurde hinzugezogen. Sie verbreitete unter den Einwohnern der Stadt Gerüchte über einen Aswang, der auf dem Hügel lebte, auf dem sich die Huks niedergelassen hatten. Zwei Nächte später, nachdem die Gerüchte Zeit hatten, sich bis zum Lager auf dem Hügel zu verbreiten, legte die psychologische Kriegsführungseinheit einen Hinterhalt entlang des von den Huks benutzten Pfades. Als eine Huk-Patrouille den Pfad entlangkam, schnappten sich die Hinterhalter lautlos den letzten Mann der Patrouille, wobei ihre Bewegung in der dunklen Nacht unbemerkt blieb. Sie stachen ihm wie Vampire zwei Löcher in den Hals, hielten den Körper an den Fersen hoch, liessen das Blut abfliessen und legten die Leiche zurück auf den Weg. Als die Huks zurückkehrten, um nach dem Vermissten zu suchen, und ihren blutleeren Kameraden fanden, glaubte jedes Mitglied der Patrouille, dass der Aswang ihn erwischt hatte und dass einer von ihnen der Nächste sein würde, wenn sie auf diesem Hügel blieben. Als es hell wurde, zog die gesamte Huk-Truppe aus der Gegend ab.»
Aus Edward Lansdales Biographie «In the Midst of Wars: An American's Mission to Southeast Asia», 1972.

Er habe schon früh erkannt, dass mit psychologischer Kriegsführung viel mehr zu erreichen sei, gratuliert sich Lansdale in seinen Memoiren selbst zu seinem Geniestreich.

Nur, entspricht seine Schilderung der Wirklichkeit? Hat er sich tatsächlich kulturelle Ängste zunutze gemacht, um die Rebellen zu vertreiben? Oder hat er bloss ein rassistisch-koloniales Motiv bedient, um die Huks als primitive Abergläubige darzustellen, als «ewige Kinder», wie sich Derain ausdrückt, der neben seinem Aswang-Roman auch einen Essay über die Lansdale-Episode geschrieben hat?

Lansdale selbst stellt sich als ein Mann dar, der die Huks nicht töten, sondern verstehen will. Schliesslich gilt: ohne Wissen keine Instrumentalisierung; nur scheint dieses Wissen trügerisch, die Details seiner Geschichte zweifelhaft, wie Derain aufzeigt: Die zwei Löcher im Hals des Getöteten zeugen eher von weissen, westlichen Vampirvorstellungen als von der vielschichtigen Aswang, wie sie sich in der philippinischen Folklore seit dem 16. Jahrhundert zeigt.

Dracula (1931) Filmposter
Der Aswang-Angriff, wie ihn Lansdale angeblich inszenierte, erinnert Derain vielmehr an Dracula, hier in Gestalt von Bela Lugosi im gleichnamigen Film von 1931.Bild: wikimedia

Derain hat unzählige Aswangs gesammelt, die auf anthropologischen Forschungen und den Geschichten beruhen, die ihm die Leute aus verschiedenen philippinischen Provinzen erzählt haben: Geschichten von einer furchterregenden, gestaltwandelnden Hexe mit dem Fressverhalten eines Eingeweidesaugers, die ihre lange, dünne Zunge in die Bäuche schwangerer Frauen steckt, um das Leben zu verschlingen, das darin heranwächst. Geschichten von Menschen, die behaupten, sie gesehen zu haben, als Hund, Schwein, Regenschirm, Pflanze oder sogar als eigenes Familienmitglied.

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt des fingierten Aswang-Angriffs ist es dem Werber Lansdale gelungen, jenen kommerzialisierten Vampir-Import seinen Arbeitgebern im Pentagon erfolgreich zu verkaufen. Und nicht nur das: Auch auf den Philippinen hat jene trashige Aswang-Version Spuren hinterlassen. Derain schreibt:

«Seine Wirkung – etwa darauf, wie ältere Menschen heute die Entstehungsgeschichte des Aswang erzählen, oder wie die Erzählung vom CIA-Agenten, der den Aswang für die Filipinos erfand, als Ursprung der Aswang-Geschichte im Land gilt – verdrängt alle anderen Aswang-Narrative, die es vor Lansdale gab. Ein Mythos, der alle anderen Mythen verdrängt.»
Allan N. Derain

Die schöpferische Kraft der Dichtung

Aber statt zu klagen, nutzt Derain die reich beladene philippinische Vergangenheit, zerhackt sie in unzählige Geschichten, lässt sie ineinanderfliessen, sich gegenseitig befruchten, verzerren – und schafft so etwas vollkommen Neues. Denn eines ist trotz aller sehnsüchtiger Rückbesinnung auf einen vorkolonialen Zustand klar: Man kann nicht zurück. Nicht nur, weil man sich in der Zwischenzeit allzu sehr gewandelt, weil man sich das Fremde längst zu eigen gemacht hat und zu einem kulturellen Hybrid verformt worden ist, sondern weil jede Form von Ursprung immer schon erdacht, immer schon Projektion ist aus dem Jetzt, wann auch immer dieses stattfindet.

Wo der Mythos beginnt? Keine Ahnung, selbst der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss fand bei seinen Untersuchungen keinerlei Urform des Mythos, er scheint einfach immer schon erzählt worden zu sein. Als ein Versuch des Abbildens der Welt vielleicht, der es den Menschen erlaubt, über sich selbst nachzudenken.

Denn am Ende ist es doch so, wie es der Althistoriker Paul Veyne ausdrückte: «Menschen finden die Wahrheit nicht, sie erschaffen sie – so wie sie auch ihre Geschichte erschaffen.»

Das Erdichten als schöpferische Kraft; genau das macht sich Derain hier zunutze und zeigt, wie sich die philippinische Seele auf dem Scheisshaufen des kolonialen Erbes radikal neu erfindet.

Luklak verwandelt sich in ein Krokodil. Wird zur Aswang in Form eines Krokodils, das bestimmt wird von einem alles verzehrenden Verlangen, nämlich dem, ausnahmslos alles einmal probieren zu wollen, um zu wissen, wie es wohl auf der Zunge schmeckt. Einen kurzen Moment lang ist sie absolut frei in ihrem Appetit, alles in sich aufzunehmen und in einem sehr wörtlichen Sinne dadurch auch zu Allem zu werden. Das Verzehrte wird zu ihr und sie wird zum Verzehrten, und zusammen werden sie zu etwas Neuem.

«Möchtest du dein Schicksal nicht erfahren? Welche Aufgabe dir in dieser Welt bestimmt ist?», fragte die Taube Alimokon die störrische Aswang.
«Und was, wenn ich keine Aufgabe in dieser Welt übernehmen will?»
«Dann wird sich später niemand an dich erinnern.»
«Ich möchte gern vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen.»

Derain aber gelingt es, die Aswang festzuhalten. Und das, obwohl auch er das eigentlich nicht will. Seine Geschichte der Aswang ist auch die Geschichte über die Unmöglichkeit, von etwas zu erzählen, das nicht erzählt werden will. Weil jedes Erzählen ein Festhalten ist, jedes Beschreiben einem Bewahren und Konservieren in einer festen Form gleichkommt, was bei einer Kreatur, deren wesentliches Merkmal ihre Wandelbarkeit ist, scheitern muss.

Und doch scheitert der Autor nicht. Weil er die Aswang in ihrer Metamorphose begriffen nur aufflackern und am Ende in die Dunkelheit entschwinden lässt.

Ihr Dasein ist (noch) nicht verzweckt worden, störrisch muss sie die sämtlichen Aneignungsversuche ihres eigenen Mythos abwehren, ihrem gierigen Wesen zufolge heisst das: sie verschlingen.

Die deutsche Übersetzung

Und wir als Leserinnen verdauen derweil diesen ganzen irren Klumpen Geschichte und fragen uns, wer zum Henker es geschafft hat, sowas aus dem Tagalog überhaupt zu übersetzen und in unsere Welt zu transferieren. Sodass die Fremdheit nicht verfälscht, aber dennoch verstehbar wird? Denn genau das ist Annette Hug ganz glorios gelungen.

Über die Übersetzerin
Annette Hug, geboren 1970 in Zürich, studierte Geschichte in Zürich und Women and Development Studies in Manila. Nach Tätigkeiten als Dozentin und Gewerkschaftssekretärin arbeitet sie seit Januar 2015 als freie Autorin, seit 2017 übersetzt sie philippinische Gegenwartsliteratur ins Deutsche. Sie verfasst zudem die Kolumne «Ein Traum der Welt» in der WOZ und veröffentlicht Reportagen aus den Philippinen, Shanghai und Seoul. 2017 wurde sie für ihren Roman «Wilhelm Tell in Manila» mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Ihre Übersetzung von Allan N. Derains Roman «Das Meer der Aswang» erscheint im Unionsverlag.
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Bild: Michel Bühler

Die Übersetzung eines Buches hängt natürlich immer davon ab, wie man das Buch selbst versteht. Für Annette Hug geht es in «Das Meer der Aswang» ums Überleben:

«Ein Überleben mit viel Freude, in genussvoller Form zwar, dennoch ist die Bedrohung radikal. Derain zeigt eine Gesellschaft, die sich unter dem Eindruck der Kolonialisierung selbst zerfleischt. Es ist der Versuch, sich an eine neue Situation anzupassen, ohne sich selbst zu verlieren. Und das ist Luklak nur möglich, indem sie zum Krokodil wird: Als selbstbewusstes Mädchen, das eine Frau werden will, die einmal selbst in die Welt hinauszieht, die selbst entdecken kann und nicht einfach entdeckt wird, bleibt ihr nur die radikale Verwandlung. Was natürlich eine phantastische Geschichte ist, zugleich aber auch eine himmeltraurige.»
Annette Hug

Auf jeden Fall jedoch liest Hug sie als eine Geschichte, die gegen die eigene Ohnmacht kämpft. «Wo ist der Ausweg? Wie kann sich eine Gemeinschaft ausserhalb der mächtigen, monotheistischen Religionen und der hochbewaffneten Staatengebilde erhalten? Mit welcher List, welcher Vernunft, welchem Zauber?»

Das Meer der Aswang: Allan N. Derain
Cover der deutschen Übersetzung von «Das Meer der Aswang». Erschienen im Unionsverlag am 21. August 2025. Da die Philippinen Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse sind, kommt Allan N. Derain auch nach Deutschland und in die Schweiz, genauer: Er wird zusammen mit Annette Hug am 22. Oktober in Stans im Literaturhaus Zentralschweiz zu sehen sein und vom 24. bis 26. Oktober an den Zofinger Literaturtagen.Bild: unionsverlag

Zauber hat dieser Roman tatsächlich viel zu bieten. Die Frage ist bloss, wie dieser zu übersetzen ist, ohne die Geschichte dabei zu entzaubern.

Derains Text erfordert ein stetiges Abwägen: Soll eine grundsätzliche Fremdheit oder lieber eine Verwandtschaft betont werden? Was lässt sich guten Gewissens in unsere Welt, also ins Deutsche übertragen, was soll als Zeichen des Respekts vor der Andersheit als Nicht-Übersetzbares im Text verbleiben?

Die Aswang musste Aswang bleiben, diese liess sich für Hug nicht als «Hexe» oder gar als «Bruha» übersetzen, das spanische Wort, das die Missionare zu dieser Zeit für sie verwendeten. Das käme einer abermaligen kolonialen Aneignung und Überschreibung gleich.

An Aswang (or Asuwang) is a vampire-like mythical creature in Filipino folklore and is the subject of a wide variety of myths and stories. Spanish colonists noted that the Aswang was the most feared a ...
Ein Aswang, wie er von spanischen Kolonisten auf den Philippinen überliefert worden war: mit der mörderischen Saugzunge.Bild: Universal Images Group Editorial

Also behält die Hauptfigur ihre philippinische Eigenheit und genauso ihr Fragezeichen, denn «was eine Aswang wirklich ist, gehört zu den Grundfragen des Romans», sagt sie.

Für die Wandelwesen wiederum hat Hug oft beide Welten kombiniert: Die «Waldholde Bawa» ist so eine Kreation; eine Kreuzung zwischen Grimmschem Attribut und philippinischem Original. Das klingt quasi fremdvertraut, nach einem uralten, mythischen Wesen, das die Erde bevölkert hat, als sie noch eins war.

Mit diesen sprachlichen Neuschöpfungen treibt die Übersetzerin das lustvolle Spiel des philippinischen Autors weiter und bleibt dabei dem einzigen Gebot treu, das dieser Roman aufzustellen scheint: Wandelbarkeit als Überlebensstrategie in einer Welt, die von Chaos bestimmt ist.

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6 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Capsaicine
24.08.2025 20:31registriert August 2018
Danke für diese interessante Rezension eines bestimmt nicht einfach, aber sicher auch nicht langweilig zu lesenden Buches, plus die geschichtlichen Hintergrundinformationen.
Der Text macht Lust aufs Lesen und Nachforschen!
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