Im Jahr 1975 erschien im Verlag des Schweizerischen Lehrervereins das Schulwandbild Nr. 167. Es zeigt eine Luftaufnahme der Limmattal-Gemeinde Spreitenbach. Genauer: Neu-Spreitenbach mit seinem Einkaufszentrum, umgeben von einem gewaltigen, mit bunten Karossen prall gefüllten Parkplatz und dem imposanten Hochhausquartier im Hintergrund.
Alles, was dieses Schulwandbild zeigt, war das Ergebnis aus exakt 20 Jahren stürmischer Entwicklung. Shoppingcenter, Wohnblöcke, breite Strassen waren die Embleme des Fortschritts und nirgends in der Deutschschweiz wurde dieser in solchem Tempo und in solcher Konsequenz in die Landschaft eingeschrieben wie in Spreitenbach.
Dieses einstige Bauerndorf ist die städtebauliche Blaupause des Booms der Nachkriegsjahrzehnte. 1975 war dieser im Zuge der Ölpreiskrise und der darauffolgenden konjunkturellen Flaute abrupt zu Ende gegangen. Zugleich wurde öffentlichkeitswirksam das vom Europarat ausgerufene Denkmalschutzjahr begangen und mit den Ergebnissen der unkritischen Zukunftseuphorie abgerechnet. Darum wurde das Sujet als Schulwandbild ausgewählt, als Beispiel eines «falschen Fortschritts». Wie kam es dazu, dass Spreitenbach vor den Toren Zürichs das erste grosse Einkaufszentrum der Schweiz erhielt und wie steht dieses mit der städtebaulichen Entwicklung in Zusammenhang?
Doch der Reihe nach und damit in das Jahr 1955: Mitten auf der grünen Wiese, fernab des Spreitenbacher Dorfkerns begann eine Art Stafettenlauf unter ambitionierten Männern mit sehr unterschiedlichen Beweggründen. Am Start stand der Zürcher Architekt Mario Della Valle, der an der Landstrasse zwischen Zürich und Baden mit dem Bau eines Hochhauses begann. Spreitenbach hatte zu dem Zeitpunkt noch keine rechtskräftige Bauordnung, geschweige denn einen Zonenplan. Also soll Della Valle auf die Frage von verdutzten Anwohnern, wie hoch sein Gebäude denn würde, geantwortet haben: Er wisse es noch nicht, aber er plane mit 20 Geschossen. Daraufhin entbrannte ein Rechtsstreit bis vor Bundesgericht, die Aargauer Regierung nahm in corpore einen Augenschein vor Ort und der Bau des vermeintlich ersten Hochhauses im Kanton Aargau verzögerte sich um Jahre.
Gleichzeitig wurde ruchbar, dass die SBB im Limmattal einen gewaltigen Rangierbahnhof zu realisieren gedachten. Nur zwei Jahre später stand auch die Linienführung der künftigen Autobahn fest. Sie würde durch das Limmattal führen. Die Spreitenbacher Behörden erkannten nun die Zeichen der Zeit und liessen einen Richtplan für den Bau einer modernen City für 20'000 Menschen entwerfen. Dieser war das Gesellenstück des jungen Planers Klaus Scheifele. Sein 1959 vorgelegtes Richtmodell schlug hohe Wellen und wurde öffentlich ausgestellt. Nicht nur Fachleute, auch der Zürcher Stadtrat pilgerte nach Spreitenbach, um die kühne Stadt der Zukunft im Modell zu betrachten, worin sich neben Wohnhochhäusern vermutlich erstmals in der Schweiz auch ein Einkaufszentrum fand.
Spreitenbach wurde in den Folgejahren zu einem Eldorado für Investoren. Scheifeles Richtmodell versprach Planungssicherheit und hohe Renditen. Auf Della Valle folgten Männer wie der Winterthurer Baulöwe Bruno Stefanini, die aus dem Planwerk in unfassbarem Tempo gebaute Realität werden liessen. Das Bauerndorf verdreifachte seine Einwohnerzahl bis 1970. Als das Schweizer Fernsehen 1967 über den Baufortschritt berichtete, war Neu-Spreitenbach zu einem guten Teil bereits gebaut.
Denner-Boss Karl Schweri sicherte sich über seinen Immobilienfonds Interswiss das im Richtmodell für ein Einkaufszentrum reservierte Areal und suchte 1961 per Zeitungsinserat einen Architekten mit «Amerika-Erfahrung». Er fand ihn in Walter Hunziker aus Zürich, der in den USA Architektur und Stadtplanung studierte. Hunziker wusste aus seiner Wahlheimat, wie man funktionierende Einkaufszentren plante. Nach umfangreichen Analysen und Studien lagen seine Pläne 1965 vor. Zwei Jahre später wurde mit dem Bau begonnen.
1954 gilt gemeinhin als Geburtsjahr des Einkaufszentrums. Damals nahm im Speckgürtel von Detroit das Northland Center den Betrieb auf, initiiert und geplant vom Wiener Architekten Victor Gruen. Gruen hiess eigentlich Grünbaum und emigrierte als politisch engagierter Jude nach der Einverleibung Österreichs durch Nazideutschland 1938 in die USA. Dort entwickelte er noch während dem Krieg erste Konzepte für eine «Shopping Town». Damit wollte er für die Menschen in den gesichtslosen und öden Vorstädten einen Ort der Begegnung, des Einkaufens und der Kultur schaffen. Bereiche ohne Konsumzwang waren integrale Bestandteile von Gruens Konzept. So fanden sich in seinen ersten Einkaufszentren etwa Kleintierzoos, Kindergärten, Skulpturenparks oder Poststellen und Versammlungsräume.
Damit steht die Frage im Raum, was per Definition ein Einkaufszentrum eigentlich ist. Einkaufszentren vereinen eine Vielzahl verschiedener, teilweise in gegenseitiger Konkurrenz stehende Verkaufsgeschäfte, Bars und Restaurants in einer normalerweise geschlossenen und klimatisierten Halle. Diese Mall versteht sich als gedeckte Ladenstrasse, meist auf zwei oder mehr Geschossen. Ein übergeordnetes Center-Management kümmert sich um Marketing und Events. Ein Shoppingcenter sollte insgesamt mindestens 10'000 Quadratmeter Verkaufsfläche haben, um als solches zu gelten.
In Gruens Urform des Einkaufszentrums befanden sich an den beiden Stirnseiten der länglichen Mall grosse Ankermieter und dazwischen kleinere Geschäfte. Wie erhofft, flanierten nun die Konsumentinnen und Konsumenten zwischen den Ankermietern hin und her, wodurch die Kleinen von zusätzlicher Laufkundschaft profitierten: Der «Gruen-Effekt» war eingetreten und der Erfolg des Konzepts erwies sich als beispiellos.
Damit die Idee des Einkaufszentrums auf der grünen Wiese funktionieren konnte, musste zuerst die mobile, mit Freizeit ausgestattete Konsumgesellschaft entstehen. Mit der Massenmotorisierung und der Reallohnentwicklung im Verlauf der 1960er-Jahre erreichte auch die Schweiz dieses Level und ein eigentlicher Wettlauf um das erste grosse Shoppingcenter entbrannte. Nachdem 1967/68 in Oerlikon oder Luzern erste kleine, in die Stadtstrukturen integrierte Quartier-Ladenzentren entstanden, öffnete Spreitenbachs Shoppi am 12. März 1970 mit 50 Detailhandelsgeschäften, 1550 Parkplätzen und sieben gastronomischen Angeboten seine Tore.
Die Verantwortlichen besannen sich aber auch auf Victor Gruens Ruf nach konsumfreien und kulturellen Elementen. So bot das Shoppi seinen Gästen neben Kegelbahnen auch ein Hallenbad, eine Kunstgalerie und sogar einen ökumenischen Andachtsraum. Es war ein nationales Ereignis. Bis zu 70'000 Menschen strömten täglich in das Konsumparadies.
Trotz oder gerade wegen des wirtschaftlichen Erfolgs traten schnell auch Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan. Für sie war Spreitenbach kein Paradies, sondern das Tor zu einer dem Konsumwahn und der Wachstumseuphorie geopferten Zukunftshölle. Das Schulwandbild Nr. 167 stand am Anfang dieser epischen Debatte um den richtigen Fortschritt. An dieser Polarisierung hat sich bis heute nichts geändert. Spreitenbach entzückt die einen und verstört die anderen. Sicher ist nur dies: Es wächst ungebrochen weiter.