Der genaue Ursprung der Magyaren in Zentralasien ist zwar noch immer Gegenstand reger wissenschaftlicher Diskussionen, es wird jedoch angenommen, dass sie ursprünglich aus dem Uralgebirge im Nordwesten Sibiriens stammten. Im Laufe der Jahrhunderte wanderte das ugrofinnische Volk von Sibirien nach Süden in das Gebiet zwischen dem Fluss Ural und dem Aralsee aus. Später zogen die Magyaren in den nördlichen Kaukasus und wanderten dann erneut westwärts bis zum Flussbecken des Don in der heutigen Ukraine.
Infolge des Drucks und der Konkurrenz anderer Steppenvölker – der Petschenegen und Protobulgaren – gelangten die Magyaren um 896 ins Karpatenbecken. Angeführt von ihren Oberhäuptern Árpád und Kursan sicherten sie sich die Region innerhalb von nur zehn Jahren als neue Heimat.
Ausgehend von ihrer neuen Heimstätte in Europa suchten die Magyaren nach reichen Gebieten, um sie zu plündern. Zum ersten Mal fielen sie auf Einladung von Arnolf von Kärnten (Ostfrankenreich) von 898 bis 899 in Italien ein. Ihr Angriff auf Venedig wurde zwar zurückgeschlagen, jedoch plünderten und brandschatzten sie in schneller Abfolge Treviso, Vicenza, Verona, Brescia, Bergamo und Mailand.
Sie besiegten den italienischen König Berengar I. in der Schlacht von Brenta und zwangen ihn zur Zahlung eines exorbitanten Tributs zur Sicherung eines vorübergehenden Friedens. Nach dem Tod Arnulfs begannen 900 die jährlichen Einfälle in Bayern, die über 30 Jahre lang andauerten. Wie auch die Langobarden besiegten die Magyaren die Bayern Schlacht für Schlacht mit blutigen Überraschungsangriffen.
Erschüttert durch die Einfälle der Araber und Wikinger sowie den Zusammenbruch der zentralen politischen Ordnung nach dem Tod Karls des Grossen befanden sich die Königreiche Mittel- und Westeuropas in einem geschwächten und gespaltenen Zustand. Gegen die überlegenen Reiter und Bogenschützen der Magyaren kamen sie nicht an. Von ihren Steigbügeln aus konnten die magyarischen Reiter ihre mit Eisenharnischen ausgerüsteten Feinde bei hohem Tempo mit Pfeilen und Krummsäbeln niederstrecken.
Eine weitere Taktik der Magyaren war, dem Feind den vermeintlichen Sieg vorzugaukeln, indem sie sich zurückzogen. Allerdings formierten sie sich neu, kesselten den Feind mit einem Pfeilhagel ein und zermürbten und besiegten die feindlichen Streitkräfte im Nahkampf.
Die Magyaren griffen wiederholt bestimmte Orte an, nur um einen König oder einen Thronfolger dazu zu bringen, ihnen für den Rückzug ein Bestechungsgeld zu bezahlen. Von 917 bis 925 überfielen die Magyaren regelmässig das alte karolingische Kernland: das Loiretal, das Elsass, Burgund und die Lombardei. Sie drangen sogar über die Pyrenäen bis in das Gebiet um Barcelona vor und stürmten die Städte Apuliens. Nach der Plünderung von Basel 917 schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie das berühmte Kloster St. Gallen angreifen würden.
Der Überlieferung nach gründete der heilige Gallus, ein gebildeter, wahrscheinlich aus Irland stammender Mönch und treuer Gefolgsmann des heiligen Kolumban, um 610 eine Einsiedlerzelle an der Stelle des späteren Klosters St. Gallen. Ein Mönch namens Otmar errichtete später ein Benediktinerkloster für die Mönche rund um die Klause des heiligen Gallus und wurde der erste Abt des Klosters.
In der Zeit der Karolinger (750–887) florierte das Kloster St. Gallen und wurde zu einem regionalen Wissens- und Handelszentrum. Das Kloster hatte sich durch seine Klosterschule – eine der ersten auf der Alpennordseite – zu einem gewaltigen Mönchszentrum mit grossen Gästehäusern, einem Spital, Gehöften und Stallungen sowie einer berühmten Bibliothek entwickelt.
Bald zog das Kloster angelsächsische und irische Gelehrte sowie Mönche an, die Manuskripte abschrieben und illuminierten. Vermögende Adelige wiederum mehrten den Reichtum des Klosters durch ihre Förderung und die Schenkung von Land. Ende des neunten Jahrhunderts gehörte es zu den renommiertesten und reichsten Klöstern Europas.
Von einem magyarischen Angriff auf St. Gallen und Umgebung ist in verschiedenen Versionen in drei Chroniken, die zwischen 970 und 1074 geschrieben wurden, die Rede. In den Alemannischen Annalen aus dem neunten und zehnten Jahrhundert werden die Magyaren 9 Mal erwähnt, in den Annales Sangallenses aus dem zehnten Jahrhundert 15 Mal. Die interessantesten Informationen zum Überfall durch die Magyaren stammt aus der Chronik von Mönch Ekkehard IV., der mehr als ein Jahrhundert nach dem Überfall lebte.
Laut seinen Schriften leitete Abt Engilbert Schutzmassnahmen für das Überleben des Klosters ein, als die Magyaren durch Schwaben fegten und in die Umgebung des Bodensees eindrangen. Er schickte die betagten Mönche und jungen Studenten des Klosters auf die Wasserburg am Bodensee in der Nähe von Lindau, um dort die Belagerung abzuwarten. Die jüngeren und stärkeren Mönche suchten in den Wäldern und Hügeln in der Nähe des Dorfes Bernhardzell im Nordwesten St. Gallens Zuflucht. Die wertvollen Bücher und Relikte des Klosters wurden ins Kloster Reichenau gebracht.
Als Engilbert die Warnung über die sich St. Gallen nähernden Magyaren vernahm, floh er mit den übrigen Mönchen auf die Insel Reichenau. Im Jahr vor dem Überfall auf St. Gallen hatte die Benediktinerin und Mystikerin Wiborada die Verwüstung des Klosters durch die Magyaren vorausgesagt. Gemäss der von 960 bis 1072 zusammengestellten Vita Sanctae Wiboradae drängte Engilbert sie, ebenfalls zu fliehen, doch sie weigerte sich, ihre Zelle zu verlassen.
Am 1. Mai 926 stürmten die Magyaren St. Gallen. Die Angreifer stiessen bis zur Kirche St. Mangen vor und steckten sie in Brand. Sie versuchten auch, Wiboradas Inklusorium in Brand zu stecken, weil sie den Eingang nicht finden konnten. Schliesslich drangen sie über das Dach ein und fanden Wiborada betend vor einem Altar. Einer der Krieger fügte ihr mit der Axt drei tödliche Kopfwunden zu. Zur gleichen Zeit plünderten weitere Magyarenkrieger das ganze Kloster und nahmen alles an Beute mit, was sie finden konnten.
Aus den Chroniken geht hervor, dass zwei Magyaren versuchten, den Glockenturm der Kathedrale zu erklimmen, weil sie dachten, der Wetterhahn auf der Spitze sei aus Gold. Die Krieger starben bei dem Versuch. Ihre Mitstreiter verbrannten ihre Leichen aus Hygienegründen. Den Berichten zufolge verschonten die Magyaren bei ihrer Wüterei einen einfältigen Mönch namens Heribald.
Zwar beschreiben die Chroniken die Plünderungslust der Magyaren, doch sie loben auch ihre Fähigkeit zur Kampfformierung innerhalb von Sekunden, ihr ausgeklügeltes Netzwerk von Boten zur Kommunikation mit weit entfernten Truppen und ihre meisterhafte Beherrschung verschiedener Waffen. Ausserdem wurden die Magyaren als Liebhaber von Wein, Musik, Tanz und frischem Fleisch beschrieben.
Nach einigen Ruhetagen zogen die Magyaren weiter in Richtung anderer schwäbischer Städte und liessen den einfältigen Heribald zurück. Als die Mönche und Ordensbrüder nach St. Gallen zurückkehrten, um den Schaden zu begutachten, befragten sie Heribald darüber, wie es ihm ergangen war. Dem Bericht zufolge sage er: «Ei, wie zum Besten! Niemals erinnere ich mich, glaubt mir, fröhlichere Leute im Innersten unseres Klosters gesehen zu haben; denn Speise und Trank schenken sie sehr reichlich.»
Die Erinnerungen an die Ungarneinfälle von 926 und das Martyrium der Wiborada blieben im Schweizer Nationalbewusstsein stets präsent und inspirierten über ein Jahrtausend lang Schweizer Historiker, Künstler und Schriftsteller. Die Märtyrerin Wiborada wurde für ihre Frömmigkeit und ihren Heldenmut 1047 heiliggesprochen. Heute ist sie die Schutzheilige der Bibliotheken und eine Schutzheilige der Schweiz.
Die Sammlungen rund um den Überfall der Magyaren auf St. Gallen gehören auch zur nationalen Identität Ungarns. Sie sind Teil des Schulstoffes: Jedes Jahr erfahren neue Schulklassen in Ungarn von den Taten ihrer magyarischen Vorfahren in der weit entfernten Schweiz. Obwohl die Grausamkeit der Magyaren in die Annalen der europäischen Geschichte einging, konvertierten sie schliesslich zum Christentum und herrschten über eines der wohlhabendsten, mächtigsten und dynamischsten Königreiche des mittelalterlichen Europas. Die ungarische Árpád-Dynastie hat der katholischen Kirche sogar mehr Heilige beschert als jede andere Familie.
Der Kreis der Geschichte schloss sich, als die Ungarn selbst den Übergriffen anderer Völker ausgesetzt waren: seitens der Mongolen in den 1240er-Jahren und der Türken im 16. und 17. Jahrhundert, die ihren Ursprung ebenfalls in den windgepeitschten Steppen Zentralasiens hatten.
Jene galten ebenfalls als ein wehrhaftes Volk. In einer Kapelle im Vorarlberg steht seit 600 Jahren geschrieben: «Gott behüte uns vor der Pest und vor den Appenzellern.»