Wenn man an «Ferien» denkt, denkt man natürlich auch ans Verreisen. Man will das Bekannte hinter sich lassen und neue Orte kennenlernen. Im Europa des 19. Jahrhunderts – als man noch nicht mit dem Flugzeug für ein paar Wochen nach Bali oder in die Karibik fliegen konnte – waren die Schweizer Alpen das exotische Reiseziel par excellence. Jahrhundertelang als unheimlich empfunden und weitgehend gemieden, erweckten die Berge im 18. Jahrhundert die Neugier der Naturforscher.
Auf Letztere folgten zuerst einzelne abenteuerlustige Reisende und schliesslich im Laufe des 19. Jahrhunderts – als neue Verkehrsrouten und Transportmittel das Reisen erleichterten und den Vorstoss ins Hochgebirge ermöglichten – eine immer breiter werdende Schar an Tourist:innen aus ganz Europa. Die Schweiz wurde zum beliebten Reiseziel und die Alpenwelt öffnete sich dank der rasanten Entwicklung und Verbreitung der Bergbahnen zunehmend der breiten Masse.
Zusammen mit dem Massentourismus kam ein Gebäudetyp auf, den es zuvor in dieser Form praktisch nicht gab: das Hotel. Bis dahin übernachteten Reisende hauptsächlich in Gasthäusern und waren abseits der Städte oder der Hauptverkehrsachsen auf die Gastfreundschaft der Ortsansässigen angewiesen, die oft nur bescheidene Unterkünfte anbieten konnten. Eine Reise in die Berge war somit mit viel Mühsal verbunden und verlangte von Reisenden aus höheren sozialen Schichten einiges an Verzicht.
Die ersten Hotels wurden in der Schweiz in den 1830er Jahren erbaut. Sie unterschieden sich architektonisch stark von den umliegenden traditionellen Holzbauten. Ihr klassizistischer Baustil appellierte an das Klassenbewusstsein der ausländischen Tourist:innen, die in der Regel der Oberschicht angehörten. Vor allem Orte an Seeufern oder mit Aussichtslage erfreuten sich grosser Beliebtheit und erlebten in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit.
Ortschaften wie Montreux, Luzern, Interlaken oder Locarno entwickelten sich zu Touristenhubs, deren Ortsbild durch die massiven Hotelbauten nachhaltig geprägt wurde. Nach dem durch den Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) verursachten wirtschaftlichen Einbruch nahm der Hotelbau in den 1880ern wieder Schwung auf. Es folgte ein nie zuvor gesehener Hotel- und Tourismusboom, der erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein Ende fand.
In diesem allgemein als «Belle Époque» bekannten Zeitraum etablierte sich das sogenannte «Grandhotel» als besonderer Hoteltyp. Nach dem Vorbild von Palastgebäuden wie dem Schloss Belvedere in Wien oder dem Trocadéro in Paris gebaut, hoben sich die Grandhotels durch ihre Grösse und ihre Opulenz von herkömmlichen Hotels ab und erinnerten an die Wohnstätten der Aristokratie.
Zu ihren architektonischen Merkmalen gehörten Fassaden mit üppigen Verzierungen, hohen Fensteröffnungen und breiten Balkons, aufwendig gestaltete Dächer im Gotik- oder Barockstil und monumentale Treppenanlagen, welche oft den Mittelpunkt des Baus ausmachten. Oft war der Grundriss angewinkelt, um die Aussichtsseite aufs bestmögliche auszunutzen. Moderne Personenaufzüge erlaubten ein höheres Bauen (fünf Etagen oder höher).
Nicht nur architektonisch glichen diese Luxushotels den alten Schlössern und Palästen der Aristokratie, sondern auch in ihrer sozialen Funktion. Sie waren der Treffpunkt der gesellschaftlichen Elite, wo sich das nun politisch und wirtschaftlich dominierende Bürgertum mit dem alten europäischen Adel vermischte. Die Grandhotels verkörperten auch den Versuch des Ersteren, den Letzteren in seiner Ästhetik und Lebensweise zu imitieren.
Sie waren, sozusagen, die «Schlösser des Grossbürgertums» und ihre Gäste waren «Könige auf Zeit». Nicht selten mit Attributen wie «Royal», «Majestic» oder «Palace» versehen, verriet allein schon der Hotelname diesen hohen Prestigeanspruch. Auch die strikte Trennung zwischen den Gästen und dem Personal, das in der Regel in einem Anbau neben dem Hotel wohnte, erfolgte nach höfischem Vorbild.
Dementsprechend waren die Grandhotels ihrer sozialen Mission nach so ausgelegt, dass sich genügend Gelegenheiten für das Zusammenkommen der Gäste ergaben. Zu den typischen Gesellschaftsräumen gehörten der Speisesaal, der Festsaal (Ball Room), verschiedene Salons und Fumoirs sowie der Bridge- oder Billardraum. Auch solitäre Aktivitäten wie das Briefeschreiben oder die Lektüre wurden gemeinsam in speziell dafür eingerichteten Räumen verübt.
Die wohlhabenden Tourist:innen bezogen in der Regel für mehrere Wochen im Hotel ihr Quartier und verbrachten dort den wesentlichen Teil ihrer Zeit. Das Hotel bot ihnen alle nur erdenklichen Dienstleistungen an, von Essen bis Körperpflege, über musikalische Unterhaltung, sportliche Aktivitäten und organisierte Ausflüge.
Da die exklusiven Luxushotels für die Oberschicht auch ein Mittel waren, sich von den übrigen Tourist:innen zu differenzieren und den Kontakt mit der oft in prekären Verhältnissen lebenden Lokalbevölkerung zu meiden, wurden sie gerne an abgelegenen Orten gebaut. Dies war nicht zuletzt auch durch die rapide Entwicklung von Standseil- und Zahnradbahnen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts möglich.
Die Giessbachbahn, eine der ersten Standseilbahnen der Schweiz, wurde 1879 exklusiv zur Erschliessung des Grandhotels Giessbach gebaut. Von den 60 Seilbahnen, die die Schweiz 1914 zählte, funktionierten ein gutes Dutzend als reine Hotelbahnen, deren einzige Aufgabe es war, Gäste und Gepäck zum abgelegenen Hotel zu befördern.
In der Belle Époque war die Hotelarchitektur geprägt von einer Vielfalt an historisierenden Stilen, von Neobarock und Neugotik bis hin zum von den traditionellen ländlichen Holzbauten inspirierten «Heimatstil». Für die Gestaltung von Fassaden und Dächern griffen die Architekten auf ein breites Repertoire verschiedener Stilelemente der Architekturgeschichte zu und kombinierten diese oft frei.
Zu den bekanntesten Vertretern des Historismus im Schweizer Hotelbau gehörte der französisch-schweizerische Architekt Horace Édouard Davinet, der unter anderem mit dem Hotel Schreiber auf der Rigi Kulm (1874-1875) und dem Grand Hotel Giessbach im Berner Oberland (1874) Pionierarbeit in Sachen Grandhotels leistete. Später profilierte sich der Schweizer Architekt Eugène Jost mit Bauten wie dem Caux Palace Hotel (1902), dem Montreux Palace (1906) und dem Hôtel Beau-Rivage Palace in Lausanne (1908).
Während der Belle Époque standen die Grandhotels an vielen Orten als Symbol für Urbanisierung, wirtschaftlichen Aufschwung und technologische wie architektonische Glanzleistungen. Schon damals aber war die Tourismusbranche wegen der Verbauung der Landschaft scharfer Kritik ausgesetzt. Der französische Schriftsteller Alphonse Daudet mokierte sich über das «Kasino mit Panorama» zu dem die Schweiz in seinen Augen verkommen war. Der Schweizer Heimatschutz wurde 1905 unter anderem aus Protest gegen die wilde «Verbahnisierung» der Berge gegründet.
Die durch den Ersten Weltkrieg verursachte Implosion der Tourismusbranche läutete das abrupte Ende der Grandhotel-Ära ein. In den 1920ern löste das minimalistische, der Wirtschaftlichkeit unterworfene «Neue Bauen» den extravaganten Baustil der Belle Époque ab. Der Historismus hatte ausgedient und seine prominentesten Vertreter wie Davinet und Jost gerieten in Vergessenheit.
In den folgenden Jahrzehnten wurden viele Grandhotels abgerissen oder fielen Bränden zum Opfer. Einigen, wie dem Grandhotel Giessbach oder dem Caux Palace Hotel, blieb nur dank grossen Bemühungen von engagierten Privatpersonen dieses Schicksal erspart.