Sag das doch deinen Freunden!
Wie geht es dem Schweizerdeutsch?
Markus Gasser: Also wenn man uns Zweien so zuhört, geht es dem Schweizerdeutsch gut, oder? Wir sprechen Mundart miteinander, das ist schon mal ein wichtiger Punkt. In der Deutschschweiz reden alle Menschen, in jeder Situation – so formell sie auch sein mag – Mundart miteinander. Das ist der Grund, weshalb Mundart in der Schweiz selbstverständlich ist. Sie ist nicht gefährdet im Sinne, dass wir sie nicht mehr brauchen. Die Mundart wird nicht in Frage gestellt.
Kann man sagen, Mundart boomt?
Ja, in den letzten Jahrzehnten hat sich die Mundart tatsächlich zu einer Art Boom entwickelt. Dies auch, weil sie in neue Domänen aufgenommen worden ist. Während unsere Grosseltern im Radio und im Fernsehen noch kaum Mundart gehört hatten, hat sich dies heute ins Gegenteil gewandelt. Die Medien sind sehr geprägt von der Mundart. Bei uns, beim SRF1, werden ausser den Nachrichten alle Sendungen in Mundart moderiert. Bei SRF3 ebenfalls. Auch die regionalen Radio- und TV-Sender sind wichtig für die Vermittlung der Mundart, die machen alles auf Schweizerdeutsch.
Alleine an den Medien liegt der Boom ja aber wohl nicht.
Nein. Die Mundart hat sich im Gegensatz zu früher immer mehr in die Schriftlichkeit verlagert. Während sich unsere Eltern höchstens Liebesbriefe oder Ferienkarten auf Mundart schrieben, findet heute bei den Jüngeren praktisch die ganze private Schriftlichkeit über die elektronischen Medien auf Mundart statt. Der Mundart geht es gut. Sie ist, wirtschaftlich ausgedrückt, ein Wachstums- und kein Schrumpfmarkt.
Wann genau hat denn der Boom begonnen?
Ich würde jetzt mal sagen: im Jahr 1968. Damals gab es einen gesellschaftlichen Umbruch: weg von Normen, hin zum Individuellen. Die engen, sozialen Verpflichtungen, Grenzen und Normen wurden aufgebrochen. Rückblickend kann man sagen, damals fand eine Befreiung aus den Fesseln der alten, gesellschaftlichen Zwänge statt. Dadurch wurde auch die Sprachfreiheit grösser. Natürlich schauen die Lehrer heute immer noch auf die Rechtschreibung. Dass ein Kind richtig schreibt, ist jedoch nicht mehr das höchste aller Gefühle. Orthografisch sind sie deshalb vielleicht nicht mehr so gut wie früher, dafür sind sie sprachlich viel freier.
Aber in der Schule lernen die Schüler immer noch Hochdeutsch schreiben. Auch wenn auf die Orthografie heute weniger Gewicht gelegt wird, was hat das mit dem Vormarsch der Mundart zu tun?
Es gibt den linguistischen Fachbegriff «Diglossie». Vereinfacht gesagt heisst das, dass zwei eng verwandte Sprachvarietäten – meist Standardsprache und Dialekt – nebeneinander existieren, aber unterschiedliche Funktionen erfüllen. Bis in die Nachkriegszeit ging das: Hochdeutsch zum Schreiben, Mundart zum Reden; die Grenzen dieser Funktion wurden selten überschritten. Heute ist das überhaupt nicht mehr so. Zum einen kam die Mundart ganz stark in die Schriftlichkeit und in formalere, formellere Situationen. Und zum anderen ist das Hochdeutsche viel stärker in die Mündlichkeit gekommen. Dies geschah durch die Vermischung der Bevölkerung, durch die Globalisierung, durch die vielen Deutschen, die heute bei uns leben und all die Fremdsprachigen, die kein Schweizerdeutsch sprechen. Diese doppelte Bewegung führt zu einer stärkeren Vermischung der beiden Ebenen. Die Schwelle für die gegenseitige Durchdringung ist heute viel niedriger.
Finden Sie diese Entwicklung gut?
Ich möchte mich jetzt hier nicht als Hüter der Mundart aufspielen. Aber die Mundart ist mein Projekt, das ich beobachte. Ich würde leiden, wenn ich die Entwicklung in der Mundart als negativ betrachten würde. Die Entwicklung unserer Sprache ist schlicht nicht aufzuhalten. Allerdings ist es schon so, dass ich zum Beispiel, wenn meine Kinder nach Butter fragen, antworte: Nein, Butter hatte es keine mehr, Anken hingegen schon.
Gibt es Wörter, denen Sie nachtrauern?
Ich komme aus Nunningen im Kanton Solothurn. In dieser Region sagte man früher zum Beispiel Tomarte. Noch meine Grosseltern sprachen Tomate mit einem R, mit einem sogenannten Spross-Konsonanten aus. Oder sie sagten Solz, statt Salz. An solchen Wörtern habe ich Freude. Dass sie verschwinden, finde ich schon schade. Aber die Sprache ist nicht da, um sich um Schönes und Altes zu kümmern. Die Sprache ist da als Kommunikationsmittel, das funktionieren muss. Als Kommunikationsmittel, mit welchem man in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Informationen transportieren kann.
Wie verändert sich die Mundart in den verschiedenen Regionen?
In urbanen Gebieten, in Agglomerationen ist der Wandel der Mundart dynamischer. Hier ist die Vermischung der Bevölkerung viel grösser, weil es mehr Zuwanderer hat als auf dem Land. Und dann gibt es noch den Spezialfall Bern.
Inwiefern ist Bern speziell?
Obwohl Bern eine grössere Stadt ist, spielen hier Kräfte wie in ländlichen Regionen, wo man sich gegen Fremdes stärker wehrt und sich deshalb die Sprache, wie gesagt, weniger vermischt. Bern ist resistenter, weil es sich als sprachliche Gemeinschaft fühlt. Dies ganz im Gegensatz zu Zürich. In Zürich ist die Sprache kaum Thema, in Bern hingegen ist sie ein grosses. Die Berner Mundartkultur ist riesig, es ist die älteste und grösste der Schweiz. Sei das nun in der Musik oder in der Literatur. Viele Mundart-Strömungen kamen und kommen aus Bern.
Sie sagten, die Mundart vermische sich mehr und mehr. Gleichzeitig sprechen Sie von einer Berner und einer Zürcher Szene. Stimmt es, dass unsere Mundart auf eine Art duale Sprache hinsteuert? Dass es in Zukunft nur noch die Berner und die Zürcher Mundart gibt?
Nein. Der Trend geht aber Richtung Regiolekt. Also zur Mundart einer grösseren Region wie Bern, Basel, Zürich, Luzern oder St.Gallen.
Weshalb?
Es gab eine Zeit, da zogen die Städter aufs Land. Umgekehrt arbeiten die vom Land in der Stadt. Dadurch haben sich die Dialekte vermischt. Dazu kommen die Zuwanderer. Mit der Durchmischung der Bevölkerung gibt es auch eine Durchmischung der Mundart.
Was sagen Sie zur angeblichen Verbalkanisierung der Mundart?
Es heisst, die Jugendlichen können unsere Sprache nicht mehr, der sogenannte Balkan-Talk mache sie kaputt. Das ist garantiert nicht so. Dieser Balkan-Talk ist schon jetzt beinahe kein Thema mehr, er war es in den 90er- und 00er-Jahren. Das war ein Jugendsprach-Phänomen. Aber die meisten Jugendlichen legen das ab, wenn sie ins Berufsleben einsteigen. Es ist ein Phänomen, dass in der Jugendsprache ganz einfach viel experimentiert und abgegrenzt wird. Ein Teil davon bleibt in der Sprache, ein Teil fällt wieder weg. Das ist ein normaler Prozess.
Wer unsere Sprache auch beeinflusst, sind die neuen technischen Möglichkeiten und die sozialen Medien. Wie?
Sie führen dazu, dass wir vieles abkürzen. «LG» an Stelle von «Liebe Grüsse» etwa. Daran schuld ist das Arbeitstempo, alles muss möglichst «Real Time» sein und durch die neuen Medien und die Begrenztheit der Zeichenzahl auch möglichst kurz und knapp. Übrigens finde ich das eine Qualität – heute sprechen wir weniger kompliziert, verstehen uns mit kürzeren Sätzen. Bänz Friedli zeigt es in seinem Kabarett-Programm über Jugendsprache anhand des folgenden Dialogs schön auf: «Gömmer Starbucks?» – «Hani zviel Geld?». Mit diesen zwei kurzen Sätzen ist alles gesagt, das reicht. Um denselben Inhalt zu vermitteln, brauchten wir früher viel längere Sätze und viel mehr Zeit.
Haben die neuen Medien noch zu etwas anderem als Verkürzung geführt?
Ja. Wie ich anfangs in einem anderen Kontext erwähnt habe, führten auch die sozialen Medien zu einer Durchmischung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Durch die neuen Medien muss man sich an keine Regeln halten. Man muss sich nur verstehen. Und hier glaube ich tatsächlich, dass das dazu führt, dass heute fehlerhafter geschrieben wird. Die Frage ist einfach: Ist das schlimm? Grundsätzlich finde ich: nicht. Kann jemand dann aber keine fehlerfreie Bewerbung mehr schreiben, dann ist das sicher nicht erfreulich.
Aber ist es denn nicht so ...
Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe noch etwas vergessen: Dank den neuen Medien schreiben wir heute viel, viel mehr, als es noch unsere Eltern und Grosseltern taten. Es läuft viel mehr schriftlich ab. Wir kommunizieren unendlich viel mehr. Die Gesamtsumme an Austausch zwischen Menschen ist viel grösser heute. Das liegt auch an den Berufen. Die meisten Dienstleistungsjobs sind Kommunikationsjobs. Der Bauer, der Fabrikarbeiter, der Handwerker, der still vor sich hinarbeitet, den gibt es schlicht und einfach immer weniger.
Die Mundart ist also ein Erfolgsmodell. Dennoch: Gibt es Dialekte, die sterben?
Im 19. Jahrhundert war man überzeugt, dass die Mundart bald sterben werde. Es ist nicht eingetroffen. Jetzt sagt die UNESCO, in 200 Jahren gebe es noch fünf oder zehn Sprachen. Ist das so, dann gibt es auch Mundart nicht mehr. So renitent sind wir nicht, auch nicht mit Hilfe der stursten Traditionalisten im Appenzellerland oder im Muotathal. Wer weiss schon, ob die Voraussage der UNESCO-Studie tatsächlich eintrifft? Allerdings gibt es tatsächlich Dialekte, die wohl in absehbarer Zeit verschwinden werden: Im Tessiner Dorf Bosco Gurin lebt heute noch eine kleine Gruppe von 35 Einwohnern, die durch jahrhundertelange Isolation und eigene Art des Lebens ein traditionelles Walserdeutsch bewahren konnten. Dieses klingt wie Althochdeutsch. Reden die, hört man das Mittelalter. Ihr Nachwuchs redet nicht so. Sterben diese 35, wird ihre Sprache mitsterben.
Damit wäre alles gesagt.
Die Oberwalliser eher nicht ; )