Bomben auf Schweizer Bauernhäuser – das war der Grund
Mit rund elf Quadratkilometern ist der Sihlsee bei Einsiedeln der flächenmässig grösste Stausee der Schweiz. Entsprechend viel Land wurde bei der Stauung 1937 überflutet: 45 Prozent des Bodens dienten zwar lediglich als Torf- und Streueland, immerhin 41 Prozent aber waren Wies- und Weideland. Dem See mussten zahlreiche Gebäude weichen: 93 Wohnhäuser, 124 Scheunen mit Stallungen, 13 Feldscheunen, 179 Torfhütten und 14 weitere Gebäude wie Sägereien, Kapellen oder gedeckte Brücken. Nur für rund einen Drittel der betroffenen Familien konnte am Rand des Sees mit neuen Siedlungen Ersatz geschaffen werden.
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Ein früheres Stauseeprojekt der Maschinenfabrik Oerlikon war versandet, 1909 stiegen die Schweizerischen Bundesbahnen ein und gründeten zusammen mit der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) die Etzelwerk AG für Bau und Betrieb des künftigen Kraftwerks. Drei Kantone und zwei Bezirke erteilten die entsprechende Konzession. Im Bezirk Einsiedeln stimmten am 28. November 1926 rund 80 Prozent der Stimmberechtigten mit einer Zweidrittelsmehrheit zu.
Extrafahrten zur Stauung
Ende April 1937 sollte die Stauung beginnen, zuvor aber mussten alle Gebäude geräumt und abgebrochen werden. Der Einsiedler Anzeiger schrieb am 19. März 1937: «Ein Sterben ist gegenwärtig in unserem Sihlseegebiet. Eine Wohnstätte um die andere verschwindet. Wehmutsvoll betrachtet man deren Niederreissen.» Das Interesse am neuen Stausee war riesig, das neugierige Publikum kam in Scharen, die Zeitungen in der ganzen Schweiz berichteten regelmässig. Die Zürichsee-Schifffahrt bot zusammen mit der Südostbahn Extrafahrten an: «Prächtige Gelegenheit zum Besuch von Etzel und Sihlsee», hiess es im Sommer 1937 in einem Inserat, das in mehreren Zürcher Zeitungen geschaltet wurde. Der See erreichte am 13. September erstmals die maximale Stauhöhe.
Bereits am 12. Mai hatte der Abt von Einsiedeln den See, das Werk und die beiden neuen Viadukte eingesegnet. Der Schwyzer Landamman August Bettschart erinnerte damals in seiner Rede noch einmal daran, dass man bei aller Freude über das gelungene Werk den Schmerz nicht vergessen dürfe, den viele Mitbürgerinnen und Mitbürger beim Anblick des sich in uraltem Kulturland bildenden Sees empfänden: «An den Hängen rings um das Staugebiet stehen unsere Männer und Frauen, schweigend und aufs tiefste bewegt im Anblick der werdenden Seefläche.» Bettschart erwähnte auch, dass sich noch etwa 50 vertriebene Familien in Einsiedeln aufhielten und nicht wüssten, wohin sie gehen sollten.
Dies alles hielt aber das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) nicht von einem «interessanten Zerstörungsexperiment» ab, wie es in einem Artikel des Bunds hiess. Man hatte zwei der dem Abbruch geweihten Bauernhäuser gekauft, um an ihnen neue Flugzeuge und Fliegerbomben zu testen. Gezielt wurde auf denkbar einfache Art: An der Aussenseite des Fliegers waren Linien aufgemalt, die für das Zielen mit den 50 Kilogramm schweren Sprengbomben und den 1,5 Kilogramm schweren Brandbomben gedacht waren. Der Beobachter visierte mit diesen Linien das Bodenziel an und gab dem Piloten den Befehl fürs Auslösen der Bomben.
Das Warten auf die Bombardierung
Schon Wochen vor der Übung inspizierten Offiziere der Fliegertruppen die beiden Bauernhäuser. Weil man nicht allzu viel Neugierige anlocken wollte, gab man den Termin für die Bombardierung nur ungefähr an; sie sollte in der Zeit zwischen dem 3. und 8. Mai 1937 stattfinden. Die Einwohner von Einsiedeln und Umgebung beobachteten nun alle einfahrenden Fahrzeuge, um den Moment nicht zu verpassen.
Am 4. Mai war es dann so weit: Vier schwarze Wagen mit Militärnummern fuhren durch Einsiedeln, im vordersten erkannte man den Vorsteher des Militärdepartements, Bundesrat Rudolf Minger. Die hinteren waren alle mit hochrangigen Militärvertretern besetzt. Zuletzt folgte ein grosser Reisecar, in dem rund 30 Rekruten der Fliegerschule Dübendorf sassen. Die Fahrzeuge überquerten den eben erst eröffneten Viadukt nach Willerzell und fuhren Richtung «Bruderhöfle», dem ersten Heimwesen, das als Ziel für die Flieger dienen sollte. Die Rekruten riegelten das Gebiet um den Hof sofort weiträumig ab.
Nun wurden zuerst Versuche mit eingegrabenen Bomben gemacht, bevor die Abwürfe von Spreng- und schliesslich Brandbomben folgten. Eine Bildreportage in der Zürcher Illustrierten zeigt in mehreren Fotografien eindrücklich die Wirkung einer Sprengbombe, die etwa einen Meter neben dem Haus einschlug. Dazu heisst es: «Die Detonation war auf über 10 km hörbar. Ein Trichter von 8 m Durchmesser und 2,5 m Tiefe wurde ausgehoben. Steine, Erdklumpen, Dachziegel, Bretter und andere Bestandteile des Hauses wurden bis 80 m in die Luft gewirbelt, das Gebäude stürzte zum Teil ein, legte sich auf eine Seite und verschwand zum grössten Teil im entstandenen Trichter.»
Eines der Bilder ist völlig unscharf. Das sei der Erschütterung des Bodens durch die Bomben geschuldet, heisst es entschuldigend im Text. Dabei stand der Fotograf 500 Meter vom Haus entfernt. So weit flogen auch Bombensplitter. Einer von ihnen, etwa acht Zentimeter lang, ist im Bericht abgebildet.
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Danach war das zweite Haus in Richtung «Birchli» an der Reihe. Die Abhänge waren nun «dicht mit Zuschauern bevölkert», wie es in einem Bericht der Neuen Zürcher Nachrichten (NZN) heisst. «Mit atemloser Spannung» hätten die Leute den Sturzflug und den Abwurf der Bomben verfolgt. «Luftkrieg im Sihlseebecken» titelte später die Zeitschrift Der Sonntag. In der NZN las man abschliessend: «Die Bevölkerung hat ihre Sensation erlebt und ein seltenes, in seiner Wirkung rücksichtslos zerstörendes Schauspiel gesehen, das hoffentlich bei uns nie Wirklichkeit wird.»
Eine vertriebene Familie
Im Bericht der Zürcher Illustrierten ist auch ein Bild zu sehen, das die Familie Grätzer beim Auszug aus dem «Bruderhöfle» zwei Tage vor der Bombardierung zeigt. Die Familie, die drei Kinder hatte, war erst 1930 ins 1874 erbaute Haus gezogen. Der Vater war als Waldarbeiter bei der Genossame Dorf Binzen beschäftigt und betrieb daneben ein «Velobutigli», eine Fahrradwerkstätte. Marlis Schuler-Kälin hat die Geschichte der betroffenen Häuser und Familien in einem vierbändigen Werk sehr detailliert beschrieben.
Darin ist auch ein Bericht des Sohnes über den Abschied vom «Bruderhöfle» zu lesen: «Im April 1937 nahmen wir mit grossen Tränen in den Augen Abschied vom alten Ghütt», heisst es darin etwa. Die Familie zog danach mehrmals um und landete schliesslich auf dem Horgenberg, wo der Vater als Nachtwächter für Geschäftshäuser und Hotels tätig war. Die Mutter starb 1969, der Vater sieben Jahre später.
Knapp sieben Jahre nach der Bombardierung der Bauernhäuser zeigte sich dann ein Bote des richtigen Kriegs in Einsiedeln: Ein englischer Bomber, der an der verheerenden Bombennacht von Augsburg beteiligt war, wurde von der deutschen Flugabwehr so schwer getroffen, dass er nach dem Ausweichen in die Schweiz direkt über dem Sihlsee in einem gewaltigen Feuerball explodierte.
Der Einsiedler Anzeiger berichtete, dass die Explosion so heftig gewesen sei, dass «die Leute im Bett unsanft hin- und hergeworfen wurden, dass Möbel förmlich schwankten und ganze Häuser vibrierten.» Die Mannschaft hatte das Flugzeug kurz vorher verlassen können, nur ein bereits verletztes Mitglied der Besatzung starb nach dem Absprung mit dem Fallschirm. Der gefrorene Sihlsee aber sah aus wie ein riesiges Trümmerfeld; nur die ganz schweren Teile hatten die Eisschicht durchschlagen.
Betrachtet man heute den Sihlsee, scheint er schon immer da gewesen zu sein. Nichts erinnert mehr an die Natur- und Kulturlandschaft der 1930er-Jahre. Sie ist knapp 20 Meter unter der Seeoberfläche begraben.
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