Der 4. Mai 1994 war ein regnerischer und grauer Frühlingstag. Die Gäste, die zur Kaserne eilten, kümmerte dies wenig. Nur gerade drei Wochen zuvor hatte das damalige Militärdepartement in einer kurzen Mitteilung zu einer Verkaufsaktion für Übermittlungsmaterial geladen. Auch Enigma-Maschinen würden liquidiert, hiess es da. Das war eine Sensation – denn diese Geräte waren schon damals weit über den engeren Sammlerkreis begehrt und wurden teuer gehandelt.
Die Maschinen stammten aus Weltkriegs-Beständen der Schweizer Armee. Der mittlerweile verstorbene Militärhistoriker Rudolf J. Ritter beschreibt in einem Aufsatz, wie die Schweiz zu diesen Maschinen kam: «Die ersten Maschinen kamen 1938 als Beigabe mit 14 schweren Funkstationen, welche die Schweiz 1937 in Deutschland bestellt hatte.» Man war begeistert und bestellte sofort weitere Maschinen. Im Juli 1942 waren 265 Enigma-K-Maschinen vorhanden. Die Kriegsmaterialverwaltung modifizierte die Geräte und änderte unter anderem die Verdrahtung der Walzen sowie den Fortschaltmechanismus.
Es erstaunt, dass man derart heikle Geräte ausgerechnet im Nachbarland beschaffte. Aber: Die Zeit drängte und allzu viele Optionen gab es nicht. Auf die letzte Serie von 180 Enigma musste die Schweizer Armee nicht weniger als zwei Jahre warten. Das war entschieden zu viel – die Schweiz musste sich nach einem neuen Lieferanten umsehen. Nach all den Jahren im Umgang mit der Enigma-Chiffriermaschine hatte man in der Kryptografie einige Fortschritte gemacht und beschloss darum, eine eigene Maschine zu bauen. Der Auftrag ging an die Firma Zellweger in Uster, die gleiche Firma produzierte auch das erste in der Schweiz entwickelte Funkgerät.
Die neue Chiffriermaschine erhielt den Namen «Nema» – für «neue Maschine» und diese Nema war nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Enigma: Sie verfügte über mehr Walzen als ihr Vorbild, zudem war der Walzenvortrieb unregelmässiger und damit schwerer zu rekonstruieren. Eine direkte Auswirkung davon war, dass es erheblich mehr Druck brauchte, die Chiffriermaschine zu bedienen. Wohl deshalb erhielt sie auch den Namen «Fingerbrecher».
Die Nema wurde erst nach dem Krieg ausgeliefert und im Frühjahr 1947 in Betrieb genommen. 540 solche Chiffriermaschinen gingen ans Heer, 100 erhielt das damalige Politische Departement, das heutige EDA. Diese Maschinen waren bis in die 70er-Jahre in Betrieb.
Die Enigma hat es im Lauf der Geschichte zu einigem Ruhm gebracht: Sie entsprach dem damaligen Stand der Technik und galt als sehr sicher. Sie wurde in verschiedenen Versionen hergestellt. Der Schweiz wurde ein spezielles, schwächeres Modell verkauft – die Enigma K. Der Buchstabe K deutet darauf hin, dass es sich um eine kommerzielle Serie handelte. Die Nazis vertrauten ihrer Chiffriermaschine und verschlüsselten einen grossen Teil ihrer Daten mit einer raffinierteren Version dieser Maschine.
Was man in Deutschland nicht wusste: In England arbeitete nach Kriegsausbruch ein ganzes Heer von über 10’000 Spezialistinnen und Spezialisten – viele davon übrigens Frauen – an der Entschlüsselung: Sie sassen in einem Landgut rund um Bletchley Park zwischen Oxford und Cambridge. Unter ihnen der geniale Mathematiker Alan Turing, dem die Entschlüsselung der schwierigsten aller Enigma-Maschinen gelang, der sogenannten Marine-Enigma. Sie besass statt drei vier Rotoren und war auch für die Spezialisten in Bletchley Park eine harte Nuss.
Die Informationen aus Bletchley Park wurden unter dem Artvermerk «Ultra» abgelegt und weiter verteilt, eine Massnahme, um die Herkunft der Informationen zu verschleiern. Auch die Spezialisten des US-Nachrichtendienstes waren eingeweiht. Die Operationen von Bletchley Park gehörten zu den am besten beschützten britischen Aktionen des Zweiten Weltkriegs und blieben bis lange nach dem Krieg ein Geheimnis. Als Captain Frederick W. Winterbotham 1974 sein Buch «The Ultra Secret» über diese Operation publizierte, galt dies als Sensation. So lange konnte das Geheimnis gewahrt bleiben.
Der Code der Schweizer Enigma gehörte übrigens zu jenen, die am schnellsten geknackt wurden: In einem Papier der polnischen Funkbeobachter, die bei Kriegsausbruch nach Frankreich geflüchtet waren, findet sich bereits im November 1940 ein ausführlicher Bericht über die Decodierung der Schweizer Funksprüche. Die polnischen Abhörer dürften ihre Erkenntnisse an die britischen Spezialisten in Bletchley Park weitergegeben haben. Und auch die deutschen Spezialisten konnten den Schweizer Code mühelos knacken. Dies beweisen Dokumente, die nach dem Krieg in die Schweiz kamen. Und selbstverständlich konnten auch die Amerikaner die Schweizer Enigma knacken. Sie stellten allerdings ihre Arbeit bald ein, weil sie keine relevanten Botschaften fanden.
Ein maschinengeschriebenes, undatiertes Dokument mit dem Titel «Swiss Random Letter Traffic» in den National Archives der USA in Washington beschreibt die Enigma-Einstellungen, welche die Schweizer benutzten. Kostprobe: «Die Schweizer besitzen keine zusätzlichen Rotoren, infolgedessen gibt es nur sechs mögliche Stellungen».
Die Schweizer Enigma-Maschinen kamen nach dem Zweiten Weltkrieg ein zweites Mal zum Einsatz, und zwar im Kontext der Korea-Mission der Schweiz. Sie überwachte im Auftrag der Uno seit 1953 die Waffenstillstandslinie zwischen Nord- und Südkorea. Schweizer Übermittler berichten, dass in den Anfangsjahren modifizierte Schweizer Enigmas eingesetzt wurden.
Warum benutzte die Schweiz damals die nachweislich unsichere Maschine und nicht die selber entwickelte, weitaus bessere Nema? Zwei Erklärungen drängen sich auf: Erstens waren die zu übermittelnden Botschaften in der Regel banal und von keinem grossen militärischen Wert und zweitens wollte man die selber entwickelte moderne Chiffriermaschine Nema schützen und nicht exponieren.
Die Enigma und ihre Geschichte fasziniert auch heute noch. Eine Reihe von Filmen haben sich dem Thema gewidmet, der Thriller-Autor Robert Harris hat bereits 1995 einen spannenden Roman zu diesem Thema geschrieben.