Wer weiss noch, wo und wann er zum ersten mal dieses Plakat sah?
Ich kann mich noch ganz genau erinnern. Es war im Februar 2009 im Schaufenster eines Büchergeschäfts in Fulham in West London. Wenige Wochen zuvor hatten meine Familie und ich überlegt, in die Berge zu fahren; doch dann sah ich zufällig den Pfund-Wechselkurs und meinte, hey, statt sich der Geldvernichtungsmaschinerie von Schweizer Skiferien zu unterwerfen, gönnen wir uns doch wieder mal einen Besuch in London. Den Bruder und Family besuchen. Museen, Lädele und so. Immer schön.
Grossbritannien war damals arg gestrauchelt von der Wirtschaftskrise, die 2008 zugeschlagen hatte. Und nach gefühlten Jahrzehnten, in denen das Britische Pfund immer um die 2 Franken 50 wert gewesen war, war er anfangs 2009 auf 1 Franken 60 gesunken. Dass es heute, nach mehr als einem Jahrzehnt Tory-Politik, auf aktuell knapp über einem Franken stehen würde, war 2009 kaum vorstellbar. Der damalige Wechselkurs als kleinere Sensation. Plötzlich war London, in den Nullerjahren berüchtigt als teuerste Stadt Europas, geradezu erschwinglich.
Die Rezession war aber spürbar. Und eines der Anzeichen dafür war dieses altmödige Plakat, das überall zu sehen (und zu kaufen) war. Die Message war klar: Momentan ist's hart; aber das geht vorbei. Nicht verzagen, Leute, wir schaffen das.
Aber wieso war dieses Plakat, das offensichtlich älteren Datums war, erst in den 2000ern wieder zum Vorschein gekommen? Britische Populärkultur hatte schon immer gerne die Ikonografie des Zweiten Weltkriegs oder der Viktorianischen Ära für aktuelle Anlässe adaptiert. Bestimmt wäre «Keep Calm» schon früher aufgetaucht und verwertet worden. 2008/9 war ja nicht die erste Krise.
Fakt ist, das Design wurde erst anno 2000 wiederentdeckt. Aber erst mal von vorne:
Im Frühjahr 1939 gab das britische Ministry of Information eine Reihe von Propagandaplakaten in Auftrag. Diese sollten der Öffentlichkeit Beruhigung und Stärkung bieten in Aussicht der auf sie zukommenden schwierigen Zeiten. Vorgabe war, dass die Plakate einen einheitlichen Stil aufwiesen und einen «speziellen und attraktiven Schriftsatz» verwendeten. Jener (verdächtig an den ebenso durchgestylten Johnston-Schriftsatz der Londoner U-Bahn erinnernde) Schriftsatz sollte etwaige Fälschungen erschweren. Der Hintergrund wurde uni gehalten und einzig die Krone König George VI' wurde als grafisches Mittel eingesetzt.
Produziert wurden drei Entwürfe.
Der erste Slogan lautete: «Dein Mut, dein Frohsinn, deine Entschlossenheit werden uns den Sieg bringen». Das zweite Plakat trug die Worte «Freiheit ist in Gefahr. Verteidige sie mit aller Kraft».
Aber das dritte Plakat lautete schlicht:
«Bleib' ruhig und mach' weiter» – wie bei den anderen Designs verzichtete man bewusst auf Satzzeichen, damit es nicht alarmistisch oder befehlshaft wirkte.
Die ersten zwei Designs wurden im September 1939 verteilt und erschienen fortan landauf landab in Ladenfenstern und auf Bahnsteigen. Von den «Keep-Calm»-Plakaten wurden zwar 2,5 Millionen Exemplare gedruckt, aber in Reserve gehalten für Situationen von unmittelbarerer Gefahr.
Letztendlich wurde das Plakat gar nie offiziell herausgegeben und blieb von der Öffentlichkeit unbemerkt ... bis mehr als 50 Jahre später ein Exemplar auftauchte.
In der nordöstlichen Ecke Englands, in Alnwick in der Grafschaft Northumberland, befindet sich in einem ehemaligen viktorianischen Bahnhofsgebäude die Second-Hand-Buchhandlung Barter Books, das vom Ehepaar Stuart und Mary Manley geführt wird. Reihen von Bücherregalen stehen, wo einst die Zuggeleise waren. Die alten Teestuben und Warteräume des Bahnhofs sind immer noch da.
Im Jahr 2000 entdeckte Stuart ein Exemplar des «Keep-Calm»-Plakats in einer Kiste alter Bücher, die er bei einer Auktion ersteigert hatte. Mary gefiel das Plakat so sehr, dass sie es einrahmen liess und hinter der Ladenkasse aufhängte.
In der Folge erwies es sich bei den Kunden als derart beliebt, dass sie 2001 begannen, Kopien zu verkaufen. Langsam aber sicher verteilte sich das Plakat so durch die britische Insel, bis es mit der 2008er Krise plötzlich wieder schmerzliche Aktualität erlangte. Seitdem wurde das Plakat x-fach kopiert, parodiert und trivialisiert und ist damit zu einem der ikonischsten Bilder des 21. Jahrhunderts geworden.
Weshalb findet eine simple Aussage aus einer vergangenen Zeit bis heute derart viel Anklang und Resonanz? Nun, das Design ist schlicht und zeitlos und universell erkennbar. Auch weckt die Retro-Optik urmenschliche Sehnsüchte nach heiler Welt. Aber letztlich ist es wohl gerade die Aussage auf dem Plakat, welche bei den Menschen Anklang findet. Ruhig bleiben. Weitermachen. Das ist kein Befehl. Es ist eine warmherzige Aufforderung. Etwas, um in schwierigen Zeiten Vertrauen in seine Mitmenschen zu wecken. Sowas galt damals, gilt heute, gilt immer.
Ach ja, zum Schluss vielleicht dies: Es heisst «carry on». Nicht «carry on as if nothing's happened». Auch dies galt damals wie heute. Und heute gilt eben auch noch das hier:
Von einer Lehrerin von zuhause aus. (Home class?)