Eric Schmidt, Ex-CEO von Google, hat zusammen mit Jared Cohen, dem Entwicklungschef des IT-Konzerns, das Buch «Die Vernetzung der Welt» verfasst. Die beiden schildern darin, wie der technische Fortschritt die Gesellschaft verändern wird. Die zentrale Aussage kann man wie folgt zusammenfassen: Menschen werden künftig in zwei Welten leben, einer realen und einer virtuellen.
Die meisten von uns werden dabei folgenden Handel akzeptieren: Wir verzichten in der realen Welt auf unsere Privatsphäre und akzeptieren, dass wir von einer superreichen Elite regiert werden. Dafür werden wir in der virtuellen Welt belohnt. Das gute Leben führen wir als Avatar im Cyberspace.
Gemäss Schmidt/Cohen könnte das wie folgt aussehen: «Sind Sie gelangweilt und wollen einen einstündigen Urlaub einschieben? Warum schalten Sie nicht einfach Ihr Hologerät ein und besuchen den Karneval in Rio? Sie sind gestresst? Verbringen Sie doch ein wenig Zeit an einem Strand auf den Malediven! Sie haben Angst, dass Ihre Kinder zu verwöhnten Gören werden? Schicken Sie sie doch zu einem Spaziergang durch die Slums von Mumbai! Sie sind enttäuscht von den Übertragungen der Olympischen Spiele? Kaufen Sie sich zu einem vernünftigen Preis ein holographisches Ticket und lassen Sie die Bodenturnerinnen live in Ihrem Wohnzimmer antreten.»
Die Vision von Schmidt/Cohen ist nicht neu. Der Traum von einem besseren Leben in einer virtuellen Realität wird seit den 1980er Jahren geträumt. Wie das papierlose Büro drohte dieses Zukunftsszenario zu einem Treppenwitz der Techno-Geschichte zu verkommen. Dank dem Moore’schen Gesetz, der Verdoppelung der Anzahl Transistoren auf einem Computerchip innert zwei Jahren, ist es wieder brandaktuell geworden.
An der Computerspiele-Messe in San Francisco vom vergangenen März waren weder Sony noch Microsoft die Stars, sondern ein kleiner Startup namens Oculus VR. Palmer Luckey, ein 21-jähriger Hochschulaussteiger, hat eine Brille entwickelt, die es erlaubt, sich im eigenen Wohnzimmer in der virtuellen Welt zu bewegen. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat sofort zugeschlagen und das Unternehmen für rund zwei Milliarden Dollar gekauft.
Seine Begründung ist deckungsgleich mit der Zukunftsvision von Schmidt/Cohen: «Stellt euch vor, ein Sportereignis direkt vom Spielfeld aus zu erleben, in einem Hörsaal zu sitzen mit Studenten und Dozenten aus der ganzen Welt oder einen Arzt von Angesicht zu Angesicht zu konsultieren, einfach indem man sich die Brille aufsetzt.»
All dies erinnert an den Roman «Schöne Neue Welt». Aldous Huxley wollte damit die konsequente Weiterentwicklung der amerikanischen Konsumgesellschaft aufzeigen. Das war in den 1930er Jahren. Inzwischen hat diese Entwicklung Huxley überholt. Dave Eggers hat mit «The Circle» eine Art Fortsetzung von «Schöne Neue Welt» geschrieben. Im Mittelpunkt steht dabei ein Unternehmen, das sehr stark an Google erinnert und die Frage, ob der Mensch nicht gänzlich auf seine Privatsphäre verzichten muss. Auch Hollywood scheint von dieser Thematik geradezu besessen zu sein. Davon zeugen Action-Filme wie «Elysium» oder die Trilogie der «Hunger Games», aber auch der gehobene Studiofilm «Her».
Nicht nur die Scheinwelt von Hollywood, auch die reale Welt nähert sich Huxleys Vision an. Wir sind tatsächlich auf dem Weg in eine schöne neue Welt, eine Welt, in der eine kleine Elite an den Schalthebeln einer globalisierten Wirtschaft sitzt und den Bezug zu den anderen Menschen verloren hat.
Die neuen Superreichen leben in eigenen Welt, werden von einem hochprofessionellen Stab umsorgt und treffen sich mit ihresgleichen an Anlässen wie dem Wef in Davos, dem Filmfestival in Cannes oder dem Tennistournier Wimbledon. Wie schon die alten Aristokraten kümmern sich auch die neuen Geldadligen nicht um Landesgrenzen. «Ob die Superreichen ihren Wohnsitz in New York, Hong Kong, Moskau oder Mumbai haben, spielt keine Rolle, sie bilden eine Nation für sich selbst», schreibt Chrystia Freeland in ihrem Buch «Plutocrats».
Ganz anders sieht die Lage für den Mittelstand aus. Der US-Ökonom Taylor Cowen prophezeit folgende Entwicklung: Das Einkommen der meisten Erwerbstägigen wird weiter schrumpfen. Deshalb werden die Menschen dorthin wandern, wo sie sich noch einen bescheidenen Lebensstandard leisten können.
Typisch für diese Entwicklung ist der US-Bundesstaat Texas. Dort sind die Steuern tief und das Leben billig. Dafür sind auch die Strassen voller Schlaglöcher, die Schulen und Spitäler lausig. Trotzdem wächst die Bevölkerung in Houston und Dallas rasant. «Texas hat einen beträchtlichen Überschuss an Zuwanderern», hält Cowen fest. «Das lässt darauf schliessen, dass die meisten Amerikaner lieber ein bisschen mehr Cash in der Tasche haben als einen besseren Service public.»
Und was, wenn auch in Texas die besten Plätze vergeben sein werden?
«Einmal mehr werden die weniger Begüterten aus den schönen Wohn- gegenden verdrängt werden», sagt Cowen. Allmählich werden die Vereinigten Staaten so zu einem Drittweltland. «Wahrscheinlich werden Zonen entstehen, die Mexiko oder Brasilien gleichen, allerdings mit mehr technischen Spielzeugen und mit mehr Sicherheit», mutmasst Cowen.
Wird sich der Mittelstand widerstandslos dieser Entwicklung fügen?
Ja, glaubt Cowen, denn die Menschen werden nicht nur ärmer, sie werden auch älter und damit konservativer. Aufruhr wie in den 60er-Jahren hält er für unwahrscheinlich.
Stattdessen würden sich die Menschen vermehrt wieder auf lokale Gemeinschaften zurückziehen und auf diesem Weg versuchen, sich vor wirtschaftlicher Unsicherheit zu schützen. «Wir werden zusehen, wie die Einkommen vieler Arbeitnehmer weiter sinken werden und eine neue Unterschicht entsteht», sagt Cowen. «Wir können diesen Prozess schlicht nicht stoppen. Und trotzdem wird es eine seltsam friedliche Zeit werden, mit einer älter werdenden Bevölkerung und viel billigem Vergnügen.»
Das Leben als Unterschichts-Fernsehen in einer virtuellen Realität? Ist dies tatsächlich die einzige Option, die den Menschen im 21. bleibt?
«Wenn wir verhindern wollen, dass die neuen Maschinen keine Frankenstein-Monster werden, dann wartet eine grosse Herausforderung auf uns» warnt Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times». Es gibt jedoch Alternativen. Das zeigt das Beispiel des Solarchemiker Hermann Fischer.
Hermann Fischer ist beides, ein leidenschaftlicher Chemiker und ein erfolgreicher Unternehmer. In Braunschweig betreibt er ein mittelständisches Unternehmen. Es stellt Naturfarben her, aber auch Putzmittel, Klebstoffe und Lacke, alles auf biologischer Basis. Fischer hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. 1992 hat ihn das Wirtschaftsmagazin «Capital» zum Ökomanager des Jahres gewählt.
Dass die moderne Chemie fast ausschliesslich von Erdöl und Erdgas abhängig ist, will Fischer nicht in den Kopf. Das hat einzig wirtschaftliche Gründe. Erdöl lässt sich leicht cracken, will heissen, in seine Einzelteile zerlegen. Es ist damit der billigste Lieferant von Basisteilchen, aus denen Medikamente, Farbstoffe und Kunstharze, aber auch Kunststoffe, Waschmittel und Kunstfasern hergestellt werden können.
Fischer möchte dies ändern, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens ist Petrochemie sehr giftig. Chemieunfälle können katastrophale Folgen haben, wie die Beispiele Seveso, Bhopal und Schweizerhalle gezeigt haben.
Zweitens sind die Erdölvorkommen endlich, und drittens fühlt sich der Wissenschaftler Fischer in seinem Stolz verletzt. «Die Bausteine der Petrochemie sind überaus banal», sagt er. «Eiweissstoffe, Harze und Wachs sind viel komplexere Stoffe als Ethan und Benzol.» Basisstoffe wie Öle und Harze lassen sich auch aus Pflanzen gewinnen. «Für praktisch jedes aus Erdöl hergestellte Produkt der Alltagschemie gibt es einen Ersatz auf erneuerbarer Grundlage – vieles davon schon heute in breiter Anwendung», stellt Fischer fest.
Grundsätzlich ist es möglich, chemische Fabriken – ähnlich wie die Kraftwerke zur Stromproduktion – nachhaltig zu gestalten und die Chemie vom Erdöl zu entwöhnen. Fischer spricht in Anlehnung an die Sonnenenergie von einer Solarchemie. Diese Umstellung erfordert jedoch eine neue Wirtschaftsordnung. Genau wie man ein bestehendes Atomkraftwerk nicht auf Sonnenenergie umrüsten kann, lässt sich die bestehende Petrochemie nicht auf eine Solarchemie umpolen. Es braucht dazu einen Paradigmenwechsel der gesamten Wirtschaftsordnung, einen Wechsel von gross zu klein und von global zu lokal.
Die Petrochemie ist gross und international. Sie ist Bestandteil einer Wirtschaftsordnung mit einer hoch komplexen Supply Chain, die den gesamten Globus umspannt. Die Solarchemie ist klein und lokal. Weil sie mit ungiftigen Ausgangsstoffen arbeitet, muss sie nicht auf der grünen Wiese angesiedelt und möglichst von Menschen abgeschottet werden. Solarunternehmen sind KMU, die sich problemlos in Dörfer und Städten integrieren lassen, ähnlich wie Supermärkte und Handwerksbetriebe. Petrochemie ist zentralisiert, Solarchemie dezentralisiert. Sie setzt nicht auf Skalenökonomie und Massenproduktion, sondern auf kleine Mengen.
Aber würde eine solche Solarchemie nicht Ackerland verbrauchen, das für die Nahrungsmittelproduktion dringend gebraucht wird?
«Wir nutzen heute nur einen Bruchteil der weltweiten Landfläche als Ackerfläche», stellt Fischer klar. «Allein die sogenannten ‹degradierten Flächen›, die derzeit als nicht hochwertig genug angesehen werden, machen mehr als das Doppelte der heutigen Ackerflächen aus. Nutzpflanzen zur Herstellung solarer Grundstoffe sind jedoch meist anspruchslose Pflanzen, die – wie z.B. die Färbepflanze Reseda – auch auf degradierten Flächen sehr gut gedeihen.»
Schön, mag man einwenden, aber sind die Solarchemiker den viel mächtigeren und auf bedingungslose Effizienz getrimmten Grossunternehmen nicht hoffnungslos unterlegen?
Nein, sagt Fischer und begründet dies wie folgt: «Die bei Grosstechnologien heute noch gegebenen Skaleneffekte (höhere Produktivität in grösseren Anlagen) verlieren künftig an Bedeutung. Inzwischen stehen neue Technologien wie beispielsweise die chemische Produktion in Mikroreaktoren zur Verfügung, die grosse Produktionseinheiten zunehmend obsolet machen. In solchen Mikroreaktoren werden die einzelnen Komponenten des herzustellenden Produkts nicht mehr absatzweise zusammengefügt, gemischt und gegebenenfalls zur Reaktion gebracht, sondern als fortlaufender Strom von Grundstoffen, die auf sehr kleinem Raum zusammentreffen, dort in kürzester Zeit intensiv gemischt werden und den Mikroreaktor dann gemeinsam als homogener Strom des fertigen Produktes verlassen.»
Solarchemie im Sinne von Fischer ist nicht ein naives Zurück zur Natur, es ist keine Kräuterapotheke. «Solarchemie ist eine Mischung aus Hi-Tech und Tradition im Sinne der bewährten Prinzipien», sagt Fischer. «Sie ist ein der Zukunft zugewandtes, fröhliches Konzept, in dem für Nostalgie wenig Platz ist, wohl aber für Genuss, Sicherheit, Verlässlichkeit und Zukunftsfähigkeit.»
Das Beispiel der Solarchemie zeigt, dass der technische Fortschritt nicht zu einem neuen, globalen Techno-Feudalismus führen muss, in der eine schmale Elite in Saus und Braus lebt und ein verarmter Mittelstand mit virtuellen Spielen ruhig gestellt wird und verblödet.
3D-Printer, Solarchemie, etc. schaffen die Voraussetzungen für eine andere Gesellschaft, in der ein wohlhabender und selbstbewusster Mittelstand ein erfülltes Leben führt und dabei nachhaltig in vorwiegend lokalen und regionalen Kreisläufen wirtschaftet.
Genau diese Vision hat die Vordenker der Aufklärung und die Väter der Marktwirtschaft geleitet. Adam Smith hat seine Theorie der unsichtbaren Hand im Edinburgh des 18. Jahrhunderts entwickelt. Damals war die Wirtschaft regional geprägt, die Menschen kannten sich gegenseitig sich gegenseitig und sie waren nicht abhängig von einer globalen Supply Chain, die rund um die Uhr von Algorithmen gesteuert wird. «Adam Smith ist davon ausgegangen, dass die Härten der unsichtbaren Hand durch den Gemeinschaftsdruck der Peers gemildert wird», stellt daher Alex Pentland in seinem Buch «Social Physics» fest. «In den Jahrhunderten nach ihm haben wir stets nur die Marktmechanismen betont und die Bedeutung des Drucks der Gemeinschaft vergessen.»
Es geht darum, den Segen des technischen Fortschrittes mit einem neuen Gemeinschaftssinn zu verbinden. Dann wird es möglich sein, ein gutes Leben in der realen Welt zu führen. «Der Aufstieg der intelligenten Maschinen macht es möglich, dass viele Menschen ein solches Leben führen können, ohne dass andere ausgebeutet werden», stellt Martin Wolf, Chefökonom der «Financial Times» fest. «Der heute herrschende Puritanismus findet diese Vorstellung zwar abscheulich. Nun denn, lasst die Menschen sich halt fleissig vergnügen. Was sonst soll Sinn und Zweck des gewaltigen Wohlstands sein, den wir geschaffen haben?»
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)