Charlie Kirk wird mit einer Gedenkfeier geehrt, wie es sie wohl noch nie gab
Es ist schon dunkel, und die Hitze des Tages hat endlich etwas nachgelassen, als Brayden an das Mikrofon tritt. Er hält einen Moment inne, bevor er zu sprechen beginnt, und schaut in die Runde. Vor ihm haben etwa 200 Personen einen Halbkreis gebildet, neben Brayden hat jemand ein drei Meter hohes Holzkreuz aufgestellt, hinter ihm liegt die Einfahrt zum Hauptquartier von Turning Point USA, der politischen Jugendorganisation, die Charlie Kirk gegründet hat. «Ich war da, als es passiert ist», sagt Brayden schliesslich. «Ich stand nur fünf Fuss von ihm entfernt.» Ein Raunen geht durch die Menge.
Das «da», das ist der Campus der Utah Valley University, auf dem Charlie Kirk am Mittwoch, dem 10. September, ermordet wurde. Hier und jetzt, das ist Phoenix, Arizona, wo Kirk mit seiner Frau Erika und ihren beiden Kindern gelebt hat, wo die Zentrale seiner Organisation liegt. Es ist Freitag, der 19. September, also neun Tage nach dem Mord, und vor dem Gelände von Turning Point USA sind einige Mitarbeiter, vor allem aber viele Anhänger von Charlie Kirk zu einem spontanen Gedenken zusammengekommen. Das Gedenken hier ist eine Art leises Präludium zu dem, was Phoenix und irgendwie auch die ganzen Vereinigten Staaten in den kommenden Tagen erwartet.
An diesem Sonntag wird Charlie Kirk in seiner Heimatstadt Phoenix mit einer Gedenkveranstaltung geehrt, wie es sie so wohl nie in den USA gegeben hat. Es ist eine Art Staatsbegräbnis, aber auf MAGA-Art: nicht im kleinen Kreis schwarz zugeknöpfter Würdenträger, mit getragenen Trompetenklängen und Soldaten, die strammstehen. Sondern ein Massen-Event im State Farm Stadium, dem Stadion der Arizona Cardinals, einer Football-Mannschaft. 63'000 Leute fasst es, nach Angaben von Turning Point USA haben sich deutlich mehr Menschen registriert, weshalb eine nahe gelegene Konzerthalle auch noch angemietet wurde. Dorthin wird der Gedenkgottesdienst übertragen. Die örtliche Polizei rechnet mit 100'000 Besuchern. Auf der Rednerliste stehen Erika Kirk, Präsident Donald Trump, Vizepräsident JD Vance, das halbe Kabinett und wichtige Kongressabgeordnete. Dresscode: «Sunday best», also Kirchgangskleidung. Oder: Rot, Weiss und Blau – die Farben der amerikanischen Flagge.
Brayden, der nur seinen Vornamen nennen möchte, ist ein grosser, junger Mann mit rötlichem Bart. Er arbeitet im Videoteam von Turning Point USA und hat Charlie Kirk mit seiner Kamera im vergangenen Jahr kreuz und quer durch das Land begleitet, zu Diskussionen an Colleges in den Vereinigten Staaten. Der Auftritt in Utah war die erste Veranstaltung nach einer Sommerpause, Brayden sagt in das Mikrofon, dass Kirk sich wahnsinnig darauf gefreut habe, wieder loszulegen. «Es tröstet mich, dass er jetzt im Himmel sitzt mit Gott, und dass wir ihn eines Tages wiedersehen werden», sagt er. Und: «Ich bin stolz, dass Erika meine neue CEO ist.»
Erika Kirk, Charlie Kirks Frau, hat in dieser Woche bekannt gegeben, die Leitung der Organisation zu übernehmen. Ja, sie sei schon ein paar Mal vor Ort gewesen, habe vor der Belegschaft gesprochen, sagt Marcus, ein anderer Turning-Point-Mitarbeiter, der bei der Gedenkveranstaltung spricht. Die Stimmung sei erst traurig gewesen, jetzt sei sie kämpferisch. Viel Zeit zum Nachdenken hätten sie nicht gehabt. Alle würden arbeiten wie verrückt, um diese Gedenkveranstaltung auf die Beine zu stellen – ein logistischer und sicherheitstechnischer Albtraum. Aber sie würden es für Charlie machen, sagt Marcus. Um ihn zu ehren. Um seine Arbeit fortzusetzen.
Die Bewegung hat jetzt einen Märtyrer
Tatsächlich, aber das sagt Marcus nicht, ist offen, wie es mit Turning Point USA weitergeht – ebenso wie offen ist, wie es mit den Vereinigten Staaten weitergeht. In den neun Tagen nach Charlie Kirks Tod haben Donald Trump, JD Vance und andere Mitglieder der Regierung den Kurs verschärft.
Stephen Miller, Trumps innenpolitischer Berater, hat angekündigt, gegen linke «NGO-Netzwerke» vorzugehen, also gegen Nichtregierungsorganisationen. Die Show des ABC-Late-Night-Stars Jimmy Kimmel wurde auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, weil er infrage gestellt hatte, dass der Attentäter, der Kirk ermordet hat, ein Linker ist. JD Vance hat die Amerikaner aufgefordert, Menschen bei ihren Arbeitgebern zu melden, die sich abfällig über Kirk äussern. «Antifa» wurde zu einer Terrororganisation erklärt, obwohl das tatsächlich keine Organisation, sondern eher eine Bewegung und völlig unklar ist, was das eigentlich heisst. Fraglich ist auch, welchen Ton Trump und seine Leute bei der Gedenkveranstaltung anschlagen werden. Und ob sich daraus vielleicht ablesen lässt, welche Ziele diese Regierung nach Charlie Kirks Tod verfolgt?
Für die vielen Menschen allerdings, die in diesen Tagen aus allen Ecken des Landes nach Phoenix reisen, steht die Trauer im Vordergrund. Am Nachmittag – die gnadenlose Wüstensonne knallt auf den Asphalt vor dem Turning-Point-Hauptquartier – spazieren Menschen aus Kalifornien, Pennsylvania, Michigan das Blumenmeer ab, das sich in den vergangenen Tagen über mehrere Hundert Meter entlang des hohen, weissen Zauns um das Turning-Point-Gelände gebildet hat. Unter ihnen sind Jacob Russell, sein Grossvater und seine Mutter. Die drei sehen ein wenig verloren aus und bleiben dicht beieinander zwischen all den anderen Menschen, die auf und abwandern, sich umarmen, beten, Selfies machen. Die Familie ist eben erst aus Florida angekommen. Vom Flughafen aus sind sie direkt hierhergefahren.
Jacob Russell ist 17 Jahre alt. Er trägt schwarze Chucks, Baggy Jeans und hat seine strubbeligen Haare oben blond gefärbt und an den Seiten kurz rasiert. Sein letztes Schuljahr hat gerade begonnen. Er wird zu Hause unterrichtet, seine Familie ist streng religiös, gehört einer evangelikalen Kirche an. An jenem Mittwoch, als Kirk starb, sass Jacob gerade am Schreibtisch und lernte, als sein Vater ins Zimmer kam und sagte: «Auf Charlie ist geschossen worden. Es sieht nicht gut aus.» Die Familie kam sofort zusammen, um zu beten, den Grossvater, John Beward, schalteten sie per Telefon zu. Beward erzählt, vor ein paar Jahren habe Jacob ihm auf einer gemeinsamen Autofahrt einen Podcast von Kirk vorgespielt – seitdem sei auch er ein Anhänger. Kirk sei «ein Bruder im Glauben», weshalb er sofort alles in Bewegung setzte, um seinem Enkel den Wunsch zu erfüllen, selbst zur Beerdigung zu fahren. Am Sonntag wollen sie um ein Uhr in der Früh vor dem Stadion sein, um auch ganz sicher Plätze zu bekommen – obwohl das Gedenken erst um 11 Uhr beginnt.
Kirks Tod, sagen alle drei, verändere alles, vielleicht auch für sie ganz persönlich. Im nächsten Sommer wollte Jacob eigentlich aufs College. Jetzt überlegt er, ob er nicht erst einmal ein «prep year» bei Turning Point USA macht, ein neun Monate langes Programm zur «Persönlichkeitsbildung». Die Teilnehmer ziehen für diese Zeit in ein Baptistenseminar in Texas, werden in Gesellschaftswissenschaften, Bibelstudien, Rhetorik unterrichtet, eine Schule für die nächste Generation rechtskonservativer Aktivisten. Sein Grossvater und seine Mutter nicken zu der Frage, ob sie das befürworten. «Dann müssen wir eben alle nach Texas ziehen», sagt John Beward, lacht, legt seinen Arm um die Schulter seines Enkels und zieht ihn eng an sich.
Am Vormittag, so erzählen es einige der Besucher vor der Turning-Point-Zentrale, hätten sie Tucker Carlson gesehen, den früheren Fox-Moderator, der sich mit dem Sender überworfen hat und jetzt eine eigene, rechtskonservative YouTube-Show hat. Carlson fuhr vor, um in Charlie Kirks Podcaststudio eine Sendung aufzunehmen. Die ganze Woche über haben Grössen aus der rechtskonservativen Szene Kirks Sendung fortgeführt, angefangen mit Vizepräsident JD Vance. Carlson macht den Abschluss und redet mit weiteren Gästen vor allem über Kirks Religiosität. Er zeichnet das Bild von einem tiefgläubigen Asketen, der nie trank, sich von Hähnchenbrust und Avocados ernährte, und nur für «die Sache» und seine Familie lebte.
Tuckers Podcast ist nur ein winziger Teil des in dieser Woche hastig hochgezogenen, übermenschengrossen Heiligenbildnisses, gebaut aus Tausenden Worten, Memes, Videos. Die Trauerfeier am Sonntag dürfte auch dazu dienen, dieses Bildnis zu festigen. Die Bewegung hat jetzt einen Märtyrer. Die Hoffnung, die an diesem Tag in Phoenix viele artikulieren: dass Charlie Kirk die Bewegung im Tod noch grösser macht denn als Lebender. Viele, die gekommen, sind nicht Fans. Sie sind Pilger.
Im Leichenschauhaus an der 7th Street ist Kirks Leichnam aufgebahrt
Phoenix ist gross und weitläufig genug, um die Zehntausenden, die in diesen Tagen anreisen, zu absorbieren, ohne, dass sie im Stadtbild sichtbar werden. Am Freitagabend vor der Beerdigung sind die Biergärten downtown voll mit jungen Leuten, die unbefangen im feinen Nebel feiern. Ventilatoren verteilen feine Tröpfchen in die bunten Lichter und Stroboskopstrahlen, die Hitze soll so etwas erträglicher werden.
Fast zwei Millionen Einwohner hat die Stadt, dazu kommen die vielen umliegenden Gemeinden, die über die Jahre mit der Stadt verwachsen sind, darunter Glendale, wo das Stadion liegt. Phoenix liegt mitten in der Wüste, umgeben von Bergen, die sich steil aus der flachen Ebene des «Valley» recken, die Landschaft ist berühmt für die charakteristischen, baumhohen Saguaro-Kakteen. Phoenix ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Tech-Unternehmen haben sich angesiedelt, mit ihnen sind viele Kalifornier hierhergezogen. Arizona ist «blauer» geworden, ein Swing-State. 2020 gewann Joe Biden den Staat, Phoenix wurde daraufhin zu einem der Epizentren von Donald Trumps Versuch, das Wahlergebnis zu kippen. Jetzt steht Phoenix erneut im Zentrum der nationalen Politik – und die MAGA-Anhänger fallen ein. Die Autos am Flughafen sind alle vermietet, die Hotels, in denen man fragt, sind ausgebucht, und ja, natürlich wegen Charlie Kirk. Die Sicherheit wird vom Secret Service und der Bundespolizei organisiert, aber alle Polizisten im «Valley», ja wirklich alle, werden am Wochenende im Einsatz sein, erzählt ein Beamter. Urlaubssperre.
Davon ist am Freitag noch wenig zu spüren. Auf den gigantischen Parkplätzen rund um das Stadion sind schon ein paar Dixie-Toiletten aufgestellt, Absperrgitter stehen bereit, ansonsten ist es menschenleer.
Die Pilger treffen sich eher in den Motels entlang des Highways am Stadion, oder in jenen rund um den Flughafen. Sie sammeln sich vor der Turning-Point-Zentrale, oder vor jenem Leichenschauhaus an der 7th Street, in dem Charlie Kirks Leichnam aufgebahrt ist. Betreten darf man das kleine, kapellenartige Gebäude nicht. «Privatgrundstück», sagt ein Polizist, der abgestellt ist, es zu bewachen. Aber auch hier haben viele Menschen Blumen, Stofftiere, Botschaften abgelegt. Am Freitag vor der Beerdigung kommen sie vereinzelt vorbei, halten kurz inne, während hinter ihnen auf der vierspurigen Strasse der Verkehr vorbeilärmt. Gegenüber liegt eine Tankstelle.
Auch Brendon Henson betrachtet still die Blumen. Er ist am Nachmittag aus Alabama angekommen. Er ist 36 Jahre alt, in Alabama leitet er ein Unternehmen, das Autos tunt. Er trägt einen roten MAGA-Hut, darauf ist auch das Logo von Turning Point USA zu sehen, ein Pfeil, der einen Dreiviertelkreis beschreibt. Den habe er heute geschenkt bekommen, sagt er. Bis zu Charlies Tod, räumt er ein, habe er dessen Podcast nur gelegentlich gehört, er interessiere sich auch nicht besonders für Politik. Als er aber von Kirks Tod hörte, begann er, sich dessen Videos anzuschauen, sehr viele davon. Das habe ihn total eingesaugt, besonders «das Glaubenszeug». Dann musste er einfach herkommen.

Henson ist allein hier, aber in seinem Hotel in der Nähe des Flughafens habe er schon viele andere kennengelernt, die wegen Kirks Beerdigung hierhergekommen sind. Sogar eine Frau aus Norwegen sei dabei. Für den Abend hat sich eine Gruppe zum gemeinsamen Essen verabredet. «Hoffentlich gehen wir in ein Steak-House», sagt Brendon und seufzt. «Ich könnte ein Steak jetzt gut gebrauchen.»
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.