Die Schweiz schreit auf. Was sind die Ursachen für den Sexismus?
Kathrin Bertschy: Wir haben nach wie vor eine unterschwellige patriarchale Kultur, wo Anliegen und Rechte der Frauen verniedlicht, verharmlost oder gar tabuisiert werden. Das ist der Nährboden für den Sexismus, der derzeit diskutiert wird.
Frauenrechte würden verharmlost. Nennen Sie uns ein Beispiel.
Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Wir reden kaum über diese Gewalttaten. Und wenn es in den Medien zum Thema wird, dann ist nicht die Rede von Mord, sondern von Familiendramen. Damit wird suggeriert, dass die Frau eine Mitschuld an ihrem Tod hat. Dabei wurde sie getötet, weil ein Mann nicht akzeptieren wollte, dass seine Frau ihm nicht gehorcht. Doch darüber redet die Politik nicht. Das Parlament debattiert lieber über Wölfe, die ein paar Schafe gerissen haben.
Frauenthemen schaffen es nicht auf die politische Agenda?Genau. Nehmen wir die Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau: Der Nationalrat wollte das Thema aus der Legislaturplanung streichen. Das Parlament will sich erst gar nicht damit befassen, denn sonst müsste man sich eingestehen, dass es das Problem gibt. Für viele Männer ist es unangenehm, Macht und Einfluss mit Frauen zu teilen. Sie wollen lieber ihr Kumpaneisystem aufrechterhalten, als eine Kultur schaffen, wo Leistung belohnt wird. Solch ein Wandel macht nicht allen, aber vielen Männern Angst.
Welche Themen müsste man diskutieren?
In vielen Bereichen wird die klassische Rollenteilung zwischen Mann und Frau nach wie vor gefördert. In den Sozialversicherungen gibt es Mechanismen, die dazu führen, dass Frauen weniger Einkommen und Vermögen anhäufen können. Oder nehmen wir den Elternurlaub: Das Parlament hat einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub abgelehnt und über den Elternurlaub will es nicht reden. Doch wenn wir das nicht thematisieren, dann berauben wir uns der Chance, Modelle zu finden, die nicht zwingend mehr kosten als der aktuelle Mutterschaftsurlaub und vor allem mehr nützen. Frauen verdienen auch deshalb weniger, weil Arbeitgeber davon ausgehen, dass sie früher oder später wegen einer Mutterschaft ausfallen. Ein Elternurlaub könnte dem entgegenwirken, doch solche Debatten will niemand führen.
Die Frage ist doch, was ist privat und wo muss der Staat eingreifen.
In der Schweiz wird immer vorgeschoben, der Staat solle sich nicht einmischen. Häusliche Gewalt? Das Schlafzimmer ist privat. Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Kinder sind Privatsache. Das ist doch nicht richtig, es betrifft uns als Gesellschaft. So wird eine patriarchale Kultur fortgeführt, die Rollenbilder werden reproduziert. In anderen Ländern ist man fortschrittlicher.
Weshalb sind andere Länder weiter?
In anderen Staaten übernimmt die Regierung ihre Verantwortung. David Cameron etwa setzte sich in Grossbritannien für die Lohngleichheit ein, Barack Obama in den USA. Der Bundesrat setzt sich nicht für Frauenanliegen ein, wenn, dann überlässt er es den Bundesrätinnen. Beispiel Lohngleichheit: Simonetta Sommaruga hat Vorschläge gemacht und wurde dafür sofort angegriffen. Doch auch Alain Berset, er ist nämlich für die Gleichstellung verantwortlich, oder Johann Schneider-Ammann, er ist für die Fachkräfteinitiative verantwortlich, könnten sich des Themas stärker annehmen.
Ist es ein Problem, dass es keinen bürgerlichen Feminismus gibt?
Ja, die bürgerlichen Parteien sind in Frauenfragen nicht liberal, sondern konservativ. Wer Frauenanliegen vertritt, wird schnell in eine linke Feministinnenecke gedrängt und als unglaubwürdig dargestellt.
Schadet Ihnen Ihr politisches Engagement für Frauenthemen?
Ich überlege mir das nicht, da ich mein Engagement für richtig halte. Doch ich höre von Politikerinnen, denen geraten wird, Frauenthemen sein zu lassen, wenn sie Karriere machen möchten.
Was wird vom #SchweizerAufschrei bleiben?
Ich finde es schade, dass es ein derart beschämendes Video von Donald Trump braucht, damit wir in der Schweiz über Sexismus und die Ursachen reden. Doch ich hoffe, dass wir nun eine Diskussion über Frauenanliegen führen können. Vielleicht hilft uns die Burkadebatte, welche die Rechte so gerne führt. Dabei geht es nämlich nicht nur um Kleidervorschriften, sondern auch um Frauenrechte.
Pardon, aber auch das ist Sexismus. Kumpaneisytem unter Männern als Gegensatz zur implizierten Leistungsorientierung von Frauen? Hierzu dann bitte empirische Belege.
Genau diese Ignoranz bestätigt meine Meinung über solchen Internet-Bewegungen. Ich kann sie nicht ernst nehmen, da die meisten Leute gar wissen, um was es geht, sondern einfach auf den Zug springen und blind mitlaufen. Ein paar halbherzige Likes und Tweets, die immer weniger mit dem eigentlichen Thema zu tun haben und schon entsteht aus einer Diskussion über Vergewaltigungen ein breites digitales Aufschrei gegen Sexismus.