Mario Padruzzi* (28) sitzt im Café Mandarin beim Zürcher Stadelhofen und blättert lustlos durch den Tagi. Der FCZ hat wieder verloren. Überall ist von Rezession die Rede, von vier Prozent Arbeitslosen, die höchste Quote seit Jahren. Vor einer Woche hat es auch Mario getroffen. Es sei nichts Persönliches, sagte ihm der Abteilungsleiter bei Sulzer, aber man müsse abbauen, und er entlasse jene, die keine Familie durchbringen müssen. Mario blättert weiter in den Auslandteil, wo über die Belagerung von Sarajewo berichtet wird. Seit zwei Jahren treffen Busladungen von Bosniern und Kroaten in Zürich ein. Mit ihren alten Kleidern fügen sie sich perfekt in das graue Bild ein, das die Schweiz Anfang 1994 bietet.
Aber es gibt einen Lichtblick für Mario. Vor einigen Monaten hat ein neuer Nachtclub eröffnet. Das Kaufleuten. Fast jeden Samstag stellen sich Mario und seine Freunde in die Schlange, manchmal lässt man sie sogar hinein. Eines Abends bandelt Mario mit Maya an, der Tochter eines Zürcher Anwalts. Ein paar Wochen später stellt sie ihn ihren Eltern vor. Es ist Freitagabend, Mayas Familie will sich «Fascht e Familie», die brandneue Sitcom des Schweizer Fernsehens, ansehen. Die Tagesschau davor berichtet über Entlassungen bei der Swissair, die ohne privilegierten Zugang zum europäischen Luftverkehr unter Druck kommt.
«Alles wegen dieses EWR-Neins», flucht Mayas Vater. Was schaut er mich so skeptisch an, fragt sich Mario. «Also ich hab ja gestimmt», versichert er. «Aber in meiner Bude haben viele dagegen gestimmt, weil der Blocher halt überzeugen konnte.» Mayas Vater schüttelt den Kopf. «Wer nichts von Wirtschaft versteht, sollte auch nicht abstimmen dürfen», murmelt er. Maya nickt. Das wird nichts, denkt Mario.
Zürich, ein Jahr später. Regula Hirt (nun 27) weiss noch immer nicht, wie Petra es hingekriegt hat, dass sie mit ihr nach Zürich gezogen ist. Jetzt wohnen sie in dieser lottrigen Wohnung im Kreis 4, und wenn Regula frühmorgens die Haustür öffnet, muss sie aufpassen, dass sie nicht in eine Spritze oder gleich auf einen Junkie tritt, der im Hauseingang übernachtet hat. Petra schwärmt vom «dreckigen Flair» der Stadt und von den Falafeln, aber Regula vermisst die Innerschweiz.
Dann beschliesst sie, doch in Zürich zu bleiben. Sie hat jemanden kennengelernt. Ausgerechnet im Kaufleuten, diesem Szeni-Schuppen, in den Petra sie hinschleppte. Mario heisst er. Er war feiern, weil er nach einem Jahr Arbeitslosigkeit endlich einen neuen Job gefunden hatte. Er hat Cuba Libre auf ihr Kleid verschüttet. Regula hat gemerkt, dass er es absichtlich getan hat. Aber er ist witzig und kann zuhören. Auch wenn er etwas viel über den FCZ redet. Vielleicht, denkt Regula, während sie nach der Nachtschicht im Café Select einen dieser neuen Latte Macchiatos trinkt, vielleicht wird ja was draus.
Die Schweiz in den frühen 90ern: Im Radio scheppert Nirvana zu Arbeitslosigkeit und Jugoslawienkrieg. Ob die Rezession tatsächlich dem Nein zum EWR geschuldet ist, sei dahingestellt. Auch die Immobilienblase, die 1991 geplatzt ist, wirkt nach. Der starke Franken setzt der Exportindustrie zu. Doch die Angst, den Anschluss an ein sich reformierendes Europa zu verpassen, sitzt tief.
Die Schweiz preist sich gerne als Land mit liberaler Wirtschaft. Doch zu Beginn der 90er ist der Binnenmarkt hochreguliert. Der Staat hat das Monopol auf Telefon, Radio, Fernehen, Salz, Eisenbahnen, Gebäudeversicherungen und die Post. Wer eine Beiz eröffnen will, muss nachweisen, dass es in der Nachbarschaft einen Bedarf dazu gibt (oder, im Falle der Stadt Zürich, dem zuständigen Beamten Raphael «Don Raffi» Huber ein überteuertes Bild seines Vaters abkaufen). Das Schweizer Wettbewerbsgesetz ist zahnlos, faktisch beherrschen Kartelle weite Teile der Märkte.
Die EU fördert derweil mit einem harten Wettbewerbsgesetz die Konkurrenz und reisst die staatlichen Monopole nieder. In der Schweiz fordern die Ökonomen Silvio Borner, Aymo Brunetti und Thomas Straubhaar in ihrem Buch «Schweiz AG – vom Sonderfall zum Sanierungsfall?» parallele Massnahmen, um sich für eine künftige Annäherung fit zu halten. Die Lösung, typisch Schweiz: Das Kartellrecht wird ein wenig verschärft, man privatisiert die Swisscom, aber nur zu 49 Prozent. Nur das Gastgewerbe wird 1998 vollständig liberalisiert (und «Don Raffi» verhaftet).
Zugleich wird die Schweizer Wirtschaft von einem seltsamen Trio durchgeschüttelt: Christoph Blocher, Neubanker Martin Ebner und der Wirtschaftsprofessor Kurt Schiltknecht beginnen einen Raubzug durch die Industrie. In vollen Sälen überzeugen sie Schweizer Kleinanleger, ihnen das Stimmrecht ihrer Aktien von bekannten Unternehmen wie Sandoz zu übergeben. Im Gegenzug versprechen sie, das Management unter Druck zu setzen und höhere Renditen zu erzielen.
«Blocher, Ebner und Schiltknecht wollten die politische und wirtschaftliche Kontrolle über die Schweiz erringen», ist Peter Bodenmann überzeugt. «Alle drei hatten eine offene Rechnung mit dem System.» Blocher wäre gern Freisinniger geworden, kommt in den feinen Kreisen mit seiner bäurischen Art aber nicht an. Nach dem EWR-Nein hat ihn die Schweizerische Bankgesellschaft (heute UBS) aus dem Verwaltungsrat geworfen. Schiltknecht wäre gern Nationalbankpräsident geworden, hatte als Sozialdemokrat aber keine Chance. Bodenmann erinnert sich, wie er mit dem Trio und Silvia Blocher nach einer Veranstaltung zusammensass. Bodenmann lacht. «Frau Blocher fragte mich, ob ich nicht auch mitmachen will.»
Zu seinem Glück hat Bodenmann nicht mitgemacht. Ebners BZ-Bank geht Anfang der 00er Jahre wegen Fehlspekulationen pleite. Blocher steigt rechtzeitig aus, Ebner und viele Kleinanleger nicht. Auch wenn die wirtschaftliche Machtübernahme scheitert: Politisch erobert Blocher in den 90ern die Schweiz. In den katholischen Stammlanden laufen die CVP-Wähler, die von der sozialliberalen Parteispitze entfremden, in Scharen über. Auch die FDP verliert ihre Gewerbler an die SVP, die nach dem EWR-Nein immer mehr von Blocher dominiert wird. Der Freisinn muss sich erneuern. Und da beginnt die Geschichte von Ruedi Noser.
Noser, heute Zürcher Ständerat und Grossunternehmer, ist in den 90ern ein legasthenischer Computernerd, dessen Vater im Glarnerland mit einem Laster Kies ausfährt. Nach dem Studium als Elektroingenieur fängt Noser im Ingenieurbüro seines Bruders an, langweilt sich aber bald. Er ist eher Geschäftsmann als Tüftler. 1988 übernimmt er mit 27 Jahren eine Firma für Vermessungstechnik und baut sie nach und nach zu einem kleinen Informatikimperium aus.
Von der Krisenschweiz kriegt Noser nicht viel mit. Für Informatiker sind die 90er eine grosse Spielwiese. «Damals schrieben wir die ersten Mails in die Welt und versuchten so an Aufträge zu kommen», erinnert sich Noser bei einem Rüebli-Ingwer-Saft im Zürcher Hiltl. Die Noser-Gruppe spezialisiert sich auf Netzüberwachung im boomenden Handymarkt.
Noser ist mit 18 in die FDP eingetreten und befürwortet die Öffnung der Schweiz. Auch für einen EG-Beitritt wäre er damals zu haben gewesen. «Noch 1992 wollte ich der deutsche Telekom eines unserer Produkte verkaufen», erinnert er sich. «Der Chef sagte mir: Wir kaufen nur von deutschen Firmen. Zwei Jahre später bestellte er.» Durch den Binnenmarkt, sagt Noser, sei Europa in den 90ern führend in der Handytechnologie geworden.
Die Schweizer Wirtschaft hingegen wirkte starr. «Es war Säuhäfeli, Säudeckeli», erzählt Noser. Er kann in seiner Firma keine Ausländer anstellen, weil die Kontingente schon von den etablierten Unternehmen ausgeschöpft werden. «Wir hätten eine HR-Abteilung gebraucht, die ein Jahr im Voraus mit den Behörden zusammengesessen wäre», erzählt er. «Wenn wir kamen, hiess es: Ach, das Kontingent ist schon durch, kommt nächstes Jahr wieder.»
Als er eines Tages im Zug mit einem Kollegen über Probleme von Jungunternehmern redet, hört am Nebensitz zufällig der SVP-Nationalrat Christoffel Brändli mit. Er fragt ihn, ob er in die SVP eintreten wolle. Noser sagt, er sei schon in der FDP. Also empfiehlt Brändli ihn der damaligen FDP-Chefin Christine Beerli weiter.
In der FDP, der damals das Image als Filzpartei anhaftet, hat man auf einen Newcomer wie Noser gewartet. Er steigt schnell auf, wird 1997 Vorstandsmitglied der Zürcher FDP und tritt 1999 in den Kantonsrat und in die nationale Geschäftsleitung ein. Vor allem aber gestaltet er Ende 90er die Parteistrategie «Vision Schweiz 2007», mit der die FDP ins 21. Jahrhundert aufbrechen will. Es ist die Idee einer radikalen Reform: Der Abbau von Wettbewerbshemmnissen gehört dazu wie die Deregulierung von Bildung und Gesundheitswesen. Und der EU-Beitritt.
1994 starten in Brüssel die offiziellen Verhandlungen zwischen der Schweiz und Brüssel zu den Bilateralen I. Heute sind viele Schweizer Diplomaten überzeugt: Die Europäische Gemeinschaft, die mit dem Maastrichter Vertrag von 1993 zur Europäischen Union geworden ist, lässt sich bloss auf die Sonderlösung mit der Schweiz ein, weil sie mittelfristig auf den Beitritt hofft. Seit 1991 gilt der EU-Beitritt beim Bundesrat offiziell als strategisches Ziel. Das Beitrittsgesuch hängt in einer Kopie eingerahmt im Zimmer der verantwortlichen Kommissionsbeamten, wie ein Mitarbeiter der EU-Kommission heute in einem Brüsseler Café erzählt. Die Schweizer, sagt er, hätten mit dieser Hoffnung auf einen Beitritt immer gespielt.
Anfang der 90er ist die EU als Club der Westeuropäer auch noch flexibler. Die Österreicher und Skandinavier haben bei ihrem Beitritt Konzessionen erhalten, beispielsweise im Fischereiwesen, die es für spätere Mitglieder nicht mehr geben wird. «Die Schweiz gehörte zur Familie», erklärt Alexis Lautenberg, der 1993 Chef der Schweizer Mission in Brüssel wird. «Sie war der betrunkene Neffe, der einen Blödsinn gemacht hatte, den man aber bei sich behalten wollte.»
Zuoberst auf der Wunschliste der Schweiz steht der Zugang zum europäischen Luftverkehrsmarkt (für die Swissair), Beschaffungswesen und zur Forschung. Auf der Wunschliste der EU steht der Landverkehr und die Personenfreizügigkeit (PFZ). Die EU will auf der Südachse die französischen und österreichischen Pässe entlasten, und der freie Personenverkehr ist schon damals ein Grundprinzip des EU-Binnenmarkts. Damit die Schweizer die an der Urne nicht Rosinen picken können, versieht die EU die Bilateralen I mit der Guillotine-Klausel: Es gibt nur das ganze Paket oder gar nichts. Am 21. Juni 1999 unterzeichnen die Bundesräte Pascal Couchepin und Joseph Deiss die Papierstapel mit den sieben Verträgen.
In der Herbstsession 1999 berät das Parlament die Bilateralen I. Die Knacknuss ist die Personenfreizügigkeit. Seit dem EWR-Nein bewirtschaftet die SVP das Thema Ausländer, wird in den Wahlen im Oktober von 14,9 auf 22,6. Prozent Wähleranteil schnellen und damit gleich stark sein wie die SP, die Anfang der 90er ebenfalls noch zulegt.
Nationalrat Rudolf Strahm ist Ende der 90er ein Querkopf in der SP, die den Wandel von der Arbeiter- zur Mittelschichtspartei vollzieht. 1997, noch mitten in den Verhandlungen mit der EU, hat Strahm in einer Motion Massnahmen gefordert, um den Konkurrenzdruck, den die PFZ mit sich bringen wird, abzufedern. Noch heute ärgert er sich über die «sozial blinden Internationalisten» in seiner Partei, denen das nicht so wichtig war. «Ein Drittel der SP war bereit, die Bilateralen zu akzeptieren – vorbehaltslos! Dabei ist doch klar, dass der freie Personenverkehr ein neoliberales Konstrukt ist: Der Produktionsfaktor Arbeit soll dorthin wandern, wo er gebraucht wird», sagt Strahm.
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Diesmal erkennt der Bundesrat die politische Notwendigkeit flankierender Massnahmen (Flams) und baut sie in seinen Gesetzesentwurf ein. Als das Parlament im Herbst 1999 über die bilateralen Verträge berät, wollen der rechte Freisinn und die SVP die Flams kippen, weil sie unternehmerfeindlich seien. Nun schaltet sich der Gewerkschaftsbund, der 1992 die soziale Sprengkraft der EWR-Frage ebenfalls unterschätzt hat, ein. Medienwirksam inszeniert weist er sein Sekretariat an, Bögen fürs Referendum zu drucken. Die bürgerliche Mitte ist erpressbar: Die Wirtschaft drängt auf die Bilateralen. Ohne flankierende Massnahmen könnten die vereinigte Linke und die SVP-Basis die Bilateralen versenken. Eine Mehrheit der FDP stimmt deshalb dafür.
Gemäss Strahm ist dies auch dem frisch gewählten FDP-Bundesrat Pascal Couchepin zu verdanken. «Couchepin verstand den Standpunkt der Büezer», erzählt Strahm, «er wusste, dass man die gewinnen musste.» Es ist eine der letzten grossen Kooperationen der Linken und des Freisinns, die die offenen 90er geprägt haben. Im neuen Millennium wird die FDP nach rechts abbiegen, auch in der Europafrage.
Mai 2000, Samstagabend in Dietlikon. Die Padruzzis sind eine Familie geworden. Mario (34), der Maschinenbauer, geht kaum mehr an FCZ-Spiele. Regula (32) hat ihren Job im Spital aufgegeben. Sie sitzt mit Anna (4) und Jan (2) vor dem Fernseher und schauen «Expedition Robinson» auf dem neuen Privatsender TV3. Eine Gruppe von Schweizern muss auf einer Insel überleben.
Aber das ist nur noch im Fernsehen so. Morgen wird die Schweiz über die Bilateralen abstimmen. Zwei Drittel Zustimmung werden vorausgesagt. Auch Mario und Regula sind dafür. Diesmal haben Politiker und Wirtschaftsverbände am Fernsehen, auf Podien und mit Plakaten für die Verträge geworben. Als Regula die Einwanderung ansprach, zeigte ihr Mario eine Stelle im Abstimmungsbüchlein: «Wie die Erfahrungen in der EU zeigen, sind die Ängste, die Einwanderung aus EU-Staaten in die Schweiz werde zunehmen, nicht begründet.» Im Land herrscht eine andere Stimmung als zu Beginn des Jahrzehnts. Seit 1998 geht's mit der Wirtschaft wieder aufwärts. Mario und Regula können sich nicht erinnern, wann sie in den Nachrichten zuletzt so wenig von Krieg gehört haben.
Aus dem Schlafzimmer macht es: Krrffffzzhpiepkks.«Mario, schalt das Internet aus, Robinson hat angefangen», ruft Regula und lacht. «Jetzt versucht dieser Kiffer, ein Feuer zu machen.»«Ich komm gleich, ich such nur was auf Yahoo», ruft Mario, der vor ein paar Wochen ein Modem gekauft hat. Die Padruzzis sind mit der ganzen Welt verbunden. Ein neues Jahrtausend ist angebrochen.
* Die Familiengeschichte der Padruzzis ist ein fiktionales, erzählerisches Element.