Herr Kessler, wo ist eigentlich der Balkan-Raser hin? In letzter Zeit dominieren Erfolgsstorys von kosovarischen Vorzeige-Migranten die Schlagzeilen.
Thomas Kessler: Es ist tatsächlich eindrücklich, wie schnell sich das Image der Kosovaren in der Schweiz gewandelt hat – und zwar mehrfach. In den 70er-Jahren galten albanische Gastarbeiter als stille, loyale Migranten. Als der Kosovo-Krieg ausbrach, hatte man zunächst Mitleid mit den Flüchtlingen vom Balkan. Doch dann rückten die Integrationsprobleme in den Fokus – eben etwa in Gestalt des sogenannten Balkan-Rasers. Heute werden die Kosovaren von den meisten Schweizern als nette Nachbarn und Arbeitskollegen wahrgenommen.
Das ging jetzt etwas gar schnell. Was ist dazwischen passiert? Warum war das Bild des kriminellen Kosovaren im Abstimmungskampf zur Ausschaffungs- und Masseneinwanderungs-Initiative noch allgegenwärtig, während es in der Diskussion über die Durchsetzungsinitiative letztes Jahr kaum noch bemüht wurde?
Das SVP-Inserat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» von 2011 stellte den Tiefpunkt des kosovarischen Imageproblems dar. Seither schritt der soziale Aufstieg der Kosovaren voran: Viele der einstigen Flüchtlinge haben Karriere gemacht und verdienen heute beispielsweise im kaufmännischen Bereich gutes Geld. Zudem rückten im Zuge der Flüchtlingskrise andere Migrantengruppen wie die Eritreer oder die Maghrebiner in den Fokus der Öffentlichkeit.
So einfach ist das? Sobald eine neue Ausländergruppe da ist, sind die bisherigen Problemkinder fein raus?
Das ist eine wasserdichte Konstante: Die Neuen sind immer die Sündenböcke. Das ist in jedem Verein, jeder Schulklasse, jedem Verwaltungsrat so. Und in einer komplexen Gesellschaft wie unserer, die sich aufgrund der Migration immer wieder neu justieren muss, erst recht. Das muss gar nicht schichtgebunden sein: Man denke nur an die Polemik gegen deutsche Akademiker, die vor einigen Jahren im Raum Zürich um sich griff. Fällt eine Ausländergruppe dann noch mit einer erhöhten Kriminalitätsrate auf, ist es das Normalste der Welt, dass sie in die Schlagzeilen gerät.
Also wie jetzt: Waren die Kosovaren einfach Sündenböcke, weil sie die Neuen waren? Oder weil sie die Gesellschaft vor reale Probleme stellten?
Die Ursache war zweifellos real: An den Schulen gab es teilweise massive Probleme, weil traumatisierte Buben ihre sprachlichen Defizite mit Gewalt kompensierten. Kriegsvertriebene verübten in Europa bandenmässig Delikte. Auch der Balkan-Raser ist nicht einfach eine Erfindung der Medien: Der Autokult ist in Süd- und Osteuropa ausgeprägt, und bekanntlich kam es zu verheerenden Unfällen. Es ist nur richtig, wenn solche Auffälligkeiten öffentlich diskutiert werden. Die Schweiz hat ihre Lehren daraus gezogen.
Inwiefern?
Man hat gelernt, dass man Integration einfordern muss. Die neuen Migrantengruppen werden von den Behörden viel enger begleitet als die Kosovaren damals. Der Bund hat ein Rückübernahme-Abkommen mit dem Kosovo abgeschlossen, damit abgewiesene Asylbewerber im Schnellverfahren zurückgeschickt werden können. Und die Debatte über Balkan-Raser führte zu schärferen Strassenverkehrsgesetzen für alle. Resultat: Deutlich weniger Verkehrstote.
Und nun? Sind die Kosovaren auf dem Weg dazu, die neuen Italiener zu werden?
Es gibt zweifellos viele Parallelen. Auch die «Tschinggen» litten früher unter einem schlechten Image. Die Sizilianer galten als Messerbuben, die sich nicht im Griff haben, den Frauen nachpfeifen, faul sind und stehlen. Man befürchtete, dass sie mit ihrem Katholizismus die Schweiz unterwandern – oder gar den Kommunismus hierher bringen. Denn die meisten italienischen Bauarbeiter waren links. Dennoch ist die Ausgangslage für die Kosovaren schwieriger.
Warum?
Der Konflikt im Kosovo ist bis heute nicht gelöst. Die Kosovo-Schweizer spüren die Probleme in ihrem Herkunftsland und stehen unter einem moralischen Druck, ihre Verwandten zu Hause zu unterstützen. Das führt zwangsläufig zu Spannungen. Eine Gemeinsamkeit ist, dass bei der Integration beider Gruppen der Fussball eine grosse Rolle spielte: Als die Italiener 1982 Weltmeister wurden, feierten die Schweizer plötzlich ausgelassen mit. Und bald darauf gerieten italienische Restaurants und die italienische Musik gross in Mode. Heute freuen wir uns über die Tore, die Xherdan Shaqiri für die Nati schiesst.
Das heisst, dass wir bald auch beim Edel-Kosovaren Znacht essen und unsere Kinder Granit statt Luca taufen?
Bei allem Respekt, so weit würde ich noch nicht gehen (lacht). Die italienische Küche ist nun einmal eine der raffiniertesten der Welt, mit ihren Kräutern, den Meeresfrüchten. Ich weiss nicht, ob die Kosovaren mit ihrer währschaften Landküche das toppen können. Auch bis kosovarische Babynamen salonfähig werden, dürfte es wohl noch etwas dauern. Bereits zu spüren ist der Balkan-Hype hingegen im Tourismus, wo Destinationen wie Albanien immer beliebter werden. Die Konnotation mit Sonne und Urlaubsgefühlen dürfte das Image der Kosovaren in der Schweiz nochmals verbessern.
Was ist mit der Politik? Bei den letzten Wahlen versuchten zahlreiche Kandidaten mit Wurzeln im Balkan ihr Glück. Wagen Sie eine Prognose: Wann bekommt die Schweiz den ersten kosovarisch-stämmigen Bundesrat?
Das dauert wohl noch eine Generation. Mit Sibel Arslan hat Basel ja seit 2015 eine türkisch-kurdisch-stämmige Nationalrätin. Die entsprechende Diaspora hat sehr gut mobilisiert. Die Schweiz-Kosovaren müssen hier noch etwas Aufbauarbeit leisten.