Das Bezirksgericht Meilen hat sich normalerweise mit eher unspektakulären Sachbeständen zu beschäftigen: Forderungen, Konkursbegehren, hie und da ein Vermögensdelikt. Doch für diese Woche ist am Gericht in der Zürcher Gemeinde der Ausnahmezustand ausgerufen: Im Eingangsbereich kontrollieren drei Polizisten der Kantonspolizei mit Metalldetektoren Besucher auf gefährliche Gegenstände – Taschen, Jacken und Handys müssen abgegeben werden. Die Tür zum Gebäude wird von zwei weiteren Beamten flankiert. Wie viele insgesamt im Einsatz sind, will niemand sagen, es seien «auf jeden Fall einige», weiss einer der Polizisten.
Der lichtdurchflutete Gerichtssaal ist bis auf den letzten Platz durch Journalisten und Angehörige des Opfers besetzt, für die restlichen Besucher wird die Verhandlung in zwei weitere Räume übertragen. Vier Tage soll sie dauern – einen längeren und aufwändigeren Prozess hat es in Meilen noch nie gegeben. Entsprechend gross ist das Aufgebot an Juristen, die an diesem Montag im Saal Platz nehmen: Sechs Gerichtsmitarbeiter um Richter Jürg Meier sitzen sechs Anwälten gegenüber. Drei davon vertreten die insgesamt fünf Privatkläger, ein erbetener und ein Pflichtverteidiger den Beschuldigten B.S.*. Zudem ist Staatsanwalt Andreas Knauss zugegen.
Kurz vor Beginn der Verhandlung wird S., in grauem Jackett, Blue Jeans und Turnschuhen, an Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Mit seinen 1,95 Meter überragt der Angeklagte die Polizisten bei weitem, das aschblonde Haar reicht ihm bis zu den Schultern. S. begrüsst die Anwesenden mit einem Kopfnicken und setzt sich neben seinen Anwalt. Sein Blick verrät nichts.
Auch Richter Jürg Meier kriegt nicht mehr aus dem 31-Jährigen. Seine Fragen beantwortet der Angeklagte mit «dazu möchte ich nichts sagen», nur Meiers Nachhaken, ob S. gesundheitlich in der Lage sei, den Fragen zu folgen, ringt ihm ein «Ja» ab. Auch als er nach dem Grund gefragt wird, warum er schweige, bleibt der Beschuldigte still.
Das Gericht muss sich deshalb auf die früheren Aussagen von S. berufen – Aussagen, die im Dunkeln lassen, was vor der Tat in der Nacht auf den 30. Dezember 2014 in der Villa seiner Eltern in Küsnacht geschehen war. Denn während S. bei seiner ersten Befragung davon gesprochen hatte, dass sein Opfer einen «Psycho-Blick» gehabt habe, der ihm bedrohlich vorgekommen sei, machte er später einen vollständigen Gedächtnisverlust geltend. Schliesslich änderte er seine Aussage laut dem Richter erneut. Bei der dritten Befragung habe er angegeben, sein Opfer, ein 23-jähriger Engländer, habe kurz vor der Tat grün ausgesehen, lange Ohren und rote Augen gehabt. Wie ein Alien sei er ihm erschienen.
Bereits zuvor hatte sich bei S. – gemäss eigenen Angaben aus früheren Befragungen – unter Ketamin- und Kokainkonsum ein Realitätsverlust breitgemacht. Als er zu Fuss von seiner Wohnung im Kreis 1 mit dem Opfer auf dem Weg zum Bellevue gewesen war, sei es ihm komisch vorgekommen, surreal gar, dass wenige Leute auf der Strasse gewesen waren und dass es geschneit habe. Als sein Freund gesagt habe «We are the last people on earth», habe er geglaubt, das sei jetzt das Ende der Welt.
Richter Meier, der seine Fragen stellt, auch wenn er keine Antworten bekommt, sagt dazu: «Warum ist es komisch, wenn es im Dezember schneit und wenig Leute auf der Strasse sind? Meinen Sie nicht, ihr Freund hat einfach einen Spruch gemacht? Oder die Situation poetisch beschreiben wollen?». S. schweigt, doch zum ersten Mal regt sich sein Körper überhaupt: Sein Bein zittert, er rutscht auf dem Stuhl hin und her.
Auch darüber, was nach der Tat geschehen war, liegen dem Gericht verschiedene Aussagen von S. vor. Wie Richter Meier ausführt, habe S. einmal erzählt, er habe mit einer Wasseraufbereitungsmaschine die Wunden seines Opfers waschen wollen. Ein zweites Mal habe er davon gesprochen, dass er die Maschine für ein Jet Pack gehalten habe, mit dem er habe wegfliegen wollen. Ein drittes Mal habe er gesagt, er habe einfach Durst gehabt, weil der Kampf mit seinem Opfer «so anstrengend» gewesen sei.
Ein bisschen Licht in den kruden Sachverhalt soll Boris Quednow bringen. Der Gutachter, der zu neuro-biologischen Effekten von psychoaktiven Substanzen doktoriert hat, erscheint im grünen Anzug im Gerichtssaal und nimmt neben einem der Anwälte Platz. Quednow hatte S. zu seinem Drogenkonsum befragt, er soll nun das Gericht darüber aufklären, welche Effekte der Missbrauch von Ketamin und Kokain beim Angeklagten gehabt haben könnte. Die Befragung des Gutachters wird den ganzen Morgen der Verhandlung beanspruchen.
Die Frage nach dem Drogenkonsum ist denn auch die Kernfrage dieses Prozesses: Die Verteidigung plädiert darauf, dass S. vollständig unzurechnungsfähig gewesen sei. Die Anklage spricht von «actio libero in causa»: S. habe sich absichtlich in einen Drogenrausch versetzt, obwohl er gewusst habe, dass er in einen Zustand paranoider Wahnvorstellung geraten und damit andere gefährden könne. Zur Schuldfähigkeit des Mannes äussert sich Staatsanwalt Knauss in der Anklageschrift nicht – ein Versäumnis, das ihm am Ende des Verhandlungstages vorgehalten werden wird.
S. habe, führt Quednow aus, von 2010 bis 2014 jeweils am Wochenende zwischen 3 und 5 Gramm Kokain geschnupft. Ab 2011 sei auch noch Ketamin dazugekommen, das er seither immer wieder in hohen Dosen, die er sukzessive steigerte, konsumiert habe. «In den Wochen vor der Tat waren es wöchentlich 10 Gramm», sagt Quednow. Wegen dieses «extrem hohen Konsums» erscheine es ihm plausibel, dass der Angeklagte «ein wahnhaftes Erleben» gehabt habe. Einerseits verändere Ketamin die Wahrnehmung, andererseits könne Kokain Paranoia hervorrufen.
Diese Kombination könnte S. zum Verhängnis geworden sein. «Auf Ketamin macht man Dinge, die man sonst nie tun würde», sagt Quednow. S. habe von sich aus den Rausch zwar nicht beschrieben, sagt der Gutachter, habe ihm aber gewisse typischen Wirkungen des Ketamin-Konsums bestätigt: Im Zustand des sogenannten «K-Hole» nach der Einnahme von Ketamin treten dissoziative Störungen auf – das kann bis zu Nahtod-Erfahrungen führen. Die Impulskontrolle ist gehemmt, die motorischen Fähigkeiten lassen nach. Dass S. trotzdem zu so viel Gewalt fähig gewesen sei, habe an der leistungssteigernden Wirkung des Kokains gelegen, sagt Quednow.
Es sei aber nicht möglich, zu eruieren, ob und wann sich S. in einem «K-Hole» befunden habe. Es sei auch schwierig, zu beurteilen, ob die Wahnvorstellungen auf den Drogenkonsum an jenem Abend oder auf die generelle Abhängigkeit zurückzuführen sei. Quednow: «Substanzinduzierte Psychosen können kommen und gehen.» Ketamin führe zudem dazu, dass sich die Erinnerung verändere.
Somit lassen die Ausführungen des Gutachters alles offen. Und sie zeigen, wie schwierig es sein wird, die Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten während der Tat einzuschätzen. Es sei nicht möglich, die Aussagen des Angeklagten als wahr hinzunehmen, schliesst Quednow. «Genauso ist es aber möglich, dass er eben doch die Wahrheit sagt.» Zur Schuldfähigkeit kann sich Quednow nicht äussern.
Es ist schliesslich der Elmar Habermeyer, Direktor bei der Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, der sich der Aufklärung der Frage, ob S. vollständig unzurechnungsfähig gewesen war, nähert. Habermeyer hat wie Quednow ein Gutachten zu S. erstellt und wird am Nachmittag zur Verhandlung beigezogen. Vor dem Richter vertritt er seine Hauptthese, dass zum Deliktzeitpunkt eine Drogen-Überdosis mit Wahrnehmungsveränderung bestanden habe.
Habermeyer bestätigt die Äusserungen Quednows: Ihm habe der 31-Jährige ähnliche Szenen geschildert – «Beschreibungen wie aus einem Science-Fiction-Film». Es klänge für ihn nach einem «Psychose-nahen Zustand», in dem sich der Angeklagte befunden habe. Dass S. sich nicht recht erinnern könne, sei aufgrund des Ketaminkonsums plausibel. Nicht aber, dass er zuerst etwas wisse und dann alles wieder vergesse, meint Habermeyer. Und schliesslich könne man ja einwerfen, dass S. die Droge Ketamin «wie kein anderer in Zürich» kenne.
Grundsätzlich sei es aber nicht wichtig, ob S. nun ein grünes Männchen mit langen Ohren gesehen habe oder nicht. Zentral sei, dass sich der Angeklagte bedroht gefühlt habe, dass es deswegen zu einem Kampf gekommen sei. Damit wirft Habermeyer eine zweite These in die Waagschale: Es bestünde die Möglichkeit, dass die Tat aus einem eskalierenden Streit heraus geschehen sei. Er halte, sagt der Gutachter, die Variante des Drogenwahns zwar für plausibler, doch theoretisch könne es auch um schwedische Volksmusik und Ketamin (darum sollen die beiden gestritten haben) gegangen sein.
Wegen dieser Aussage muss nun der Staatsanwalt nachsitzen: Weil in seiner Anklageschrift der Vorwurf der vorsätzlichen Tötung bei verminderter Schuldfähigkeit ausgelöst durch einen Streit nicht erwähnt wird, muss Knauss die Anklage nun – in seinen Worten – «einfach ein bisschen umschreiben». Die Verhandlung wird trotzdem wie geplant weitergeführt.
Am Mittwoch wird der Prozess fortgesetzt: Vorgeladen ist eine der Privatklägerinnen, die damalige Freundin des Angeklagten. S. muss sich wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung verantworten (siehe Box). Die Plädoyers der Kläger-Anwälte und diejenigen der Verteidiger folgen am Donnerstag und Freitag.
*Name der Redaktion bekannt. Es gilt die Unschuldsvermutung.