Wenn heute die Ski-WM mit dem Super-G auch für die Männer so richtig beginnt (Hier gibt's den Liveeticker zum Nachlesen), wird mit Simon Breitfuss Kammerlander erstmals seit 1982 wieder ein Bolivianer am Start stehen (Startnummer 70). Der Name verrät es schon: Er kommt ursprünglich aus Österreich.
Hinter dem Parkplatz bei der Talstation der Signal-Bahn in St.Moritz steht sein Wohnmobil. Dort treffe ich Simon Breitfuss Kammerlander. Der 24-Jährige hilft gerade bei der Installation einer Leitung hinter einem mächtigen, blauen Gefährt. «Das ist nicht meiner», sagt Breitfuss. Er zeigt auf das normale Fahrzeug daneben: «Da sind wir.»
Am Vordach hängen bis zu 20 Zentimeter lange Eiszapfen, die Nacht war kalt. Drinnen aber ist es gemütlich warm. Vater Rainer begrüsst mich und bietet Tee an, Bruder Niklaus verkriecht sich hinten auf einem Bett. «Mein Vater ist immer dabei. Er ist Trainer, Servicemann, Organisator, Fahrer und Mädchen für alles. Jetzt, während der WM, unterstützt uns auch mein Bruder.»
Dass Breitfuss überhaupt an der WM in St.Moritz ist, ist eine verrückte Geschichte. Im Pitztal geboren fährt er zwar schon immer Ski, in eines der (Nachwuchs-)Nationalkader Österreichs schafft er es aber nicht. Simon beginnt ein Sport-Studium und erhält die Möglichkeit in La Paz, Bolivien, zu studieren. «Südamerika ist extrem gut», erzählt er. Schon mit acht Jahren war er erstmals dort und seither immer wieder. Grund dafür war Vater Rainer, der früher selbst rennmässig Ski fuhr und danach in Argentinien als Trainer arbeitete.
«Ich ging nach La Paz und dann hat sich alles ergeben», erzählt Breitfuss Kammerlander Junior auf der Sitzbank des Wohnmobils. «Da war eine Party, so ein Strassenfest. Von denen hat's in La Paz täglich eine. Ich kam mit Fremden ins Gespräch. Bald stellte sich heraus, dass sie vom bolivianischen Skiverband waren. Wir verabredeten uns einige Tage später.» Dann sei alles schnell gegangen. Die Idee, dass er für Bolivien starten könnte, wuchs.
Allerdings war das ganze ein ziemlicher Spiessroutenlauf. Eine erleichterte Einbürgerung gab es nicht. Breitfuss musste drei Jahre ohne Unterbruch im Land leben, konnte dann die Papiere einreichen. Die Mühlen mahlen in der südamerikanischen Bürokratie langsam. Nach sechs Jahren erhielt der junge Skifahrer 2015 seinen neuen Pass. Simon Breitfuss Kammerlander hiess er nun, weil in Bolivien auch der Mädchenname der Mutter zum Namen gehört.
Das Problem während der Warterei auf den Pass: Breitfuss konnte keine Rennen bestreiten. Auch das Training selbst war schwierig. In Bolivien gab es einzig auf dem Gletscher des knapp 5500 Meter hohen Chacaltaya einen Skilift. Dieser wurde aber 2009 aus Schneemangel eingestellt.
So bleibt nur der noch etwas höhere Berg Chaquini. Skilifte sucht man dort vergebens. Bis auf über 5000 Meter kommt man mit dem Auto, dann heisst es gut eine Stunde bis zum Schnee wandern und dann noch eine Stunde auf fast 6000 Meter hinauf. «5970 Meter über Meer gab unser GPS an, da kommst du schon ausser Atem», erzählt der 24-Jährige.
Immerhin erledigt sich die Präparation der Piste von selbst. Der Schnee hier oben fällt schnell zusammen, wird hart und bildet eine gute Unterlage. «Wir überlegten uns auch schon, dass wir Slalomstangen hochtragen könnten, um richtig zu trainieren», erzählt Trainer Rainer. Aber das war den Aufwand dann doch nicht wert. So bildet der Chaquini einfach eine Abwechslung im Trainingsalltag.
Nach dem Nationenwechsel fing im Dezember 2015 die Karriere Breitfuss Kammerlanders im norwegischen Hemsedal mit einem 80. Rang im FIS-Riesenslalom an. Doch es machten sich gleichzeitig Knieprobleme bemerkbar. Breitfuss biss auf die Zähne, aber wenig später gab es Beschwerden im anderen Knie.
Nach einer längeren Pause startete die Laufbahn dann im August 2016 so richtig in Südamerika. Von La Paz aus organisierte er zusammen mit Vater und Bruder einen Lada, um an der 4000 Kilometer entfernten Südamerika-Tour zu starten.
Es war ein Trip über 15'000 Kilometer in fünf Wochen. Mitten in der Atacama-Wüste – dem trockensten Ort der Welt – mussten sie das Öl wechseln. «Es war ein unglaublicher Trip, aber gut.» Praktisch von der Wüste an die WM – trotz erneuten Knieproblemen gab es einige FIS-Punkte: «Simon war wohl bei 50 bis 60 Prozent seines Könnens», urteilt Vater Rainer rückblickend.
So konnte das grosse Abenteuer Weltcup letzten Herbst in Sölden beginnen. Seither bestreitet Breitfuss Kammerlander alle möglichen Rennen, oft startet er aufgrund der FIS-Punkte als einer der letzten Fahrer. In 13 Weltcup-Einsätzen schied er siebenmal aus, dreimal wurde er Letzter, zweimal Zweitletzter, einmal Viertletzter. «Für uns ist das eine Trainingssaison», sagt er. Er müsse erst die Pisten kennenlernen. Nie zuvor besuchte er all die Weltcuporte.
Die Umstände machen es natürlich auch nicht leicht. Die finanziellen Ressourcen der Familie sind beschränkt. Übernachtungen in Hotels liegen nicht drin: «Die Saison kostet zu viel. Wir müssen uns etwas überlegen», sagen sie. Geld gibt es aktuell von Mama und Papa, dazu von kleinen Sponsoren wie der Kranfirma «Kammerlander». Der Vater verdient als Skitrainer noch etwas Geld und vielleicht gibt es bald vom bolivianischen Skiverband einen Zustupf. Ein Nebenjob für Sohn Simon kommt derzeit aber nicht in Frage – keine Zeit. «Die Leute glauben, wir geben auf. Aber wir geben nicht auf», sagen die beiden kämpferisch.
Um die junge Karriere richtig zu lancieren, hat Breitfuss einen grossen Wunsch: «Logisch: die finanzielle Situation verbessern. Ich weiss jeden Tag, dass da noch Geld reinkommen muss. Das belastet. Wir haben kein Polster.»
Die angespannte finanzielle Lage und die Jagd nach FIS-Punkten beeinflusst natürlich auch das Programm und den Transport. Anfangs Jahr ging es im Wohnmobil nach Zagreb, nach dem Rennen nachts gleich weiter bis Adelboden. Zwei Rennen bestreiten, weiter nach Santa Caterina an FIS-Rennen, zurück nach Wengen für den Weltcupslalom. Das alles innert zehn Tagen. «Zum Glück sind wir uns lange Reisen aus Südamerika gewohnt», sagt Breitfuss mit einem Lächeln. Aber es sei schon hart. Freizeit? «Freizeit haben wir beim Autofahren.»
Trotz der widrigen Umstände will das Familienteam seinen Traum weiterleben. «Diese Saison ist bei uns nur der Anfang. Es geht immer besser, wir nehmen Schritt für Schritt. Das nächste Ziel sind die Top 30 und dann immer weiter.» Realistisch sei dies. Vielleicht nicht dieses Jahr, aber dann im nächsten.
Olympia 2018 glänzt dabei nicht als grosses Ziel am Horizont: «Ich bin nicht hier, um einfach mitzufahren. Ich will so gut wie möglich abschneiden. Wichtiger als Olympia ist jetzt, dass ich gut Ski fahre. Dann kommen auch die Resultate.»
Fürs erste will Breitfuss Kammerlander als erster Bolivianer seit 1982 an einer WM fahren. Nach dem Super-G heute wird er auch im Riesenslalom und Slalom antreten. Dann geht die Reise im Wohnmobil weiter. Erst nach Kranjska Gora an die Weltcuprennen, dann nach Skandinavien an FIS-Events. Die WM 2017 ist nur ein Zwischenstopp.