«Einen noch krasseren Kulturschock als von Afghanistans Hinterland zum mondänen St.Moritz geht fast nicht», sagt Christoph Zürcher. Er ist der Initiant eines modernen Märchens. Und damit verantwortlich, dass die beiden Hauptprotagonisten, Sajjad und Alishah, diesen Kulturschock erleben müssen.
Wobei, «müssen» ist das falsche Wort. «Wir lieben das Skifahren», versichern sie mir schon kurz nach der Begrüssung auf dem Weg ins Skigebiet von St.Moritz. Fast als Letzte kommen sie an diesem frühen Morgen noch um die Ecke geschlichen, schlüpfen in die Skischuhe und steigen in die erste Gondel. Wüsste man nicht, wer sie sind, man würde sie für ganz normale Touristen aus dem fernen Osten halten. Dass sie hier einen «krassen Kulturschock» erleben, sieht ihnen niemand an.
Denn die beiden Skifahrer aus Asien meistern den Spagat anscheinend problemlos. «Sie scheint das nicht gross zu kümmern, die beiden wollen einfach Ski fahren», erklärt Zürcher mit einem Lächeln. Im Gegenteil. Sie liessen sich kürzlich für einen kleinen Scherz mit einem deutschen TV-Sender einspannen. In einer edlen Galerie von St.Moritz liessen sich die zwei Skifahrer teure Bilder zeigen. Das Personal dachte, die beiden seien wohlhabende Gäste mit dickem Portemonnaie, dabei erkannten sie nicht mal Michael Jackson auf einem der gezeigten Bilder.
Denn der 25-jährige Sajjad Husaini und der 26-jährige Alishah Farhang sind Bauernsöhne aus Bamyan, einer Provinz gut 200 Kilometer von Kabul entfernt. Sie kommen aus armen Verhältnissen, wuchsen mit fünf und sechs Geschwistern auf und versorgten sich zu grossen Teilen selbst. In ihrer Jugend mussten sie vor den Taliban flüchten. Sajjad versteckte sich mit seiner Familie rund zwei Monate in den Bergen, hauste in Zelten und wartete. Als er zurückkam, war sein Dorf zerstört. Die Familie floh für einige Jahre in den Iran.
Alishah musste gut einen Monat in den Bergen ausharren. Bei seiner Rückkehr ins Dorf waren nur die schöneren Häuser zerstört. «Unseres war noch ganz. Vermutlich liessen die Taliban die einfacheren Gebäude in Ruhe.»
Wenn die zwei Twens über den Krieg in ihrer Heimat reden, dann hört sich das an, also ob ein Schweizer Pendler über seinen Arbeitsweg berichtet: kühl, emotionslos, gehört halt dazu. «Ja, es ist halt einfach so», antworten sie auf die Nachfrage. In Afghanistan herrscht seit 1970 Krieg. Erst die Russen, Ende der 1990er die Taliban und dazu immer wieder auch Spannungen und interne Machtkämpfe.
Bamyan, ihre Heimatprovinz, ist seit der Jahrtausendwende immerhin kein direktes Krisengebiet mehr und relativ sicher. Das Leben läuft mehr oder weniger in geordneten Bahnen ab. So studiert Sajjad Politik und Jus. Zudem verdient er als Tourguide etwas Geld. Alishah studiert nur Jus, manchmal hilft er als Schafhirte seiner Familie oder Freunden aus. Beide wohnen noch bei ihren Eltern, haben mittlerweile ein eigenes Zimmer. Sajjad erzählt, dass in seinem Dorf noch immer einige Häuser nicht wiederaufgebaut wurden.
Dass sie überhaupt in der Schweiz gelandet sind, begann mit einem Ärgernis. Der NZZ-Journalist Zürcher war als Korrespondent in Afghanistan unterwegs, als er in der Provinz Bamyan, rund 200 Kilometer von Kabul entfernt, wegen Kriegshandlungen steckenblieb. Er sah die schneebedeckten Berge des Koh-e-Baba-Gebirges (bis 5000m hoch) und dachte sich: Hier müsste man doch Skifahren können.
Das Problem: Skigebiete existierten in dem seit Jahren gebeutelten Land nicht. Skis, wie wir sie kennen, gab es auch nicht. Die Menschen benutzten etwas, das sie Yakhmalak nennen. Ziemlich frei übersetzt: Fassdauben. Yakhmalak ist einerseits die Bezeichnung für einen Schlitten, andererseits für zwei Holzlatten mit Lederriemen als Bindung und plattgedrückten Getränkedosen als Belag.
Zürcher verfolgte seine Idee aber weiter, gründete 2011 die Non-Profit-Organisation Bamyan Ski Club und rief die erste Afghan Ski Challenge ins Leben. Ein Tourenskirennen über zwei bis vier Kilometer in Bamyan, bei welchem die Teilnehmer erst den Berg hoch kommen und dann runtersausen müssen. Die Regeln sind simpel und beginnen mit dem Satz: «Keine Waffen erlaubt.»
Zudem gilt: «Massenstart, wer als erster alle Checkpoints absolviert hat und das Ziel erreicht, hat gewonnen. Ski und Snowboards sind erlaubt.» Skis werden den Startern teilweise zur Verfügung gestellt. Immer wieder brachten Zürcher und sein Team alte Latten mit, so dass die Yakhmalak in der Region heute praktisch nicht mehr benutzt werden.
Während viele Teilnehmer einfach mal mitmachten, zeigten sich Alishah Farhang und Sajjad Hussaini bald als talentiert und vor allem engagiert. In Zürcher wuchs die Idee: Warum nicht versuchen, die beiden als erste Skifahrer ihres Landes an die Olympischen Spiele 2018 zu bringen? Beide stimmten zu.
So kamen Alishah und Sajjad 2014 erstmals in die Schweiz. Sajjad, der erstmals in einem Flugzeug sass, schwärmt noch immer: «Im Landeanflug auf die Schweiz, sahen die Lichter aus wie Sterne. Bei uns ist nachts praktisch nichts beleuchtet.» Dank Spenden des Vereins und den Einnahmen der «Bamyan Ski Club Bar» in St.Moritz konnten sie bisher zweimal für zwei Monate in den Schweizer Bergen trainieren und sind aktuell während drei Monaten im Engadin zuhause.
Sie wohnen während dieser Zeit in der Jugendherberge. Erhalten ein professionelles Training, wurden vollständig ausgerüstet und auch für das Essen und ein kleines Taschengeld ist gesorgt. Sie verständigen sich problemlos auf Englisch, sind freundlich, aber zurückhaltend.
Heute steht zuerst ein rund zweistündiges Training auf einer abgesperrten Piste an, danach folgen noch einige Technikübungen. Rund 200 Skitage haben sie in ihrem Leben hinter sich, nachdem sie vor drei Jahren erstmals auf richtigen Skiern standen.
Trainer Andreas Hänni urteilt: «Sie sind besser als der durchschnittliche Skifahrer.» Wie gross der Unterschied zu den Cracks wie Marcel Hirscher aber ist, zeigt nur schon die Tatsache, dass die Stars alleine VOR jeder Saison jeweils rund 80 Tage auf Skis trainieren. Dagegen sind Sajjad und Alishah blutige Anfänger.
Obwohl die zwei im Vergleich mit den gleichzeitig trainierenden Juniorinnen die Tore nicht attackieren und der Klassenunterschied auf einen Blick erkennbar ist, sie sind top motiviert. «Es ist schwierig, aber wir wollen das. Wir werden zwar nie auf dem Niveau der anderen sein. Aber wir werden bei den Olympischen Spielen 2018 starten.»
Was Olympia bedeutet, ist ihnen sehr wohl bewusst. Aber die Spiele live am TV konnten sie noch nie verfolgen. Die wenigen TV-Sender in ihrer Region übertrugen den Anlass nicht. «Von Sotschi haben wir einige Szenen später auf YouTube angeschaut», erzählen sie.
Exoten bei Olympia, da denkt unsereiner automatisch an «Cool Runnings». Vom jamaikanischen Bobteam, das 1988 in Calgary an den Start ging, haben die zwei mittlerweile gehört. Ein Vergleich hinkt aber. Daran ist ein tragisches «M» schuld, wie Sajjad erklärt: «They came from a warm country, we come from a war country.» (Sie kamen aus einem warmen Land, wir kommen aus einem Kriegsland). Wieder lässt er die Emotionen aus diesem Satz. Ist halt so. Und Alishah ergänzt: «Wie hart kann die Olympia-Qualifikation schon sein, wenn wir damit vergleichen, dass Menschen in unserem Heimatland nie wissen können, ob sie morgen noch leben?»
Hart ist und war die Zeit natürlich trotzdem. Als sie 2014 das erste Mal nach St.Moritz kamen, konnten sie kaum Skifahren. Sie rutschten den Hang im Stemmbogen runter, fielen unzählige Male hin. Das erste Mal auf einem Sessellift? «Das war schon sehr speziell und etwas angsteinflössend.» Nie zuvor sahen sie so ein Ding in der Realität.
Mittlerweile ist dies normal geworden. Je länger der Tag dauert, desto mehr erzählen sie. Beim Techniktraining steigt der Spass. Erst müssen sie jeweils den Innenski anheben, dann nicht nur anheben, sondern in der Luft auch mit dem Aussenski kreuzen.
Zum Schluss schnallen sie eine Abfahrt lang einen Ski ab. Ich soll doch auch mitmachen. Wir schwanken und fallen, stürzen und lachen. Ich verzichte auf das Filmen. Es wäre peinlich geworden – für mich.
Nach vier Stunden auf der Piste gibt es das Mittagessen in einem Pistenrestaurant. Kellner Gigi begrüsst die beiden schon von weitem. «Sergio!», ruft der Italiener und erklärt danach halb italienisch, hab deutsch: «Niemand würde dich in Italien Sajjad nennen, du wärst Sergio!» Für Alishah hat er noch keinen Kosenamen gefunden.
Die Leute kommen und gehen, viele grüssen die beiden. Natürlich, sie fallen auf und man kennt sie. Sajjad bestellt eine Portion Raclette. Habt ihr das auch in Afghanistan? «Kartoffeln ohne Ende, geschmolzenen Käse nicht.» Er lacht. «Ich hab's einfach unglaublich gern.» Von Kulturschock ist in der Berghütte nichts zu spüren.
Aber natürlich, sie vermissen ihre Familien und Freunde. Alishah ist verlobt, Sajjad single. «Wir dürfen keine Freundin haben in Afghanistan. Entweder du bist verheiratet (verlobt) oder allein», erklären sie. Dann zeigen sie Fotos auf Facebook. Bei einem springt Sajjad über eine Schanze:
Sieht gut aus, sage ich anerkennend. Alishah mischt sich ein: «Weisst du, das gute an Fotos ist, dass sie nur einen Moment zeigen und nicht die Landung danach.» Wieder lachen sie. Dann verabschieden wir uns.
An den zwei Tagen nach unserem Treffen finden in Madesimo (Italien) zwei FIS-Riesenslaloms statt. Es sind die letzten vor dem Zwischenziel «WM 2017 in St.Moritz». Sajjad und Alishah belegen die letzten beiden Plätze. Auf den Sieger verlieren sie in beiden Läufen zusammen (Siegerzeit: 1:47,41 Minuten) rund 40 Sekunden. Das ist schon deutlich besser als bei ihren ersten FIS-Rennen Mitte Januar in Savognin. Damals lagen die zwei Exoten auf den Rängen 59 und 60 gut 40 Sekunden hinter dem Drittletzten und eine Minute hinter dem Sieger.
Aber wie wichtig ist schon die Zeit? Die Bedingungen für das Zwischenziel, die WM in St.Moritz, haben sie mit den gewonnen FIS-Punkten und dem – nach langen Verhandlungen – gegründeten Afghanischen Skiverband erfüllt. Am 16. Februar werden die beiden als erste Afghaner in der Riesenslalom-Qualifikation an einer WM starten.