Eine Demo ist wie Social Media mit viel mehr Kraft – Frauen, geht heut auf die Strasse!
Meine erste Demo erlebte ich mit fünf Jahren. Ich marschierte nicht mit, aber ich stand begeistert am Strassenrand und schaute zu, weil mein Vater gesagt hatte: «Das sind die Guten.» Eine von den Guten drückte mir eine leere Colaflasche in die Hand und sagte: «Sorry, aber kannst du das für mich entsorgen?» Nie vorher oder nachher hat mich ein Stück Abfall so glücklich gemacht.
Die Guten demonstrierten damals gegen den Bau des Atomkraftwerks Kaiseraugst. Und siehe da: Es wurde nicht gebaut! Der Protest der Bevölkerung war von durchschlagendem Erfolg. Obwohl niemand gewagt hatte, damit zu rechnen. Aber «wir» waren viele. Man nennt das Empowerment.
Wieso ich das schreibe? Wegen des Frauenstreiktags. Der nach einem inspirierend aktiven Tag landesweit in riesigen Demonstrationen und Partys zu Ende gehen soll.
Und weil eine junge Frau, eine tolle, toughe, deren Mund- und Schreibwerk tagtäglich auf Dutzende von Barrikaden steigt und diese spielend überwindet, eben sagte: «Mir ist eingefallen, dass ich noch gar nie auf einer Demo war.» Ich reagierte zunächst mit der ungläubigsten Ungläubigkeit dieses noch nicht alten Jahrhunderts.
Ganz einfach: Sie geben all den Artikeln, die in den letzten Wochen erschienen sind, all den Beiträgen, die gesendet wurden, noch einmal mit Wucht Masse und Gesichter. Wie Social Media, bloss dreidimensional. Sie helfen gegen Frust, Wut und Ohnmachtsgefühle. Sie liefern Bilder.
Das grosse «Wir» solidarisiert sich mit all denen, die von Missständen betroffen sind, den Bäuerinnen ohne Lohn, den Verkäuferinnen, Kellnerinnen und Krankenschwestern mit dem kleinen Gehalt, den alleinerziehenden Müttern, denen, die Übergriffe und Gewalt erlebten, denen, die nicht streiken dürfen, jenen mit dem unerklärlichen kleinen Unterschied auf der Lohnabrechnung im Vergleich mit den Kollegen. Und vielen andern.
Meine eigene Demo-Geschichte ist dank der frühen Anti-Kaiseraugst-Initation eine reiche geworden. Manchmal – rückblickend kann man das ja zugeben – auch eine echt blöde. Als ich in Berlin studierte, war ich tatsächlich an einer Demo gegen die erste Loveparade. Ich glaube, wir waren nur dreissig. Wir fanden es einfach doof. Aber ich war auch an vielen wichtigen. Man kann zum Beispiel nicht genug gegen Faschismus demonstrieren, so lange es ihn gibt. Der Schlachtruf «Nie, nie, nie wieder Deutschland!» steckt mir noch immer in den Knochen.
Viele andere waren trotz ernster Anliegen fröhliche Feiern des Einverständnisses. Die jüngsten Klimademos etwa, die so viel zu bewegen vermögen. Bedrängte Eltern sehen sich zum Handeln gezwungen. Städte rufen den Klimanotstand aus. Andere scheinen trotz riesiger Aufmärsche nichts bewirkt zu haben: Etwa die Pussy-Hat-Demos in den USA. Okay, es sitzen jetzt viel mehr Frauen im Kongress, aber die Gesetze scheinen sich stündlich in ihre eigene Vergangenheit zu verkehren.
In Look und Sound sind sich alle Demos seit Jahrzehnten sympathisch ähnlich. Immer marschiert man zur lüpfigen Musik einer Band, die irgendwie zum Südamerikanischen oder Osteuropäischen hin tendiert. Immer trägt man selbstgepinselte Plakate oder Transparente mit sich, immer schreit wer verbeult klingende Slogans ins Megaphon.
Und immer trifft man auf überraschend viele Bekannte. Also wie auf Social Media. Bloss in Fleisch und Blut. Wie gut das tut, lässt sich am Frauenstreiktag wieder einmal schweizweit miterleben.
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P.S. Und, liebe Kinder am Wegesrand, falls euch eine nette Frau eine leere Colaflasche in die Hand drücken sollte: Entsorgt sie mit Freuden!