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Putins «Pinocchio»: Darum verbreitet diese Waffe Angst und Schrecken

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Der TOS-1A ist ein 30-flammiger Raketenwerfer, der auf dem Fahrgestell eines T-72-Panzers montiert ist.Bild: EPA/EPA

Putins «Pinocchio»: Darum verbreitet diese Waffe Angst und Schrecken

Der Raketenwerfer TOS-1 gilt als eines der gefürchtetsten konventionellen Waffensysteme der Welt. Seine Wirkweise ist besonders perfide. Dass Putin es im Ukraine-Konflikt einsetzt, ist wohl kein Zufall.
24.02.2022, 19:1925.02.2022, 07:47
Christoph Cöln / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Als am frühen Donnerstagmorgen die Nachrichten von einem russischen Angriffskrieg in der Ukraine hereinkamen, liessen die ersten Bilder von russischen Bodentruppen nicht lange auf sich warten. Darauf waren auch Panzer mit einem merkwürdig aussehenden Aufbau zu erkennen. Bei den Panzern handelt es sich um den TOS-1 Mehrfachraketenwerfer, auch bekannt als «Moderne Stalinorgel» oder «Putins Höllensonne».

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Der TOS-1A gilt als eines der schrecklichsten konventionellen Waffensysteme weltweit. Es handelt sich um einen 30-flammigen Raketenwerfer, der auf dem Fahrgestell eines T-72-Panzers montiert ist. Der überdimensionierte Aufbau thront wie eine lange Nase auf dem Panzerchassis und gibt dem System seinen Beinamen «Buratino».

Hitze und Druck töten

Der «Buratino» ist das Pendant zur italienischen Figur des «Pinocchio», auch in Russland eine der bekanntesten Kinderfiguren, basierend auf einer Erzählung des Schriftstellers Alexander Nikolajewitsch Graf Tolstoi. Im Gegensatz zum hölzernen Zinken im Märchen, der beim Lügen immer grösser wird, ist der stählerne Aufwuchs des TOS-1 aber alles andere als harmlos.

Seine Raketen sind mit einem thermobarischen Gefechtskopf ausgerüstet und besitzen die Wirkungsweise einer Aerosol- bzw. Vakuumbombe. Nach dem Einschlag im Zielgebiet setzen die Sprengkörper eine leicht entzündliche Chemikalie frei. Zusätzlich zur normalen Druckexplosion wird mit dem feinen Aerosol die Umgebungsluft entzündet und es entsteht eine verheerende Kombination aus Hitze- und Druckwelle.

Auf die durch die Explosion entstandene Druckwelle folgt eine Unterdruckphase im Explosionszentrum. Zuvor nach aussen gedrängte Luft wird blitzartig zurückgesaugt ­– inklusive der brennbaren Aerosole. Im Umkreis von 200 bis 400 Metern entsteht so ein grausamer Feuerball.

Innerhalb von Sekunden kollabiert die Lunge

Die besondere Perfidie dieser Waffe liegt in der zweiten Phase, in der die Sogwirkung eintritt. Dadurch, dass die Sprengkörper kein Oxidationsmittel mit sich führen, entziehen sie der Umgebung weitflächig den atmosphärischen Sauerstoff. Es entsteht eine Art Vakuum, eine lang anhaltende Unterdruckphase, deren Sogwirkung nicht nur Gebäude und Kriegsgerät nachhaltig beschädigt.

Durch die sich rasch umkehrenden Druckverhältnisse im Wirkungsbereich der Waffe werden auch die Lungen von Mensch und Tier stark zusammengepresst, noch vorhandener Sauerstoff in den Gefässen dehnt sich aus. Die Lungen bersten förmlich.

Seine grossflächige Vernichtungswirkung prädestiniert den TOS-1 daher für den Einsatz gegen Infanteristen, die sich in Tunneln, Bunkern, Häusern oder Schützengräben verschanzt haben. Dass es dabei häufig auch Zivilisten trifft, kann kaum vermieden werden.

Zwar zählt der TOS-1, der als eine Fortentwicklung des klassischen Flammenwerfers gedacht war, zur Artillerie, das System besitzt allerdings nur eine relativ geringe Reichweite von bis zu 3.5 Kilometern. Fast doppelt so hoch ist dagegen die Reichweite der zweiten Generation der TOS-1, der TOS-1A «Solntsepyok» («Sonnenbrand»). Er hat einen Kampfbereich von bis zu sechs Kilometern.

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Stolz der russischen Streitkräfte: TOS-1A-Systeme bei der Militärparade zum 75. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Roten Platz in Moskau.Bild: keystone

Da der TOS-1 auch gegen atomare und biochemische Kampfstoffe eingesetzt werden kann, sind die Systeme den ABC-Spezialstreitkräften unterstellt. Wie genau das System arbeitet, ob es auch selbst ABC-fähiges Material verschiessen kann, ist nicht in allen Details bekannt.

Laut Generalmajor Igor Kirillow, Befehlshaber der russischen ABC-Streitkräfte, arbeitet man bereits an einem weiteren Upgrade der TOS-1, das den Namen TOS-2 trägt. Dieser soll noch tödlicher sein als seine Vorgänger und ganze Wohnblöcke innerhalb von Sekunden in Schutt und Asche legen können.

Putin weiss wohl um die Symbolwirkung der Waffe

Zum ersten Mal wurde der feuerspeiende Raketenwerfer Anfang der 1980er-Jahre im Afghanistankrieg eingesetzt. Später liess Wladimir Putin die Waffe dann im Tschetschenienkrieg auffahren, zuletzt sind auch Einsätze in Syrien bekannt geworden. Dort soll die russische Armee den TOS-1 in Rebellengebieten eingesetzt haben, etwa im Häuserkampf in der Oppositionshochburg Aleppo oder in der Hafenstadt Latakia. Auch Lieferungen des Systems nach Saudi-Arabien und in den Iran stehen im Raum.

Diese Aufnahme soll Bodentruppen auf dem Weg in die Ukraine zeigen: Sie stammt aus einem Video, das der Berater der belarussischen Bürgerrechtlerin Swjatlana Zichanouskaja twitterte.
Diese Aufnahme soll Bodentruppen auf dem Weg in die Ukraine zeigen: Sie stammt aus einem Video, das der Berater der belarussischen Bürgerrechtlerin Swjatlana Zichanouskaja twitterte.screenshot: twitter

Putin weiss wohl um die Symbolwirkung der Waffe. Berichte von deren Einsatz tragen stets auch zur Zermürbung des militärischen Gegners bei. Und es ist wohl kein Zufall, dass der TOS-1 nun schon auf den ersten Bildern zu sehen ist, die vom russischen Einmarsch in der Ukraine zu uns gelangen. Der TOS-1 ist eben nicht nur eine besonders tödliche, sondern auch eine besonders abschreckende Waffe. Wie die britische «Sunday Times» schrieb: «Eine Stufe unter der Atombombe.»

Seinen Namen hat der TOS-1 wie gesagt aus einem Märchen. Im Gegensatz zur Marionette Pinocchio ist der «Buratino», dem sich die ukrainischen Soldaten und Zivilisten nun gegenübersehen, keine lustige Kinderfigur. Er ist ein zynisches Vernichtungsinstrument, das stahlgewordene Fanal einer vom Kreml ins Werk gesetzten kriegerischen Invasion. Dieser Pinocchio lügt nicht. Er tötet wirklich.

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95 Kommentare
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gambinho
24.02.2022 20:03registriert November 2014
Ich hasse Krieg.
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Ein Schelm
24.02.2022 19:38registriert Mai 2020
Zum Thema ob chemische oder biologische Kampfstoffe damit eingesetzt werden könnten. Kurz, vermutlich ja.

Die demonstrierten Projektile sind thermobarische Sprengköpfe. Diese geben Aerosol in eine relativ grosse Ungebung ab. Und zündet dann das daraus entstehende "Treibstoff/Luft" Gemisch.

Dieser Mechanismus könnte Problemlos Chemische und Biologische Kampfstoffe verteilen.
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Simih
24.02.2022 20:25registriert Oktober 2019
Warum baut jemand so etwas? Können solche Leute nachts ruhig schlafen?
Nein, mal ehrlich, "ich stelle Maschinen her, mit denen die Menschen sich gegenseitig abschlachten können." Wie krank ist das denn!
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